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Norbert Myschker, Roland Stein

Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Erscheinungsformen – Ursachen – Hilfreiche Maßnahmen

8., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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8., erweiterte und aktualisierte Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-032966-9

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pdf:      ISBN 978-3-17-032967-6

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Inhaltsverzeichnis

 

  1. Aus dem Vorwort zur 1. Auflage
  2. Vorwort zur 8. Auflage
  3. Einleitung
  4. 1 Historischer Überblick
  5. 1.1 Fünf historiografische Linien
  6. 1.1.1 Die sozialpädagogische Linie: Waisenhäuser – Rettungshäuser – Erziehungsheime – Heimschulen
  7. 1.1.2 Die kriminalpädagogische Linie: Zuchthäuser – Jugendstrafvollzug – Gefängnisschule
  8. 1.1.3 Die schulpädagogische Linie
  9. 1.1.3.1 Beobachtungsklassen – Erziehungsklassen – Kleinklassen
  10. 1.1.3.2 Sonderklassen – Sonderschulen – Integrierte Fördereinrichtungen
  11. 1.1.4 Die pädagogisch-psychiatrische Linie: Einrichtungen der Psychopathenfürsorge – Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie – Klinikschulen
  12. 1.1.5 Die berufspädagogische Linie: Arbeitserziehung – Industrieschulen – Fortbildungsschulen – Berufsschulen – Berufsbildungswerke – Benachteiligtenförderung
  13. 1.2 Begründer wichtiger Konzepte für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen
  14. 1.3 Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur
  15. 2 Begrifflichkeit
  16. 3 Erscheinungsformen, Klassifikation und Verbreitung von Verhaltensstörungen
  17. 3.1 Erscheinungsformen (Symptome und Syndrome)
  18. 3.2 Verhaltensstörungen und Lernstörungen
  19. 3.3 Mehrfachbehinderung und Verhaltensstörungen
  20. 3.4 Verhaltensstörungen und Hochbegabung
  21. 3.5 Verbreitung von Verhaltensstörungen
  22. 4 Verursachung und Entstehung von Verhaltensstörungen
  23. 4.1 Der biophysische Aspekt
  24. 4.1.1 Der medizinische Aspekt
  25. 4.1.2 Der humanethologische Aspekt
  26. 4.2 Der psychologische Aspekt
  27. 4.2.1 Der psychoanalytische Aspekt
  28. 4.2.2 Der individualpsychologische Aspekt
  29. 4.2.3 Der humanistisch-psychologische Aspekt
  30. 4.2.4 Der lerntheoretische Aspekt
  31. 4.3 Der soziologische Aspekt
  32. 4.4 Der pädagogische Aspekt
  33. 5 Diagnostik bei Verhaltensstörungen
  34. 5.1 Der medizinische Ansatz
  35. 5.2 Der psychodynamische Ansatz
  36. 5.3 Der lerntheoretische Ansatz
  37. 5.4 Der interaktionistische Ansatz
  38. 5.5 Der sonderpädagogische Ansatz
  39. 5.5.1 Diagnostische Fragestellungen
  40. 5.5.2 Diagnostische Verfahren
  41. 5.5.2.1 Gespräche, Exploration und Anamnese
  42. 5.5.2.2 Verhaltensbeobachtung – Verhaltensbeurteilung
  43. 5.5.2.3 Schulleistungstests
  44. 5.5.2.4 Intelligenztests und spezielle Leistungstests
  45. 5.5.2.5 Persönlichkeitsverfahren und projektive Tests
  46. 5.5.2.6 Entwicklungstests
  47. 5.5.2.7 Soziografische Verfahren
  48. 5.5.2.8 Motodiagnostische Verfahren
  49. 5.5.2.9 Neuropsychologische Verfahren
  50. 5.5.2.10 Medizinische Verfahren
  51. 6 Erziehung, Unterricht, Therapie und Beratung
  52. 6.1 Erziehung, Unterricht und Therapie
  53. 6.1.1 Der biophysische Ansatz
  54. 6.1.2 Der psychoanalytische Ansatz
  55. 6.1.3 Der individualpsychologische Ansatz
  56. 6.1.4 Der entwicklungspsychologische Ansatz
  57. 6.1.5 Der humanistisch-psychologische Ansatz
  58. 6.1.6 Der lerntheoretische Ansatz
  59. 6.1.7 Der pädagogisch-therapeutische Ansatz
  60. 6.1.7.1 Das pädagogisch-therapeutische Erzieher-/Lehrerverhalten
  61. 6.1.7.2 Das spezifisch strukturierte Lebens- und Lernfeld
  62. 1 Offener Unterricht
  63. 2 Freinet-Pädagogik
  64. 3 Montessori-Pädagogik
  65. 4 Projektunterricht
  66. 5 Erziehung zu moralischem Urteilen (und Handeln)
  67. 6.1.7.3 Die pädagogisch-therapeutischen Verfahren
  68. 1 Pädagogisch-therapeutische Gesprächsführung/Hilfreiche Gesprächsführung
  69. 2 Spielen als pädagogisch-therapeutisches Verfahren
  70. 3 Pädagogische Kunsttherapie
  71. 4 Pädagogische Musiktherapie
  72. 5 Pädagogische Verhaltensmodifikation
  73. 6 Entspannung und Meditation als pädagogisch-therapeutische Verfahren
  74. 7 Pädagogische Mototherapie
  75. 8 Interventionen nach neurophysiologischen und neuropsychologischen Erkenntnissen
  76. 6.2 Beratung und Supervision
  77. 6.2.1 Der psychodynamische Ansatz
  78. 6.2.2 Der individualpsychologische Ansatz
  79. 6.2.3 Der lerntheoretische Ansatz
  80. 6.2.4 Der klientenzentrierte Ansatz
  81. 6.2.5 Der systemische Ansatz
  82. 6.2.6 Der pädagogische Ansatz
  83. 7 Pädagogische Institutionen für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen
  84. 7.1 Schulpädagogische Institutionen
  85. 7.1.1 Sonderschulen – Förderschulen
  86. 7.1.2 Kleinklassen
  87. 7.1.3 Integrative und inklusive Förderung
  88. 7.2 Sozialpädagogische Institutionen
  89. 7.2.1 Kindergärten – Kindertagesstätten
  90. 7.2.2 Heime
  91. 7.2.3 Heimschulen
  92. 7.3 Kriminalpädagogische Institutionen
  93. 7.4 Pädagogisch-psychiatrische Institutionen
  94. 7.5 Berufspädagogische Institutionen
  95. 8 Helfende Berufe bei Verhaltensstörungen
  96. 8.1 Ärztinnen und Ärzte
  97. 8.2 Diplom-Psychologinnen und -psychologen bzw. B. Sc. Psychologie und M. Sc. Psychologie
  98. 8.3 Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen
  99. 8.4 Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und -therapeuten
  100. 8.5 Kinderpflegerinnen und -pfleger – Erzieherinnen und Erzieher – Heilpädagoginnen und -pädagogen – Sozialpädagoginnen und -pädagogen (Diplom, BA, MA) – Pädagoginnen und Pädagogen (Diplom, BA, MA)
  101. 8.6 Motopäde/Motopädin – Mototherapeut/Mototherapeutin – Motologe/Motologin (Diplom, Master)
  102. 8.7 Förderlehrerinnen und Förderlehrer
  103. 9 Spezielle Störungen
  104. 9.1 Übermäßige Angst
  105. 9.1.1 Begriffsbestimmung
  106. 9.1.2 Formen der Angst
  107. 9.1.3 Der philosophische Aspekt
  108. 9.1.4 Der humanethologische Aspekt
  109. 9.1.5 Der psychologische Aspekt
  110. 9.1.6 Der soziologische Aspekt
  111. 9.1.7 Der pädagogische Aspekt
  112. 9.2 Aggression und Aggressivität
  113. 9.2.1 Formen der Aggression/Aggressivität
  114. 9.2.2 Der humanethologische Aspekt
  115. 9.2.3 Der psychologische Aspekt
  116. 9.2.4 Der soziologische Aspekt
  117. 9.2.5 Der pädagogische Aspekt
  118. 9.3 Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen
  119. 9.4 Psychophysische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
  120. 9.4.1 Pica
  121. 9.4.2 Anorexia nervosa
  122. 9.4.3 Bulimia nervosa
  123. 9.4.4 Adipositas
  124. 9.5 Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen
  125. 9.6 Psychopathologische Syndrome
  126. 9.6.1 Schizophrenie
  127. 9.6.2 Depressivität
  128. 9.6.3 Autismus und Autismus-Spektrum-Störungen
  129. 9.6.4 Borderline-Syndrom
  130. 9.6.5 Tourette-Syndrom
  131. 9.6.6 Epilepsie
  132. 9.7 Delinquentes Verhalten – Kriminalität – Drogenabhängigkeit
  133. 9.7.1 Jugend-Delinquenz
  134. 9.7.1.1 Deliktstruktur
  135. 9.7.1.2 Soziokulturelle Merkmale der Straftäter
  136. 9.7.1.3 Persönlichkeitsstruktur der Straftäter
  137. 9.7.1.4 Erklärungsmodelle kriminellen Verhaltens
  138. 9.7.1.5 Maßnahmen
  139. 9.7.2 Drogenabhängigkeit
  140. 9.7.2.1 Psychotrope Substanzen und ihre Wirkung
  141. 9.7.2.2 Erklärungsmodelle
  142. 9.7.2.3 Maßnahmen
  143. Verzeichnis der Abbildungen
  144. Verzeichnis der Tabellen
  145. Sachverzeichnis
  146. Literaturverzeichnis

 

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage

 

 

Es mag als Hybris aufgefasst und kann als Wagnis angesehen werden, sich angesichts der Komplexität der Thematik und des Umfangs vorliegender Untersuchungen, Konzepte und Theorien als alleiniger Autor mit Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen zu befassen. Der Begriff Hybris (altgriechisch: Übermut, Vermessenheit, Herausforderung der Götter) scheint mir deshalb am Platze zu sein, weil es für einen Einzelnen unmöglich ist, die gesamte relevante Literatur zu bearbeiten und mit eigenen Erkenntnissen und Vorstellungen zu verarbeiten. Es gilt also auszuwählen, Schwerpunkte, Akzente zu setzen und dennoch die Thematik sachgerecht und zeitgemäß, d. h. dem gegenwärtigen Forschungs- und Erkenntnisstand entsprechend, darzustellen. So ist auch das Wagnis gegeben, nicht auf das notwendige Verständnis zu stoßen, insbesondere bei denjenigen Fachkolleginnen und -kollegen, die nicht die entsprechende Berücksichtigung fanden oder andere Aspekte präferieren. Es lässt sich also vieles anders und vielleicht auch besser machen. Ich möchte deshalb den/die Leser/-in bitten, sich mit konstruktiv-kritischen Hinweisen und Anregungen an mich zu wenden.

Trotz der aufgezeigten Problemkonstellation lege ich das Buch vor aus der Überzeugung heraus, dass eine möglichst umfassende – wenn auch in Teilen verkürzte – Darstellung über Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter aus pädagogischer Sicht von historischen Betrachtungen bis zur Drogenabhängigkeit notwendig ist, um dem wachsenden Informationsbedürfnis einer breiteren Öffentlichkeit, insbesondere aber der Eltern und all derer zu genügen, die sich professionell mit schwierigen, hilfsbedürftigen jungen Menschen beschäftigen.

Eigene Arbeiten aus früherer Zeit, die auch gegenwärtig relevant erscheinen, wurden überarbeitet in den Text einbezogen.

 

Berlin, im Januar 1993

Prof. Dr. Norbert F. Myschker

Freie Universität

 

 

Vorwort zur 8. Auflage

 

 

Das Buch erschien erstmals 1993 und wurde bis zur 6. Auflage 2009 in alleiniger Autorenschaft aktualisiert, überarbeitet und in Teilbereichen ergänzt. Es fand großen Anklang und lohnte deshalb die vielen mit den Neuauflagen verbundenen Arbeiten und Mühen. Es ist also mittlerweile seit 25 Jahren auf dem Markt und wird von einigen Rezensenten als »Standardwerk« bezeichnet.

Ab der 7. Auflage zeichnen nunmehr zwei Autoren verantwortlich. Fachszene und Fachdiskussion haben sich weiter erheblich ausdifferenziert und befinden sich in einer enormen Dynamik. Es schien sinnvoll, die Last der Aktualisierung und der Ergänzung des Buches auf mehrere Schultern zu verteilen. Im Rahmen eines Autorenteams konnte diese Herausforderung angenommen werden.

Auch für die 8. Auflage war wieder viel Arbeitsaufwand nötig. Um eine stets angestrebte möglichst große Aktualität zu halten, musste eine Fülle von Daten in den Tabellen und Abbildungen sowie teilweise auch der darauf Bezug nehmende Text neu recherchiert und aufbereitet werden. Die Dynamik der Diskussion um die UN-Behindertenrechtskonvention und das Thema Inklusion wurde wieder verstärkt mit aufgenommen. Als schwierig gilt nach wie vor, dass sich nicht nur Sichtweisen und Strukturen verändern, dass Organisationsstrukturen wie etwa Beschulungsformen neu gedacht und konzipiert werden, sondern dass sich diese Entwicklung zudem in einem unwägbaren Fluss befindet. Soweit es zum aktuellen Zeitpunkt notwendig und sinnvoll erschien, wurde versucht, beiden Aspekten in der Textüberarbeitung sowie in den Ergänzungen Rechnung zu tragen.

Die Bologna-Reform zog für das Buch einige Konsequenzen nach sich: Berufsbilder und Studiengänge sind in erheblicher Veränderung begriffen; auch dies fand im Hinblick auf die Darstellung zu unterschiedlichen Professionen Berücksichtigung.

Ein herzlicher Dank gilt Sarah Rech und Philipp Hascher, stud. paed., für Anregungen und die gemeinsame kritische Diskussion. Weitere Danksagungen für den intensiven inhaltlichen Austausch im Kontext der Pädagogik bei Verhaltensstörungen sowie nützliche Hinweise gehen an das gesamte Kollegium des Lehrstuhls für Sonderpädagogik V der Universität Würzburg, für diese 8. Auflage besonders an Sophie Holtmann, Msc. Psychologie, sowie Dr. Tony Hofmann, Dipl.-Psych.

 

Weil am Rhein und Würzburg, November 2017

Norbert Myschker und Roland Stein

 

Einleitung

 

 

Kinder und Jugendliche, die Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Verhaltensschwierigkeiten – oder wie immer die Problematik bezeichnet werden kann – zeigen, bringen durch ihr Verhalten zum Ausdruck, dass ihre Entwicklung, ihr Leben durch innere und/oder äußere Bedingungen beeinträchtigt, vielleicht sogar bedroht ist. Ihr Verhalten ist als Hilferuf aufzufassen. Noch nicht lange werden Verhaltensstörungen so gesehen und mit Hilfsmaßnahmen beantwortet. In einem historischen Überblick wird deshalb im Kapitel 1 zunächst dargestellt, wie früher mit Kindern und Jugendlichen, die unerwünschtes, als störend empfundenes Verhalten zeigten, umgegangen wurde. Ihnen wurden »Kinderfehler« zugeschrieben, sie galten als böswillig, schwer erziehbar oder gar unerziehbar und wurden hart bestraft. Nach der für »Problemkinder« äußerst schwierigen, ja gefährlichen Zeit der nationalsozialistischen Diktatur kommen erst in der Gegenwart verstärkt Erziehungs- und Unterrichtskonzepte zum Tragen, die den Bedürfnissen und Möglichkeiten dieser Kinder und Jugendlichen weitgehend gerecht werden.

Verhaltensstörungen stellen eine komplexe Problematik dar, die sich sowohl terminologisch als auch definitorisch nur annäherungsweise und unvollkommen fassen lässt. Gerade deshalb ist eine Auseinandersetzung mit relevanten Begriffen notwendig und bedeutsam. Wenn nach eingehender begrifflicher Diskussion eine terminologische Festlegung im 2. Kapitel vorgenommen wird, handelt es sich jedoch weniger um eine Definition im Sinne von etwas Endgültigem als vielmehr um einen Umschreibungsversuch, der für Veränderungen offen ist und seine Legitimation aus der Notwendigkeit zur Verständigung bezieht.

So verschieden, wie die Veranlagungen sind, mit denen Kinder auf die Welt kommen, sind die Bedingungen, unter denen sie aufwachsen und menschengerecht, sozialadäquat erzogen oder auch verzogen, vernachlässigt, misshandelt, missbraucht werden. Diese Verschiedenartigkeit drückt sich in ihrem Sein und – bei pathogenen Bedingungen – in den durch ihr Verhalten demonstrierten Hilferufen aus.

Es wird also ausführlich auf die Erscheinungsformen einzugehen sein – und auch auf die Verbreitung von Verhaltensstörungen, denn nur wenn zu der Prävalenz einer Problematik Aussagen gemacht werden können, werden die notwendigen Ressourcen zu beantragen und evtl. auch zu erhalten sein (image Kap. 3).

Ausführlichkeit im Rahmen des Möglichen gebührt auch den Ursachen und der Genese von Verhaltensstörungen (image Kap. 4). Dabei ist zu explizieren, dass Verhaltensstörungen sich multidimensional darstellen und multifaktoriell bedingt sind. Das Verhalten des Menschen wird bestimmt durch das interdependente Wirken genetischer, sozialer und arbiträrer Komponenten, d. h. durch Anlage und Vererbung, durch Umweltbedingungen und durch Selbststeuerungsmöglichkeiten und Selbstbestimmungstendenzen. Sowohl die mehr den Vererbungstheorien zuneigenden Forscher (z. B. Mediziner, Humanethologen, Soziobiologen)1 als auch die stärker den Milieutheorien verpflichteten Wissenschaftler (z. B. Soziologen, Tiefenpsychologen, Lernpsychologen) sowie die Vertreter der Selbstorganisation (Kybernetik, Kommunikations- und Systemtheorie) machen bedeutsame Aussagen zu Verhaltensaspekten des Menschen, aber erst die Zusammenschau ihrer Ergebnisse beleuchtet das menschliche Verhalten umfassend. Die Ursachen und die Genese von Verhaltensstörungen lassen sich weder monokausal noch multikausal, sondern nur unter einem komplexen Aspekt erkennen und erklären, der die Einsichten verschiedener monistischer Konzepte einbezieht und auf das interdependente Zusammenwirken der Faktoren abhebt. Ein solcher Aspekt, der hier vertreten wird, versucht das gesamte Erscheinungs- und Bedingungsgefüge zu berücksichtigen und ist somit als ganzheitlich, synthetisch oder integrativ zu bezeichnen.

Unter einem Aspekt wird nachfolgend verstanden, dass phänomenologische und ätiologische Komplexe und Strukturen in den Blick genommen werden, deren Kenntnis die Voraussetzung ist für einen Ansatz, mit dem als Konsequenz Konzepte für Interventionen, praktisches Handeln und Behandeln entwickelt werden.

In Kapitel 5 ist das zentrale Anliegen, einen Überblick zu geben über relevante diagnostische Ansätze und Verfahren und einen vertiefenden Einblick in die Komplexität des theoretischen Konstrukts zu vermitteln, das als Verhaltensstörung(en) bezeichnet wird. Diagnostik wird dabei als prozessorientiert (Förderdiagnostik) verstanden, d. h. ihr wird große Bedeutung für eine evaluierende Begleitung aller Interventionen beigemessen. Im Wesentlichen aus diesem Grund werden viele Verfahren vorgestellt, die beispielhaft für verschiedene diagnostische Bereiche stehen und der Praxis dienlich sein können.

Wer auf Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen einwirken will, muss ein/-e Vielkönner/-in sein. Er/sie muss nicht nur über ein möglichst umfassendes Wissen zu den Erscheinungsformen, zur Verursachung und zur Genese von Verhaltensstörungen verfügen, er/sie muss sich auch Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen, eine in eine unerwünschte Richtung geratene Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen so zu beeinflussen, dass es zu einer psychischen Umorganisation kommt, zu einer Änderung des Lebensplans bzw. zu sozial adäquaten Lerneffekten im Hinblick auf das Verhaltensrepertoire. Diese sehr schwierige Aufgabe ist nur zu bewältigen, wenn auf alle zielrelevanten Möglichkeiten zurückgegriffen werden kann. Junge Menschen mit Verhaltensstörungen brauchen alle Hilfen, die verfügbar, Erfolg versprechend und verantwortbar sind. Sie haben einen Anspruch darauf, dass an erster Stelle von ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten und erst an zweiter Stelle von wissenschaftlichen und theoretischen Erwägungen ausgegangen wird. Fragen nach stringenter theoretischer Ableitung und Begründung von Konzepten und Verfahren – so wichtig sie letztlich sind – erscheinen zunächst als ebenso zweitrangig wie die – nach praktischer Handhabung vorgeschalteten – breiten und genauen Ansprüchen genügenden Effizienzkontrollen bzw. Evaluationsstudien. Zudem kommen Fragen der »Effizienz« in Erziehungskontexten durchaus auch an Grenzen. Nichtsdestotrotz hat Effizienz, häufig unter dem Begriff der »Evidenzbasierung« firmierend, in den letzten Jahren eine durchaus berechtigte verstärkte Aufmerksamkeit gewonnen und muss unbedingt berücksichtigt werden.

Wenn angesichts akuter Problemlagen Handlungsbedarf besteht, muss die Praxis hier und heute im Vordergrund stehen und ihren Aufgaben so gut wie möglich gerecht werden. Die Menschen vergangener Jahrhunderte sorgten für sauberes Trinkwasser, bevor sie etwas über Bakterien wussten. Umweltschutz ist in unserer Zeit zu betreiben, bevor die negative Wirkung aller Faktoren und das Bedingungsgefüge aller Negativfaktoren erforscht sind. Im Sinne dieser Überlegungen werden im 6. Kapitel verschiedene Interventionsansätze und -verfahren behandelt. Sie haben alle – gerade wegen ihrer Verschiedenheit – ihre Berechtigung, auch weil die Menschen, die sie anwenden, wie diejenigen, die von ihnen profitieren sollen, so sehr verschieden sind. Sie bieten als Ganzes oder in Elementen Möglichkeiten, Anregungen, Komponenten für verbindende, auf spezifische Situationen ausrichtbare Konzepte. Mit den Ausführungen insgesamt wird – wie bei der Ursachenbetrachtung von Verhaltensstörungen – für einen eklektizistischen, synthetischen oder integrativen Interventionsansatz plädiert. Mit diesem Ansatz wird der Überzeugung Rechnung getragen, dass Intervention bei Verhaltensstörungen, um den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen genügen zu können, multimodal und multiprofessionell sein muss. Deshalb wird neben verschiedenen Ansätzen und Verfahren auch ein flexibel zusammenstellbares und einsetzbares sowie auf Kooperation ausgerichtetes integratives Konzept vorgestellt. Es erscheint zudem sehr bedeutsam herauszustellen, dass es für den Intervenierenden wichtig, ja nahezu lebenswichtig ist, um nicht vorzeitig auszubrennen bzw. eine Burn-out-Symptomatik zu entwickeln, das Interventionskonzept auf die persönlichen Verhältnisse und Möglichkeiten einzustellen, um es adäquat realisieren und sich voll und ganz mit dem eigenen Tun identifizieren zu können. Aus der individuellen Kompetenzabsicherung kann sich dann auch die so notwendige Bereitschaft zur Kooperation ergeben. Zur Verdeutlichung der angemessenen und notwendigen Umsetzung dieser Erkenntnis auf der Ebene der Institutionen und der helfenden Berufe wird nach der Behandlung der für die Intervention bei Verhaltensstörungen wichtigen Institutionen in Kapitel 7 im folgenden Kapitel 8 auf die für die Interventionsmaßnahmen wichtigsten Berufsgruppen eingegangen. Dabei sollte auch deutlich werden, dass die verschiedenen auf dem Gebiet der pädagogisch-therapeutischen Hilfe Tätigen eine Ausbildung auf gleichem Niveau brauchen, woraus auch eine gleiche Bezahlung resultieren sollte. Dadurch würden auch organisatorische Probleme leichter und besser lösbar, und das Betriebsklima allgemein in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen könnte positiv beeinflusst werden.

Im 9. Kapitel über »Spezielle Störungen« werden wichtige Teilbereiche der Thematik mit der möglichen Ausführlichkeit behandelt, die in sich eine gewisse Geschlossenheit haben und deren Integration in den vorausgegangenen Teilen die Darstellung einerseits zu sehr aufgebläht und andererseits zerrissen hätte. Zudem werden Inhalte angesprochen, die – wie Angst und Aggressivität – in allen Lebensbereichen des Menschen und insbesondere bei psychischen Störungen große Bedeutung haben oder Störungen sind, die – wie Suizidalität und Delinquenz – zwar »spezielle«, aber doch allgemeinmenschliche Problemlagen bezeichnen, oder – wie psychophysische und psychopathologische Störungen – alle Menschen mehr oder weniger bedrohen und unerwartet über jeden bzw. über jede Gruppe oder Familie hereinbrechen können.

Die Darstellung versucht

•  möglichst umfassend zu sein, ohne dabei alle Theorien, Ansätze oder gar Untersuchungen berücksichtigen zu können, die für die gesamte Thematik bedeutsam sind,

•  möglichst anschaulich zu sein, wozu Abbildungen, Grafiken und Beschreibungen herangezogen werden und

•  möglichst allgemein verständlich zu sein.

Insgesamt ist eine gewisse Redundanz gegeben, die sich nicht eingeschlichen hat, sondern beabsichtigt ist. Das Buch muss nicht unbedingt systematisch vom Anfang bis zum Ende durchgelesen werden; einzelne Kapitel sollen auch für sich stehen, gelesen und verstanden werden können – unabhängig von den vorausgegangenen Darstellungen.

Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen werden nach den Vereinbarungen der deutschen Kultusminister hierzulande heute zumindest im schulischen Bereich als Schülerinnen und Schüler mit »Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung« bezeichnet. Das klingt umständlich und ist in diesem Buch auch nicht durchgängig anzuwenden, dient aber evtl. einem Sinneswandel dahin, dass diesen jungen Menschen ihre Schwierigkeiten nicht mehr als Charakteristikum oder gar als Krankheit zugeschrieben werden, sondern dass sie unter dem Aspekt der – häufig entwicklungsbedingten – Hilfs- und Förderbedürftigkeit gesehen werden. Eine solche Absicht verdeutlichte sich schon einmal im 19. Jahrhundert gegenüber einer anderen Klientel, als die später als Lernbehinderte bezeichneten Jungen und Mädchen im schulischen Bereich Hilfsschüler genannt wurden.

1     Wenn im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form eines Begriffs verwendet wird, so sind, wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, sowohl Frauen als auch Männer gemeint.

 

1          Historischer Überblick

 

 

Kinder und Jugendliche, deren Verhaltensweisen die Umwelt als unerwünscht und störend empfindet und die sich selbst in ihrer Lebensgestaltung und Entwicklung beeinträchtigen, hat es in allen Kulturen und zu allen Zeiten gegeben. Bewertungen der Auffälligkeiten und Reaktionen der Umwelt geschahen und werden weiterhin realisiert in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen, d. h. insbesondere von kulturellen, religiös-ethischen und nicht zuletzt ökonomischen Bedingungen. Die Reaktionen waren durch die Jahrhunderte hindurch sehr vielfältig und unterschiedlich. Sie reichten im europäischen Kulturraum von den verschiedenen Formen körperlicher Züchtigung über Isolationsmaßnahmen bis hin zur Tötung einerseits und zu verständnisvoller Akzeptanz mit umfassender Hilfe zur Selbstentfaltung andererseits. Die harten Maßnahmen, denen verhaltensabweichende junge Menschen unterworfen wurden, gipfelten in der ideologisch begründeten »Ausmerzung« während des Terrorregimes der Nationalsozialisten in Deutschland.

Soweit das Leben geschont wurde, lassen sich die Reaktionen durch die Jahrhunderte hindurch mit den Begriffen Separieren, Isolieren, Disziplinieren und Normalisieren zusammenfassend bezeichnen (siehe auch Kobi 2004, 107 ff.).

Bereits die ersten Einrichtungen, die sich – wie die Findelhäuser und Klöster – Kindern mit und in Schwierigkeiten pflegerisch und erzieherisch annahmen, waren separierende und isolierende Anstalten mit harter Zucht. Die Schulen, zunächst der Klöster und der Gemeinden, später des Staates, konnten lange auf dauerhafte Separierung und Isolation der »Störenfriede« verzichten. Durch religiös begründete körperliche Züchtigungen erreichten und hielten auch sie Disziplin aufrecht, d. h. ein »Verhalten nach den vorgegebenen Ordnungsgeboten« (Hagemeister 1968, 25). Als dann, erst im 20. Jahrhundert, körperliche Züchtigung in Verruf kam, wurden die »psychopathischen« oder »schwer erziehbaren« Kinder und Jugendlichen in Sonderklassen separiert und isoliert, um sie noch besser disziplinieren und normalisieren zu können. Sie wurden aus der Gemeinschaft der anderen ausgesondert, psychisch und physisch vereinzelt und besonderen Maßnahmen unterzogen, um sie zu befähigen, sich möglichst »normal« zu verhalten, also situativen und übergreifenden Erfordernissen der Gemeinschaft zu genügen und so zu werden wie die anderen.

1.1       Fünf historiografische Linien

Die besonderen Einrichtungen, die für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen entstanden und das Erfahrungsfeld waren für die Entwicklung einer differentiellen Pädagogik, die wir heute als Pädagogik bei Verhaltensstörungen bezeichnen, lassen sich von ihren Ursprüngen über ihre Entfaltung und Konsolidierung oder auch ihren Niedergang in fünf historiografischen Linien verfolgen, und zwar über:

1.  die sozialpädagogische Linie:
Waisenhäuser – Rettungshäuser – Erziehungsheime – Heimschulen,

2.  die kriminalpädagogische Linie:
Zuchthäuser – Jugendstrafvollzug – Gefängnisschule,

3.  die schulpädagogische Linie:
Beobachtungsklassen – Erziehungsklassen – Kleinklassen, Sonderklassen – Sonderschulen – Integrierte Fördereinrichtungen – inklusive Schulen,

4.  die pädagogisch-psychiatrische Linie:
Einrichtungen der Psychopathenfürsorge – Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie – Klinikschulen,

5.  die berufspädagogische Linie:
Arbeitserziehung – Industrieschulen – Fortbildungsschulen – Berufsschulen – Berufsbildungswerke (vgl. Myschker 1989).

Innerhalb der einzelnen historiografischen Linien spiegeln sich jeweils spezifische Entwicklungen in theoretischer, praktischer und organisatorischer Hinsicht wieder. Neue Möglichkeiten und Konzepte wurden häufig von Gemeinschaften, Gruppen Gleichgesinnter, aber auch von Einzelpersonen initiiert und getragen. Einige Einrichtungen gibt es nicht mehr: Rettungshäuser, Zuchthäuser und die »Psychopathen«-Fürsorge, Industrieschulen, Fortbildungsschulen gehören der Vergangenheit an. Heime und Heimschulen reduzieren sich oder sind in einigen Bundesländern bereits völlig abgebaut. Das Sonderklassen- und Sonderschulwesen für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen wurde seit Beginn der 2000er Jahre zunächst weiterentwickelt (siehe Opp 2003), befindet sich aber nun in einer neuen Legitimationskrise durch die Inklusionsdiskussion, bei allerdings aktuell bundesweit steigender Feststellung von Förderbedarf, insbesondere im hier relevanten Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung.

1.1.1     Die sozialpädagogische Linie: Waisenhäuser – Rettungshäuser – Erziehungsheime – Heimschulen

Verwaister, verlassener, ausgesetzter, bedrohter oder verwahrloster Kinder und Jugendlicher nahmen sich im Bereich abendländischer Kultur zuerst christliche Ordensleute in Klöstern und Hospitälern, später auch in speziell gegründeten Findelhäusern an. Sie handelten aus der Verpflichtung zur Nächstenliebe heraus und um der Kinder wie der eigenen Seligkeit willen. Diese religiöse Motivation war über Jahrhunderte hinweg tragend. Die mittelalterlichen Mönch-Pädagogen waren tief verwurzelt in der christlichen Anschauung von der »Verderbtheit des Fleisches« und dem »Körper als Sitz des Bösen«. Ihre Erziehung, die sie entsprechend auf Rute und Peitsche gründeten, war »von barbarischer Strenge« (Günther et al. 1976, 57).

Im 15. Jahrhundert stieg mit der Veränderung der ökonomischen Verhältnisse die Zahl verwahrloster, hilfsbedürftiger Kinder stetig an und führte Mitte des 16. Jahrhunderts dazu, dass viele Eltern »selbst ihre Kinder weder regieren und unterrichten, noch sie etwas Gutes lehren können«, und die Kinder nur »rabauten« und betteln lernten (zitiert nach: Scherpner 1979, 33). In dieser Zeit wurden einerseits in vielen Ländern Europas Waisenhäuser in großer Zahl gegründet, andererseits gegen Armut und Bettel verschärfte Gesetze erlassen (Karl Marx: »Blutgesetzgebung«), die Erwachsene und auch Kinder an den Galgen brachten.

Nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges kam es in der Pädagogik zu einer Neubesinnung auf christliche Werte und Lebensgestaltung – auch und gerade mit dem Blick auf heranwachsende junge Menschen. Gottgefälligkeit wurde zur Maxime und bestimmte auch das Handeln der pädagogisch bedeutsamen pietistischen Theologen wie Philipp Jakob Spener (1635–1705) und August Hermann Francke (1663–1727). Beide gründeten Waisenhäuser bzw. Erziehungseinrichtungen mit Vorbild-Charakter. Spener, der »Vater des Pietismus«, und Franke, dessen Hallesche Anstalten ein Großunternehmen und weltberühmt wurden, erkannten die Bedeutung der liebevollen Zuwendung und des engen pädagogischen Bezuges und versuchten, ihre Erziehung entsprechend auszurichten. Ihr Vorbild bestimmte das Handeln späterer neupietistischer Theologen, unter denen Johann Hinrich Wichern (1808–1881) als Gründer des »Rauhen Hauses« in Hamburg und der »Inneren Mission« sowie als kämpferischer Anwalt der Rettungshaus-Bewegung der bekannteste wurde (vgl. Wichern 1956, Lindmeier 1998, Birnstein 2007). Im »Rauhen Haus«, einem differenziert organisierten, neupietistisch geprägten Kinderdorf für »verkommene«, »mißratene«, »sittlich verwahrloste« Jungen und Mädchen waren die drei wesentlichen Faktoren des Rettungswerkes »Familie, Schule und Arbeit«, die »eine organische Einheit bilden« sollten (Wichern 1833 und 1868, Janssen Bd. 2, 33 und 258). Wichern hat in seinen Schriften wie auch in seiner pädagogischen Praxis im »Rauhen Haus« deutlich zum Ausdruck gebracht, dass bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensschwierigkeiten nicht Strafe angebracht, sondern liebevolles Akzeptieren in einer tragenden, erziehenden Gemeinschaft vonnöten ist.

Diese Überzeugung verbreitete sich – nicht zuletzt durch die von Wichern initiierte, konzentriert wirkende und die gesamte Kinder- und Jugendfürsorge beeinflussende »Innere Mission«. Sie wirkte sich aus auf das Reichsstrafgesetzbuch (RSTGB) von 1871, das Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr als strafunmündig sowie die 12 bis 17 Jahre alten Jugendlichen als bedingt strafmündig bezeichnete und für diese, wenn sie strafbares Verhalten zeigten bzw. sich ihre Erziehung als gefährdet erwies, mit der Novelle von 1876 auf Anordnung des Vormundschaftsrichters die Unterbringung in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt vorsah. Mit dieser gesetzlichen Regelung »war die Grundlage geschaffen für die sogenannte Zwangserziehung, aus der die heutige Fürsorgeerziehung hervorging« (Scherpner 1979, 162).

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Abb. 1: August Hermann Francke und seine Halleschen Anstalten

Von zentraler Bedeutung für alles Erziehungsdenken gerade auch gegenüber »verwilderten« Kindern und Jugendlichen wurde – auch im Hinblick auf Wichern und sein pädagogisches Konzept der Familienerziehung – Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827).

Pestalozzi gehört zu den ersten, dessen Hinwendung zu den alleine gelassenen, schwierigen Kindern und Jugendlichen nicht mehr primär in religiösen, sondern in humanistischen Vorstellungen und einer den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen zugewandten Aufklärung begründet war. Seine Erkenntnisse, die er über Erziehung und Unterrichtung schwieriger Kinder z. B. in dem berühmten Brief an einen Freund über den Aufenthalt in Stans zusammenfasste, wurden für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen – in sonder- wie in sozialpädagogischer Ausrichtung – grundlegend und sind auch in der Gegenwart noch höchst bedeutungsvoll. Die Kinder brauchen Zuwendung, Liebe – Liebe auf Vorschuss –, um dem Erzieher zu vertrauen, um ihn akzeptieren zu können. Nicht der »Zwang einer äußeren Ordnung und Ordentlichkeit« oder ein »Einpredigen von Regeln und Vorschriften« (1799, 18) macht ihre Gefühle und Kräfte für eine positive Entwicklung bereit, sondern »die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse« (a. a. O., 19). Sozialverhalten lässt sich durch Gewöhnung trainieren; die »Angewöhnung an die bloße Attitüde« kann zum »inneren Halt« (Moor) werden. Das Zusammenleben wie in »einer großen Haushaltung« (a. a. O.), wie in einer großen Familie muss das Ziel öffentlicher Erziehung sein. Mit letzterer Erkenntnis brachte Pestalozzi in die Erziehungs- und Rettungshaus-Bewegung eine Leitvorstellung ein, die als »Familienprinzip« die Entwicklung bis in unsere Zeit charakterisiert.

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Abb. 2: Johann Heinrich Pestalozzi (nach einem Gemälde, das F. G. A. Schöner zugeschrieben wird)

Sein kinderfreundliches, kinderförderliches Tun fand später eine Fortführung z. B. in der Arbeit von Johannes Trüper (1855–1821), August Aichhorn (1878–1949), Bruno Bettelheim (1903–1990) und Fritz Redl (1902–1988).

Wenn die historiografische Linie von den Klöstern über Findelhäuser, Rettungshäuser und Erziehungsheime als sozialpädagogisch typisiert werden kann, so lässt sich eine weitere für die heutige Pädagogik bei Verhaltensstörungen relevante Linie als kriminalpädagogisch bezeichnen, die zwar immer einen gewissen Zusammenhang mit der sozialpädagogischen Linie, aber doch auch eine deutliche Eigenständigkeit hatte.

1.1.2     Die kriminalpädagogische Linie: Zuchthäuser – Jugendstrafvollzug – Gefängnisschule

Der Strafvollzug an delinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden als Freiheitsentzug und Erziehungsmaßnahme hat eine relativ kurze Geschichte (vgl. Myschker 1982 und 1989b). Über Jahrhunderte wurden selbst Kinder und natürlich auch Jugendliche und Heranwachsende wie Erwachsene behandelt.

Die schweren, gegen die Ehre, den Leib oder gegen das Leben gerichteten Strafen des Mittelalters entsprangen dem Sühnedenken und zielten in brutaler Weise auf Abschreckung. Sie wurden – mit regionalen Unterschieden – auch an Kindern nach Vollendung des siebten bzw. zwölften Lebensjahres vollzogen. Kinder, die einen Menschen getötet hatten, wurden hingerichtet.

Staatlicher Strafvollzug und Freiheitsentzug als Strafmaßnahme kamen erst im 13. Jahrhundert auf. Aber der Freiheitsentzug war als Einsperrung in dunkle, kalte, feuchte Verließe im Turm, im Lochgefängnis, im Karzer oder im Gefängnis mit Fesselung oder gar Ankettung, mit dauerndem Hunger und Krankheiten eher eine häufig zum Tode führende Leib- und Lebensstrafe.

Wirtschaftliche Wandlungsprozesse und ein Überangebot an Arbeitskräften bzw. an besitzlos gewordenen freien »Lohnarbeitern« führten im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert infolge des Fehlens öffentlicher Sozialmaßnahmen zu einer Massenkriminalität, auf die die Regierungen mit grausamen Strafen reagierten. In England z. B. wurden unter Königin Elisabeth 300 bis 400 Landstreicher und Diebe auf einmal hingerichtet.

Da einerseits selbst die brutalsten Strafen einen Abstumpfungseffekt hatten und somit an abschreckender Wirkung verloren, sich andererseits die Menschen dagegen zu sträuben begannen, dass die Strafen auch an Kindern und Jugendlichen vollzogen wurden, begann ein Nachdenken über andere Maßnahmen gegen straffällige junge Menschen.

Aus humanitären Motiven delinquenten Kindern und Jugendlichen gegenüber in Verbindung mit der große Verbreitung findenden Glaubenslehre des Reformators Jean Calvin (1509–1564) einerseits und andererseits zum Zwecke der Resozialisierung für einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt wurde 1595 in Amsterdam das erste Zuchthaus (secreete tuchthuis) gegründet; weitere folgten. Im Sinne Calvins waren harte Arbeit, strenge Zucht, Seelsorge und Unterricht die Erziehungsmittel. Es galt, die Seelen der vom rechten Weg abgeirrten Straftäter zu retten. Mit Arbeitsprämien, gemeinsamer Arbeit tagsüber und der Unterbringung in Einzelzellen zur Nacht sowie mit Spiel und Sport nach Arbeit und Unterricht wurde ein für die damalige Zeit erstaunlich fortschrittliches Erziehungs- und Besserungskonzept realisiert. Die Amsterdamer Zuchthäuser wurden zu weithin wirkenden Vorbildern.

Die Zuchthäuser, die nach Amsterdamer Vorbild in ganz Deutschland, vor allem in den Hansestädten gegründet wurden (z. B. in Bremen 1609, in Hamburg 1622, in Danzig 1636), realisierten für männliche wie für weibliche Kinder und Jugendliche ein Arbeits- und Erziehungskonzept. Diese Anstalten können als Vorläufer der Einrichtungen der Fürsorgeerziehung und des Jugendstrafvollzugs angesehen werden.

Merkantilistische Ideen und die äußerst ungünstigen Bedingungen nach dem Dreißigjährigen Krieg brachten in den Zuchthäusern Ausbeutung der Arbeitskraft der Insassen und strafverschärfende Verhältnisse mit sich. Mit dem beginnenden 19. Jahrhundert, als es in Deutschland mindestens 60 Zuchthäuser gab, begann die Entwicklung von einer der Zucht bzw. Erziehung dienenden Einrichtung zu einer Institution schwerer Strafe, die als »Hochschule des Verbrechens« typisiert wurde. Zur Zeit ihrer Auflösung in den Jahren ab 1960 waren die strukturgewandelten deutschen Zuchthäuser Strafanstalten für erwachsene Schwerverbrecher ohne nennenswerte pädagogische Fördermöglichkeiten.

Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert verstärkten sich wieder Tendenzen, den Strafvollzug allgemein und insbesondere für Jugendliche zu einem Besserungsvollzug zu machen. Beccaria in Italien, Howard in England, Pestalozzi in der Schweiz und Wagnitz in Deutschland gehörten zu den Reformern des Strafvollzugs, die im Sinne humanistischer und aufklärerischer Tendenzen besondere Bedingungen für delinquente Jugendliche und einen systematischen Unterricht in der Gefängnisschule erstrebten und erreichten. Bei Gefängnisneubauten wurden auch Schulen errichtet, wie z. B. in Berlin-Moabit, wo 1846 eine neue Anstalt entstand. Im Vordergrund des Unterrichts standen nunmehr die Kulturtechniken. Es entwickelte sich eine übermäßig optimistische Einstellung, nach der durch intensive Bildungsmaßnahmen nicht nur die Heilung des Schwachsinns, sondern auch eine Besserung der Straftäter erwartet wurde. Die Gefängnisschule wurde zu einer wichtigen Einrichtung innerhalb der Anstalt; die Lehrer gewannen an Bedeutung.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geriet die Gefängnisschule in den Widerstreit der Meinungen. So bezeichnete z. B. 1874 der Anstaltsleiter Krell die Schule als »eine Übertreibung, die zugleich ein Unrecht gegen den freien, ehrlichen Mann ist« (vgl. Myschker 1989, 167). Die Gefängnisschule verlor an Bedeutung; Unterricht wurde zu einer freiwilligen Einrichtung, wurde nunmehr nur ungern geduldet, um den negativen Sozialisationsbedingungen der Anstalt (Prisonisierung) entgegenzuwirken. Diese Auffassung ist auch noch in der Gegenwart in weiter Verbreitung wirksam.

Die als sozialpädagogisch und als kriminalpädagogisch bezeichneten historiografischen Linien griffen an verschiedenen Stellen ineinander, z. B. auch dann, als Wichern und die »Innere Mission« auf die Kodifizierung des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 einwirkten, das die Strafunmündigkeit für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr festschrieb und Jugendliche bis zum 17. Lebensjahr als nur bedingt strafmündig bezeichnete. Der Strafvollzug an Jugendlichen sollte getrennt von dem für Erwachsene stattfinden. Mit der Novelle von 1876 wurde die Unterbringung von »Übeltätern« in Erziehungs- oder Besserungsanstalten auf Anordnung eines Vormundschaftsrichters vorgesehen. Der Deutsche Bundesrat formulierte 1897 Grundsätze für den Jugendstrafvollzug, nach denen die jugendlichen Gefangenen in allen Fächern der Volksschule unterrichtet werden sollten.

Um die Jahrhundertwende entwickelten sich unter Juristen im Sinne der Reformpädagogik Bestrebungen, Straftaten Jugendlicher in speziellen, getrennten Verfahren zu verhandeln. Es entsprach ganz den Intentionen der »Jugendgerichtsbewegung«, dass am 1. August 1912 in Wittlich an der Mosel das erste deutsche Jugendgefängnis gegründet wurde. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs sowie einem Anstieg der Jugendkriminalität fanden die Forderungen der »Jugendgerichtsbewegung« nach speziellen Gerichtsverfahren und speziellen Anstalten für Jugendliche verstärkt Gehör. Es verbreitete sich die Einsicht, dass Jugendliche – getrennt von den erfahrenen und alle kriminellen Tricks beherrschenden erwachsenen Straftätern – unter annähernd Gleichaltrigen eine ihrem Alter und ihrer Reife entsprechende Erziehung und Bildung erfahren sollten. Im Bereich der Jurisdiktion kam nunmehr eine Entwicklung zum Abschluss, die zum seinerzeit sehr fortschrittlichen Jugendwohlfahrtgesetz (JWG von 1922) und zum Jugendgerichtsgesetz (JGG von 1923) führte. Das JGG schränkte gegenüber Jugendlichen die Straf- und Vergeltungsintentionen zugunsten des Erziehungsgedankens ein. JWG und JGG stellten eine weltweit bedeutende und fortschrittliche Gesetzgebung dar (image Kap. 7.2 und Kap. 7.3), die im Wesentlichen die Nazi-Zeit überdauerte und die mit geringfügigen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg von der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurde. Erst 1990 kam es zu einer völligen Überarbeitung des JWG zu einem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) sowie zu einigen Änderungen des JGG, das aber – zum Verdruss vieler Fachleute – im Wesentlichen beibehalten wurde. Der heutige Jugendstrafvollzug macht weitestgehend von Möglichkeiten des – im JGG vorgesehenen – offenen Vollzugs Gebrauch. Die Gefängnisschule sollte im Vollzug bei Jugendlichen nach dem 1960 von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossenen »Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens« eine sonderschulische Einrichtung, »eine Berufsschule von betont heilpädagogischer Prägung« sein. Diese bildungspolitische Aufgabenstellung wurde fallengelassen. In den »Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens« der KMK von 1972 wurde die Schule in der Jugendstrafanstalt nicht mehr berücksichtigt. Sie konnte niemals eine deutliche Struktur und ein ausgeprägtes Selbstverständnis entwickeln, da sie immer im Widerstreit der Meinungen stand, von den Behörden – nicht zuletzt im Hinblick auf die Öffentlichkeit – kurzgehalten wurde und der Entwicklung im übrigen Schulwesen hinterherhinkte. Schüler wie Lehrer leiden nach wie vor unter diesen Umständen.

In den vergangenen Jahren wurde der Jugendstrafvollzug in seiner Struktur dadurch verändert, dass in den Anstalten mehr und mehr ausländische und erwachsene Straftäter einsitzen. Zum Stichtag 31.3.2012 waren von den 5796 Strafgefangenen 2506 21 Jahre und älter. Etwa 90% der Klientel waren nicht mehr Jugendliche und junge Menschen, sondern Erwachsene (Statistisches Bundesamt 2012 f., 14). Es besteht die Gefahr, dass die im JGG fixierten pädagogischen Aufgaben nicht mehr zufriedenstellend erfüllt werden können.

1.1.3     Die schulpädagogische Linie

Auf die Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen und die Etablierung einer eigenständigen akademischen Fachrichtung der Sonderpädagogik beziehen sich die beiden historiografischen Linien, die zum einen Beobachtungsklassen, Erziehungsklassen und Kleinklassen, zum anderen Sonderklassen, Sonderschulen und Maßnahmen integrierter Förderung umfassen und in der Zusammenschau als schulpädagogische Linie zu typisieren sind.

1.1.3.1    Beobachtungsklassen – Erziehungsklassen – Kleinklassen

Spezielle Fördereinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen wurden seit Mitte der 1920er Jahre in der Schweiz und in Deutschland gegründet, und zwar 1926 in Zürich als »Beobachtungsklassen« und in Berlin 1928 als »Erziehungs-Klassen« (E-Klassen). Zur Gründung dieser Kleinklassen kam es

•  zum einen im Zuge von Separierungs- und Isolierungstendenzen, um die übrigen Schüler vor den »psychopathischen« und »schwer erziehbaren« Kindern und Jugendlichen zu schützen, und

•  zum anderen im Zuge von Normierungs- und Normalisierungstendenzen, um abweichende Kinder und Jugendliche den übrigen wieder anzugleichen.

Die Kleinklassen bekamen in der Schweiz wie in Deutschland die Aufgabe und Zielsetzung, mit besonders befähigten Lehrern, besonderen Methoden und in kleinen Gemeinschaften im Regelschulwesen als nicht mehr tragbar eingestufte Schüler in einem Zeitraum von zwei bis vier Jahren so zu verändern, dass sie wieder zurückgeschult werden konnten (vgl. Sidler/Moos 1928, Sidler 1937, Fuchs 1930). Die Klassen sollten sich nicht zu Sonderschulen weiterentwickeln, sondern als Durchgangseinrichtungen Teil der Regelschule bleiben. Der Initiator der Berliner E-Klassen, der Magistratsschulrat Arno Fuchs, erklärte ausdrücklich: »Der Ausbau einer aus E-Klassen bestehenden E-Schule kann nicht gutgeheißen werden, da hierdurch die unbedingt innezuhaltende Unauffälligkeit und engste Zugehörigkeit zur Normalschule, sowie der leitende Zweck einer vorübergehenden Heilbehandlung aufgehoben wäre« (Fuchs 1930, 48 f.). Die Organisationsform der Berliner E-Klassen (image Kap. 7.1) wurde auch von anderen deutschen Städten übernommen. Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland bewährten sich diese Klassen, wie z. B. auch die Hilfsschulen und -klassen, die aus ähnlichen Tendenzen heraus entstanden waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die E-Klassen, nachdem die Nationalsozialisten sie aus ideologischen Gründen in Deutschland aufgelöst hatten (image Kap. 1.3), in Berlin neugegründet und in ähnlicher Form auch in anderen Städten (z. B. in Bremen und Hamburg) eingerichtet. Nach dem »Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens« der KMK von 1960 sollten sie in der notwendigen Verbreitung Einrichtungen zwischen der Sonderschule für Verhaltensgestörte und der Regelschule sein und Schüler aufnehmen, »die durch ihr Verhalten die Klassengemeinschaft nachhaltig stören, bei denen aber zu erwarten ist, dass durch stärkere Einzelbetreuung die Fehlhaltungen gemildert oder beseitigt und damit eine Rückführung in die allgemeine Klasse ermöglicht oder vorbeugend eine weitere Gefährdung vermieden werden kann« (KMK 1960, 35). Ähnlich organisierte Klassen wurden in den neuen Bundesländern eingerichtet, wo sie auch zu Schulen zusammengefasst werden konnten und sich – insgesamt gesehen – bewährten (vgl. Großmann/Gerth 1990).

Separierende Kleinklassen wurden lange kritisch gesehen und standen in einer Legitimationskrise. Materiell wie personell wurden sie in den Regelschulen nicht adäquat ausgestattet, wurden zu »Rüpelklassen« oder zum isolierten Getto und konnten häufig in der verfügbaren Zeit die Problemkinder nicht wesentlich bessern. Zudem ist der Zug der Zeit auf Inklusion, d. h. auf die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung behinderter und nichtbehinderter Schüler ausgerichtet, wobei allerdings Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen die größten Schwierigkeiten bereiten dürften (vgl. Stein/Müller 2015). So ist anzunehmen, dass auf Kleinklassen nicht verzichtet werden kann und diese bei adäquater äußerer wie innerer Organisation auch einen sinn- und effektvollen Platz in einem gestuften schulischen System haben können (image Kap. 7.1; Grissemann 1992). Auch in den »Empfehlungen zur emotionalen und sozialen Entwicklung« der Kultusminister der deutschen Länder, die in Ergänzung zu den »Empfehlungen zur sonderpädagogischen