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Paul Josef Kardinal Cordes

Dein Angesicht,
Gott,
suche ich

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Zur Vereinheitlichung wurde die Schreibweise in den zitierten Dokumenten der neuen deutschen Rechtschreibung angeglichen.

Die Bibelzitate sind teils der Einheitsübersetzung entnommen, teils wurden sie aus den Ursprachen neu übersetzt.

Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek.

DEIN ANGESICHT, GOTT, SUCHE ICH

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INHALT

Hinführung: Von Kardinal Ratzinger angespornt – Einige Erinnerungen

1.Zeitdiagnose: Gottesdämmerung

Entschwunden – Ausgespart – Vermeidbar – Abgewertet – Annullierbar

2.Der Notstand: Gottvergessenheit

Aufgedeckt – Angezeigt

3.Die authentische Quelle: Gottes geoffenbartes Wort

3.1Aktuelle Ausblendung

3.2Gottes Selbstbildnis

3.2.1Dynamische Präsenz

Überwältigend – Anwesend und entzogen – Unfasslich – Helllichte Finsternis – Emmanuel – Gott mit uns – Feuer

3.2.2Wesen

Macht – Wort – Heiligkeit – Sichtbarkeit – Gottes Antlitz suchen

3.3Die Zeitenwende

3.3.1Frühjudentum und junge Kirche

3.3.2Anrufungen

3.3.3Jesus, der Weg

Frühe Kindheit – Gebetslehrer für seine Jünger – Der Sohn – »Er hat Kunde gebracht«

4.Dringliche Lesehilfe: Das Neue nicht ohne das Alte Testament

5.Gottbereites Leben: Garanten und Antipoden

5.1»… ich bedürfe eines geistlichen Führers, der mich verstehe« – Heilige Teresa von Ávila (1515–1582)

Erste Abenteuer – Ordensfrau – Klatsch im klösterlichen Sprechzimmer – Zugriff von oben – Gott, der Jäger – Respektvolle Intimität – Unheilvolle Kirchenspaltung – Verlässliche Wegbegleiter

5.2»Hier stehe ich, ich kann nicht anders« – Martin Luther (1483–1546)

Allein gelassen – Jesu Vorwurf – Kein Treuhänder – sondern Eigentümer – Sendungsbewusst – Ohne Mariens und der Heiligen Beistand – Ein wundes Gott-Bild – Wirkungsgeschichte

5.3»Führ liebes Licht, im Ring der Dunkelheit führ du mich an« – Seliger John Henry Newman (1801–1890)

Frühe Glaubensgewissheit – Beschädigtes Selbstvertrauen – Inneres Licht – Autorität – Studierstuben-Einsichten – Konversion – Das Gewissen – Gegen subtile »Zielverschiebung« – Gottinnige Hingabe

5.4»… und ich schwebe / Über Wasser, über Erde, / Göttergleich« – Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)

Der »uralte, Heilige Vater« – Ein »Befestigungszeichen« – »Welche Religion?« – Auf Lavaters Prüfstand – Unfähig zur Selbstvergessenheit

5.5»Warum ich kein Christ bin« – Kurt Flasch (* 1930)

Versachlichung im Prokrustes-Bett – Wege und Holzwege der Apologetik

5.6»Ich liebe unseren Herrn Jesus Christus – wenn auch mit einem Herzen, das mehr und besser lieben möchte« – Seliger Charles de Foucauld (1858–1916)

Verwöhntes Waisenkind – Trägheit und Lebensekel – Playboy – Ein erster Weckruf – Forscher – Umkehr – Gott als ein Du – Nazareth – Christus, Speise Gottes für die Welt

5.7Gegen diffuse »Gottesfinsternis« – Das Licht seiner Zeugen

Geistliche Führer – Nicht verschlossen – Gott als Du des Menschen

5.8Die zeitkritische Gabe: Selbstvergessenheit

Philosophisch aufgewiesen – Durch den Apostel Paulus bestätigt – Von der kirchlichen Tradition aufgenommen – Dichterisch angeregt – Nicht als Ich-Auslöschung – Im Dienst am Nächsten

6.Eine pastorale Antwort: Geistliche Bewegungen

6.1Randvolles Netz

6.2Gottverwiesen

6.3Bewährte Glaubensschulen

6.3.1Josef Kentenich (1885–1968)

Zur Verbreitung seines Werkes

6.3.2Heiliger Josemaría Escrivá (1902–1975)

Widerstände – Der Name

6.3.3Chiara Lubich (1920–2008)

6.3.4Luigi Giussani (1922–2005)

6.3.5Kiko Argüello (* 1939)

6.3.6Moysés Azevedo Filho (* 1959)

7.Vom Wort »Gott« zum »gegenwärtigen Gott«

Meister Eckhart – Gottes Bote

HINFÜHRUNG: VON KARDINAL RATZINGER ANGESPORNT – EINIGE ERINNERUNGEN

»Wenn der Heilige Vater mich nicht nochmals ausdrücklich darum bittet, komme ich nicht nach Rom.« Das sind die Worte, die Kardinal Joseph Ratzinger im November 1980 mir gegenüber äußerte. Er sagte sie nach der Bischofssynode »Die christliche Familie in der Welt von heute«. Bei dieser hatte er die wichtige Funktion des vom Papst »Delegierten Präsidenten«, und er war der Aufgabe mit gedanklicher Tiefe sowie sprachlicher Eleganz nachgekommen. Während der Versammlung des Weltepiskopats hatte er seine Bleibe im Collegio Teutonico, dem bekannten Studienhaus deutschsprachiger Kleriker auf vatikanischem Grund und Boden. Auch ich wohnte dort, seit ich zu Ostern desselben Jahres in den Päpstlichen Rat für die Laien berufen worden war.

Damals kursierte im Vatikan das Gerücht, Johannes Paul II. wolle sich den hochgeschätzten deutschen Theologen als engen Mitarbeiter sichern. Später – etwa in »Salz der Erde« (2010) oder »Letzte Gespräche« (2016) – macht der Umworbene keinen Hehl daraus, dass der Papst auf seiner Absicht hartnäckig insistierte und welche Einwände und Widerstände er selbst gegen sie anführte, um in Bayern zu bleiben.

Nach Abschluss der Bischofssynode war er sofort nach München geeilt und kam später nochmals in unser Haus, um einige zurückgelassene Habseligkeiten zu holen – sicher, dass sein Platz in der Heimatdiözese war. Es traf sich, dass wir uns dort kurz vor seinem Weggang am Aufzug des Kollegs begegneten. Obwohl wir uns nicht nahestanden – wir siezten uns damals noch –, riskierte ich eine indiskrete Herausforderung: »Herr Kardinal, werden Sie nun bald in den Vatikan kommen?« Seine Antwort habe ich schon erwähnt. Später musste ich aus ihr schließen, dass Papst Johannes Paul II. ihn nach unserer Begegnung offenbar noch einmal gedrängt hatte.

Die Verfügbarkeit Kardinal Ratzingers dem Papst gegenüber sowie das Hintansetzen seines eigenen Lebensentwurfs vertieften in mir den Respekt ihm gegenüber; sie kamen mir oft in den Sinn, wenn sich in der nun beginnenden anschließenden Zeit des gemeinsamen kurialen Dienstes unsere Wege kreuzten. Nach seinem Ortswechsel ergaben sich ja manche Gelegenheiten für Gespräche und Begegnungen.

Kardinal Ratzinger wohnte während seiner ersten römischen Monate im Kolleg. Wir nahmen die Mahlzeiten dort gemeinsam ein und hatten unsere Plätze in der vom Rektor vorgesehenen Tischordnung. Das bedeutete, dass ich ihm normalerweise gegenübersaß oder wenigstens in seiner Nähe.

Nachdem er eine eigene Wohnung in einem Apartment des Vatikans genommen hatte, kam er regelmäßig donnerstags zur Feier der Eucharistie ins Haus, sodass wir uns trafen und immer gemeinsam frühstückten.

Als ich gleichfalls aus dem Kolleg ausgezogen war und im Sant’Uffizio lebte, begegneten wir uns dort häufig, wenn er nach Büroschluss das Haus verließ und ich zur Mittagspause zu meiner Wohnung kam. Er nahm sich dann die Zeit, mit mir ein paar Worte zu wechseln.

Die Namenstage – St. Josef sowie St. Peter und Paul – waren uns durchweg Anlass zusammenzukommen, kleine Mitbringsel zu überreichen oder auch miteinander zu essen.

Als er im November 1992 unter die Mitglieder der französischen Académie des Sciences morales et politiques aufgenommen wurde, durfte ich ihn begleiten. Die feierliche Zeremonie für seine Aufnahme in den Kreis der sogenannten »Unsterblichen« der Académie française steht mir noch heute vor Augen.

Schon aus Gründen des vatikanischen Protokolls machten wir die Reisen Johannes Pauls II. miteinander. Beim zweiten Deutschlandbesuch des Papstes flogen wir Begleiter die verschiedenen Zwischenstationen in recht abgenutzten Militärhubschraubern mit wackeligen Sitzen und schlecht schließenden Fenstern an. Einmal stieg ich ein und fand einen verängstigten Kardinal, der in einer Ecke kauerte. Ich setzte mich zu ihm. Er darauf: »Da bin ich froh, dass du mit mir fliegst.«

Regelmäßig entfloh ich im August der römischen Hitze durch meinen Urlaub in Brixen/Südtirol. Mehrfach erholte sich dort auch Kardinal Ratzinger. Er wohnte im Brixener Priesterseminar. Wir trafen uns dann gelegentlich zu lockerem Gesprächsaustausch – über die Kirchenfragen und über theologische und pastorale Probleme.

So lernte ich durch all die Jahre den Wirklichkeitssinn und die feine Menschlichkeit des Kardinals kennen. In mir wuchs eine Beziehung zu ihm, die ich meinerseits als freundschaftliche Sympathie bezeichnen möchte.

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Fraglos war es solches Beisammensein, das meine Öffnung für sein Wort und seine Weisung stark förderte. Ich hörte ihm genauer zu und lernte ihn besser kennen.

Er nahm mich für sich ein durch seine Aussagen zu Gottes Wort. Es waren die überraschenden, neuen Aspekte, die er in gewinnender, unverbrauchter Sprache darlegte. Das alles stand im Kontext einer zutreffenden, auch besorgten Sicht der Gegenwart und wurde mir zu wichtiger Mahnung sowie zu aufbauender Weisung.

Zunehmend imponierten mir der Scharfsinn seiner intellektuellen Wahrnehmung von Mensch und Welt und die Präzision seines Denkens. Damit stand ich nicht allein – wie etwa sein öffentlicher Dialog mit einem als führend geltenden deutschen Philosophen unserer Tage, Jürgen Habermas, in München (2004) zeigt.

Bei all der Reflexionskraft trübte sich nie seine Glaubenssicht auf Kirche und Welt. Mich persönlich – ich war damals Vizepräsident des Päpstlichen Laienrats – bestärkte etwa seine positive Wertung der neuen Geistlichen Bewegungen. Zwar hatte der heilige Johannes Paul II. vor ihm schon mehr als einmal gelehrt, dass die kirchliche Sendung neben der hierarchischen eine charismatische Dimension habe; ja, er hatte diese sogar »koessenzial« genannt.1 Doch stießen diese Bewegungen trotzdem in manchen Ortskirchen nicht selten auf wenig einsichtige Vorbehalte. So war ich froh, dass auch Kardinal Ratzinger sie guthieß und entschieden förderte.

Die neuen Geistlichen Bewegungen kamen seinem Wunsch entgegen, den Glauben personal zu verstehen. Später äußerte er, der jüdische Philosoph Martin Buber habe ihn beeinflusst, und dessen »Ich-Du-Prinzip« zähle wohl zum Ausgangspunkt auch seines eigenen philosophischen und theologischen Denkens.

In der Mitte seines Forschens, Schreibens und Betens steht die Gestalt des Gottessohnes. Sein dreibändiges Werk »Jesus von Nazareth« ist gleichsam seine Summa theologica. Sie wendet sich »gegen bestimmte Typen von Exegese«, die – wie er selbst sagt – die Wahrheit über den Herrn »einfach zerstören und zerreden«. Sogar als Papst wagte er es, sich »auf den Dschungelkampf der Details« einzulassen und »in diesen Streit einzutreten«. Wen faszinierte nicht solche Kenntnis und solcher Mut?

Andererseits ist seine Bescheidenheit entwaffnend. Einmal aß ich mit ihm allein zu Abend. Unser Gespräch kam auf das stupende Werk des Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar: dessen geniale Neuentwürfe der Glaubenswelt, seine Forschungen, seine Übersetzungen, der Aufbau eines Verlags und sein Anstoß zu der neuen Internationalen Zeitschrift, der Communio. Dann schienen beim Reden plötzlich für Kardinal Ratzinger er selbst und sein eigenes eindrucksvolles Œuvre total unwichtig. Er sagte unvermittelt über Balthasar: »Welche Gnade ist es, einen solchen Mann gekannt zu haben.«

All die kleinen Wegmarken und großen Zueignungen – Joseph Ratzinger würde sie wohl der »Vorsehung« zuschreiben – fügten es, dass mein Zutrauen in seine theologische Sicht und Weisung an Festigkeit gewann.

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Besonders freute es mich verständlicherweise, dass Kardinal Ratzinger auch mir seinerseits Zeichen seines Wohlwollens gab. Meine Zuwendung zu ihm blieb demnach offenbar nicht unerwidert.

Am 5. September 2004 hatte ich einige Angehörige, Freunde und Bekannte nach Köln zur Vollendung meines 70. Lebensjahres eingeladen. Trotz eines vollen Terminplans machte auch er den weiten Weg nach Köln und gab durch seine Predigt dem Tag Glanz und geistliches Gewicht.

Eine andere Überraschung erlebte ich in den Tagen seiner Wahl zum Papst. Nach dem Tod des heiligen Johannes Paul II. war ich trotz allen dramatischen Getriebes zu einem wichtigen Termin nach Warschau geflogen. Anscheinend fiel Kardinal Ratzinger meine Abwesenheit auf. Nach meiner Rückkehr traf ich kurz vor Beginn des Konklaves am 18. April 2005 seinen Sekretär, Mons. Gänswein, im Hof der Glaubenskongregation. Dieser sagte mir, Kardinal Ratzinger habe ihn nachdrücklich gefragt, wo ich stecke. Er habe geantwortet, ich sei in Rom. Darauf habe er erwidert: »Ich sehe ihn aber nicht!«

Diese Nachfrage nahm ich nun nach seiner Wahl gern zum Anlass, das Unmögliche zu versuchen: mich am Ende des Konklaves in die Sixtinische Kapelle vorzudrängen. Es gelang. So war ich die zweite Person, die ihm nach seiner ersten Eucharistiefeier den Segen Gottes wünschte. Als ich zu ihm ging, sagte er mit hörbar froher Stimme: »Da bist du ja!«

Am 9. März 2008 kam er in das Internationale Jugendzentrum San Lorenzo in Piscibus in der Via Pfeiffer. Er feierte in der Kirche, die er mir, dem Kardinal, als Titelkirche zugewiesen hatte, die Eucharistie anlässlich des 25. Jahrestages ihrer Einweihung durch Papst Johannes Paul II. In seiner Predigt erinnerte er daran, dass er selbst hier des Öfteren die heilige Messe mit der Jugend aus aller Welt gefeiert habe. So ehrte er den Ort, an dem römische Mitglieder der neuen Geistlichen Bewegungen im Heiligen Jahr 1983/84 den Anstoß für ein internationales Jugendtreffen gegeben hatten. Deren nachhaltiges Echo führte ja bekanntlich zur Stiftung der Weltjugendtage durch Papst Johannes Paul II.

Freunde von mir hatten sich einfallen lassen, mir zur Vollendung des 75. Lebensjahres eine Festschrift zu widmen.2 Sie konnten Papst Benedikt XVI. für ein »Geleitwort« gewinnen. Wie immer bei solchen Anlässen fand der Papst auch an mir allerlei Lobenswertes. Beachtlich für die Weltkirche ist jedoch, dass er mein Engagement für die neuen Geistlichen Bewegungen hervorhebt. Und noch wichtiger erscheint mir, dass er in seinem Beitrag so erkennbar seine erste Enzyklika »Deus caritas est – Gott ist die Liebe« empfahl: In ihr habe er vergegenwärtigen wollen, dass Gottes- und Nächstenliebe »die zentrale Wirklichkeit des Glaubens« seien.

In den jüngst veröffentlichten »Letzten Gesprächen«3, deren große Resonanz auf dem deutschen wie dem internationalen Buchmarkt erstaunen mag, betont er außerdem, wie wichtig ihm dieses Lehrschreiben ist. Er wird gefragt, ob es für ihn unter seinen Enzykliken eine Enzyklika gebe, welche ihm die liebste sei. Seine Antwort: »Ja, vielleicht doch die erste, Deus caritas est

Papst Benedikt hat auch in öffentlichen Äußerungen nie verschwiegen, dass ich zu diesem kirchlichen Rundschreiben die eine oder andere Handreichung beisteuern durfte. Hinweise anderer anzunehmen, zeigt zunächst seine Hörbereitschaft und Lernwilligkeit – eine bei angesehenen Autoritäten und »großen Geistern« nicht immer auszumachende Begabung. Ferner freue ich mich darüber, dass unsere persönliche Nähe auch pastorale Früchte für andere trug.

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Die römischen Jahre schenkten mir Papst Benedikts XVI. menschliche Nähe und Freundlichkeit. Ferner festigte sich meine Einsicht in einen Sachaspekt seines theologischen Denkens. Ihn bedrückt offenbar zunehmend der Säkularismus als gravierende pastorale Schwierigkeit für Welt und Kirche heute: dass wir unser Leben ohne Gott einrichten. Mehrfach nannte er ihn auch »moderne Gottvergessenheit«. Das schon erwähnte Interviewbuch »Letzte Gespräche« stellt ihm wieder und wieder die personale Hinwendung zum Du Gottes als das Kriterium von Glaube und Christsein positiv entgegen. Zu seinem eigenen Papsttum sagt er etwa, es habe ihm den Vorsatz gegeben, »dass ich das Thema Gott und Glaube ins Zentrum stellen wollte«. Oder er bekennt am Schluss des Buches von sich selbst, es sei ihm immer deutlicher geworden, »dass Gott selber nicht nur nicht, sagen wir, ein gewaltiger Machthaber ist und nicht eine ferne Gewalt, sondern dass Er Liebe ist und mich liebt«.

Derselbe elementare Impuls – er benannte ihn einmal ungewöhnlich und treffend »Gotteszentrismus«4 – fiel mir persönlich durch meine geringe Zuarbeit zur genannten Enzyklika Deus caritas est unübersehbar ins Auge. Um die verschiedenen Phasen des steinigen Weges ihrer Erstellung kurz zu benennen:

Nach einer Sitzung Papst Johannes Pauls II. mit den Verantwortlichen der vatikanischen Abteilungen (25. November 1999) erhielt ich den Auftrag, Texte für ein Dokument des Lehramtes zu Fragen der Diakonie zusammenzustellen. Noch vor Weihnachten sandte ich Vorschläge an das vatikanische Staatssekretariat, ohne dass von dort eine Reaktion erfolgt wäre. Schon schien mir das Projekt vergessen. Dann, im Februar 2003, kam der Papst selbst bei einer Begegnung wieder darauf zurück.

Zwischenzeitlich hatte ich mich schon an Kardinal Ratzinger gewandt. Er schaute den Text des Vorentwurfs an, fügte Neues und Verbesserungen hinzu. Dann ging das Exposé wieder ans Staatssekretariat.

Im Juli 2004 kam von dort die Antwort, der Vorschlag sei verworfen und das Vorhaben eines Lehrtextes sei überhaupt fragwürdig. In meiner Verblüffung beriet ich mich erneut mit Kardinal Ratzinger. Er diktierte mir einen Antwortbrief, dass die Weiterarbeit am Text (»ein Auftrag des Papstes!«) geboten sei. Dann starb Papst Johannes Paul II.

Der neue Papst wohnte in den Anfangstagen seines Pontifikats in dem vatikanischen Gästehaus Santa Marta. Deshalb begegnete ich ihm wenig später. Wir redeten kurz miteinander und er fragte mich, als ob er mein unausgesprochenes Anliegen geahnt hätte: »Was wird denn nun aus der Enzyklika?« Meine spontane Antwort: »Ich denke, der neue Papst hat so viele Dinge im Sinn, die er in seiner ersten Enzyklika behandeln möchte. Aber wenn in seinem Kopf noch ein wenig Raum wäre für das Thema ›Caritas‹, würde ich mich sehr freuen.« Er darauf: »Ich werde mich bald entscheiden.« Am 25. Januar 2006 wurde das Dokument »Deus caritas est – Gott ist die Liebe« dann endlich allen zugänglich.

Allerdings wurde im Vergleich mit dem alten Entwurf die Hand des Papstes symptomatisch sichtbar. Sie betrifft wohl eine Vielzahl zusätzlicher Aspekte und treffsicherer Formulierungen. Aber schwerer wiegt noch anderes: Seine Redaktion des Dokumentes gibt diesem einen neuen Schwerpunkt. In den Vorarbeiten hatten wir die anstehende theologische Klärung induktiv dargelegt. Tenor war die neue Hilfsbereitschaft des heutigen Menschen und der Gesellschaft gegenüber Bedürftigen. Der Marshall-Plan und die staatlichen Entwicklungsministerien waren ja erst allerjüngsten Datums.

Papst Benedikt verzichtet hingegen auf jede stufenweise pädagogische Hinführung zur Liebestätigkeit: Er beginnt mit einem Paukenschlag: Deus caritas est. Hier liegt die neue Relevanz. Diesem Faktum widmet er den ersten Teil, der wohl die Hälfte der Enzyklika ausmacht. Die Ausführungen zu allen implizierten organisatorischen Fragen sind nur dessen Anwendung.

Die Redaktionsgeschichte der Enzyklika zeigt demnach wieder, wie schon seine »Letzten Gespräche«, die Gottesfrage als den »archimedischen Punkt« all seiner Glaubensverkündigung – um gleichsam dem Satz des großen sizilianischen Mathematikers Archimedes einen neuen Sinn zu geben; er soll ja ausgerufen haben: »Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.«

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Im Rückblick sehe ich Kardinal Ratzinger/Papst Benedikt als einen Mentor, durch den mich die Brisanz heutiger Gottvergessenheit getroffen hat. Ich möchte ihn – ohne ihn zu vereinnahmen – meinen »Lernhelfer« nennen. Sein Lehren und Verkündigen sind ein starker Antrieb für die nachfolgende Studie.

1Erstmals in einem Schreiben vom 2. März 1987.

2R. Buttiglione/M. Spangenberger (Hrsg.), Gott ist treu. Festschrift für Paul Josef Kardinal Cordes, Augsburg 2010.

3Benedikt XVI., Letzte Gespräche. Mit Peter Seewald, München 2016.

4Deutsche Beilage zum Osservatore Romano vom 6. Oktober 2002.

1. ZEITDIAGNOSE: GOTTESDÄMMERUNG

Es liest sich wie das Drehbuch für einen Horrorfilm über den Abstieg des gekreuzigten Jesus Christus in die Unterwelt.

Der Ort: eine Kirche, dämmerig durch Schlieren von Nebel; am Gewölbe: das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl steht; die Akteure: schattenhafte Umrisse, die sich um den Altar versammelt haben; als Soundtrack: die Schläge der Turmuhr und das Grollen eines Erdbebens.

Unerwartet erscheint dann der hingerichtete Nazarener auf dem Altar. Da rufen plötzlich all die toten Gestalten: »Christus! Ist kein Gott?« Er antwortet: »Es ist keiner!«

Und er fährt fort:

Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg hinab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: Vater, wo bist du? Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unendlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren, bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und wiederkäuete sich.

Nun werfen sich die gestorbenen Kinder vor dem Altar mit der hohen Figur nieder und rufen: »Jesus, haben wir keinen Vater?« Und er antwortet mit strömenden Tränen:

Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.

Jesus richtet seinen Blick auf das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und gegen die leere Unermesslichkeit und sagt:

Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! Wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe?

Entschwunden

So weit aus der »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«5. Jean Paul, ein Pfarrerssohn, schilderte in ihr einen Albtraum, der ihn in Hoffnungslosigkeit stürzte; der ihn verzweifeln ließ. Schließlich erwacht er. Da kennt sein Jubel keine Grenzen mehr. Er hat sich geirrt:

Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet.

Im 18. Jahrhundert schrieb der Dichter aus Wunsiedel im Fichtelgebirge diesen Text. Scharen von Lesern liefen ihm damals zu. Er konnte sie sowohl mit derben Späßen wie auch mit sentimentalen Einfällen für sich einnehmen. Doch trug er auch schwer an einer immer stärker fühlbaren nihilistischen Entleerung des Lebens. Ihr gab er Ausdruck in dem kurzen Aufschrei, den er später in seinen bekanntesten Roman »Siebenkäs« neu einfügte.

Dichter haben einen wachen Sinn. Sie wissen mehr als wir Alltagsmenschen über unser Inneres und sehen Kommendes früher als wir. Jean Pauls empfindsames Gemüt ahnte schon Jahre vor der Geburt Friedrich Nietzsches, der gemeinhin als Herold von Gottes Tod gilt, den spürbaren Verlust des himmlischen Vaters, und er beklagte ihn dramatisch und schmerzvoll.

Ausgespart

Anders registriert der Dichter Heinrich Böll den Anbruch der gottlosen Zeit. Er stammt aus der Rheinmetropole Köln, bekannt durch ihren berühmten Dom und den Karneval. In der Stadt steht auch seit den Anfängen des Radios das heute größte deutsche Rundfunkhaus. Mit Kurzgeschichten – wie etwa »Wo warst du, Adam?« – machte der spätere Nobelpreisträger gleich nach dem Zweiten Weltkrieg auf sich aufmerksam. Dann fand er bald einen großen Leserkreis mit »Billard um halb zehn«, »Gruppenbild mit Dame« und anderen Romanen. Ferner schrieb er Satiren, die bis in unsere Tage bei den Zeitgenossen ein schmunzelndes Echo wecken. Denn er versteht es, die gesellschaftliche Verlogenheit aufzudecken und das Allzumenschliche der Institutionen bloßzustellen – etwa den erwähnten Westdeutschen Rundfunk, der ja für jeden Bürger dieser Stadt unüberseh- und unüberhörbar ist.

Einer Analyse von Mentalität und Verhalten in diesem Sender gab er den Titel: »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen«6. Die Story wurde 1958 erstmals publiziert. Der Hieb ihrer sarkastischen Pointe trifft immer noch.

Prof. Bur-Malottke ist in der Nachkriegszeit aufgestiegen zu unbestritten höchster Autorität unter den Kunstsachverständigen der Bundesrepublik. Nun hat er zwei halbstündige Vorträge über das Wesen der Kunst auf Band gesprochen; ihre Sendung steht an. Da bekommt er plötzlich Gewissensbisse: Hat er in seinen Vorträgen nicht zu oft das Wort »Gott« gebraucht? Ist das nicht eine Zumutung für die Hörer, eine Überfremdung seiner eigenen Analyse, sogar des Rundfunks? Verwirrt macht der Wissenschaftler, der gewohnt ist, immer nur Vollkommenes abzuliefern, einen demütigenden Bittbesuch beim Intendanten. Er drängt darauf, den schon sendereifen Essay korrigieren zu dürfen. Aus religiöser Korrektheit hält er es nicht länger für vertretbar, das Wort »Gott« den Hörern zuzumuten. Wenn er überhaupt auf Gott verweist, so will er ihn ersetzen durch den Ausdruck »jenes höhere Wesen, das wir verehren«. Der Techniker Doktor Murke purgiert das Band, sammelt die Tonschnipsel mit dem Wort »Gott« und steckt sie in eine blecherne Zigarettenschachtel. »Gott« ist entsorgt.

Vermeidbar

Gewiss hat der anglikanische Bischof John Robinson Bölls Satire nicht gekannt. Sonst wäre ihm vielleicht aufgegangen, wie lächerlich er sich gemacht hat, als er 1963 ernsthaft vorschlug, die christliche Welt solle »Gott« nicht mehr erwähnen. Er publizierte eine Studie mit dem Titel »Honest to God – Gott ist anders«7. Für sie erhielt er in Deutschland, ja weltweit hohe Aufmerksamkeit und hatte prägenden Einfluss auf Theologie und Frömmigkeit. Seine These: Das ganze religiöse Gewand, in dem sich das Christentum bislang präsentiert hat, ist nicht mehr zu halten. Die Mitte seiner Überlegungen machte er fest an der Frage nach Gott. Den Autor beflügelt die Ansicht, religiöse Verkündigung könne dem modernen, säkularisierten Menschen nur irdisch-greifbare Daten vermitteln. Für übernatürliche Wirklichkeiten und Zusicherungen über ein Jenseits habe selbst ein Christ keine Antenne mehr. Bischof Robinson zog daraus die Konsequenz und forderte eine

grundsätzliche Umformung der christlichen Lehre, in deren Verlauf die meisten unserer theologischen Grundbegriffe (wie Gott, das Übernatürliche, die Religion usw.) eingeschmolzen werden müssen. Ich kann sogar diejenigen verstehen, die für eine vorübergehende Abschaffung des Wortes Gott eintreten …, weil dieses Wort so eng mit einem Denken verbunden ist, das wir aufgeben müssen.8

Inzwischen ist viel Wasser die Fichtelnaab, den Rhein und die Themse hinuntergeflossen. Jean Pauls und Heinrich Bölls Warnungen haben wenig gefruchtet. Es ist eher Bischof Robinsons Weichenstellung, die die Oberhand gewonnen hat. Kirchliche Repräsentanten und ihre Sprecher sind mehr denn je genötigt, sich zuallererst mit der Welt und ihren Nöten zu befassen; oft scheinen die Reden auch der geweihten Hirten eher bestimmt für die UNO oder das Rote Kreuz. Sie gehen zwar vom Evangelium aus, doch meinen sie, allein von der Nächstenliebe sprechen zu dürfen, weil nur sie von einer Gesellschaft ohne Transzendenzbezug angenommen würde. So versuchen sie, den Sinn und die Leistung unserer Glaubensgemeinschaft der Öffentlichkeit anzudemonstrieren – zu ihrer eigenen Bestätigung. Und damit die Effizienz der kirchlichen Struktur gesichert wird, setzen sie gelegentlich auf hoch bezahlte Unternehmensberater; diese sehen entsprechend ihrer Professionalität die Kirche – methodisch und praktisch – naturgemäß transzendenzlos, als Serviceunternehmen, und stellen sie mit einer ideologischen Lobby oder einem Wirtschaftsbetrieb gleich.

Abgewertet

Alternative Modelle großer Denker der Vergangenheit sind gleichzeitig in den Köpfen der Zeitgenossen am Werk und sekundieren der Verbildung des geoffenbarten Glaubens. Einige Namen mögen sie konkretisieren – und vielleicht gar zur Selbstprüfung taugen dafür, mit welchem Inhalt der eigene Begriff »Gott« gefüllt sein mag: »Der unbewegte Beweger« (Aristoteles aus Griechenland), »die Quelle der Güte und Wahrheit« (René Descartes aus Frankreich), »das Universum« (Baruch de Spinoza aus Holland), »der letzte Grund aller Dinge« (Gottfried Wilhelm Leibniz aus Deutschland), »ein unendlich weises und unendlich mächtiges Sein« (Pierre Bayle aus Frankreich), »der Geist schlechthin« (John Locke aus England). Zu diesen traditionellen Bestimmungen kommen für die jüngere Zeit die neuen Gottesformeln des schon erwähnten Friedrich Nietzsche (»Gott ist der Feind und Gegensatz des Lebens und Daseins«), des Sigmund Freud (die menschliche Projektion vom »Urvater«), von Paul Tillich (»Gott – die Tiefe des Seins«) oder Paul van Buren (»Gott – nicht verifizierbar«). Diese und ähnliche Entwürfe und Bestimmungen werden heute leicht zur Brille für unseren Blick zum Himmel. Über die Verschiedenheit der Gottesideen, ja über die unausbleibliche Vernebelung der Offenbarung hinaus überkommt uns die Versuchung, an der Verlässlichkeit des Wortes »Gott« als solchem zu zweifeln. Gott verliert in unserem Alltag seinen Ort und entschwindet zunehmend aus unserem Denken. Wenn Philosophen ihn »tot« nennen, sagen sie, er sei bedeutungslos für den Menschen und ohne Belang.

Dass die Postmoderne »eindimensional« empfindet und denkt; dass folglich unser Dasein durchweg von den messbaren Daten des Diesseits bestimmt wird; dass es hinter den greifbaren Kulissen unseres Lebens nicht noch andere Kräfte gibt – ist zeitgenössisches Gemeingut. Die Vertikale ist geschlagen. Transzendenz war gestern. Die Horizontale siegte. Sie hat kräftige Wurzeln und lässt sich nicht mehr mit ein paar frommen Worten vom Tisch wischen. Gottvergessenheit herrscht, weil sie perfekt in das moderne Selbstverständnis des Menschen hineinpasst. Das Ineinander beider Wahrnehmungen ist oftmals dargestellt worden. Hier muss der allgemeine Hinweis genügen, dass die geistesgeschichtliche Überzeugung von der umfassenden Autonomie des Menschen logischerweise zur Absetzung Gottes führte.

Annullierbar

Die Eintrübungen des Gottesbildes und der anglikanische Bischof Robinson hatten Nachfahren, die mit größerer Radikalität auftreten. Kaum abgeebbt ist die Welle ihres Kampfes gegen Gottes Existenz als solche. Franz Buggle, Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder Sam Harris sind einige Apostel neuer Gottlosigkeit. In Deutschland folgten Manifeste der »Giordano-Bruno-Gesellschaft«, die Unternehmungen der »Humanistischen Vereinigung« und Aufklebeaktionen an den Linienbussen großer europäischer Städte: »Eine frohe Botschaft für alle: Gott existiert nicht.« Dem »Spiegel« erschien die massive Propaganda gegen Gott dann sogar 2007 (Nr. 22) als neuer »Kreuzzug der Gottlosen«. Doch erst kürzlich stieß dieses Nachrichtenmagazin wieder einen Warnschrei gegen die Religion aus: »Der missbrauchte Glaube. Die gefährliche Rückkehr der Religionen.«9 Printausgabe und »Spiegel-Online« nutzten in einer manipulativen Vermischung die islamistischen Gewalttaten, um das Christentum anzugreifen. Nur das Christentum? Der Verdacht liegt nahe, dass der Hass eher dessen Stifter als nur der Stiftung gilt – entsprechend der Redensart: Man schlägt den Sack und meint den Esel.

Manchen praktizierenden Christen stieß allein schon der schrille Ton der Initiatoren solcher Kampagnen ab. Die Thesen erreichten nicht sein inneres Ohr. Er lächelte über die Parolen, die Gottes Tod als Gewinn an Freiheit priesen. Doch auch er kann nicht umhin einzuräumen, dass derartige Agitationen einen langen Entwicklungsprozess an sein logisches Ende bringen. Ein realistischer Blick erkennt dies.

5Im Jahr 1797 publiziert in Jean Pauls Roman »Siebenkäs«, hier entnommen aus E. Jansen, Das Zeichen, dem widersprochen wird, Düsseldorf 1960, S. 140–144.

6Köln 2013.

7John A. T. Robinson, Gott ist anders, 5. Auflage, München 1964.

8Ebd., S. 18.

9Der Spiegel, Nr. 13, 2016.

2. DER NOTSTAND: GOTTVERGESSENHEIT

»Vernimm, o Herr, mein lautes Rufen;

sei mir gnädig, und erhöre mich!

Mein Herz denkt an dein Wort:

›Sucht mein Angesicht!‹

Dein Angesicht, Gott, will ich suchen.

Verbirg nicht dein Gesicht vor mir!«

Psalm 27,7–9

Greift in der Gesellschaft der Säkularismus um sich, dann sind alle klugen Beobachter aller Religionen auf den Prüfstand gezwungen. Dass sich Religion als Islam auch im aufgeklärten Zeitalter verbreitet und mit ihrer Durchschlagskraft beeindruckt, steht ja allen vor Augen. Christen hingegen üben sich in Zurückhaltung, wenn diese aufzuzeigen ist. Der geistesgeschichtliche Strom von Moderne und Postmoderne untersagt ihren Exponenten und Vordenkern den mutigen Auftritt: Sollte Religion heute wirklich überhaupt noch zumutbar sein und einen Stellenwert für das Verständnis des Menschen beanspruchen, dann aber bitte nicht die der christlichen Engführung!10 Pastoral und Gemeindeleben werden von solchem Geist infiziert. Eine subtile Form des Unglaubens hat uns befallen. »Mitten in der Welt« entwickeln wir Verständnis für »Andersdenkende« und lassen uns dann auch wohl – subtil oder eklatant – von ihnen beeinflussen. Unsere Glaubensgewissheit wird brüchig.

Vielsagend und lehrreich ist eine – klug ausgedachte – Begegnung des ersten Kosmonauten Juri Gagarin mit Papst Paul VI. Der gefeierte Offizier der Roten Armee sei – so heißt es – nach seiner Erdumkreisung in Rom vom Nachfolger Petri empfangen worden. Man habe mithilfe des Dolmetschers einige Worte ausgetauscht. Dann habe der Papst plötzlich gefragt: »Sind Sie denn bei dem Flug durch das All auch Engeln begegnet?« – »Nein«, habe der Pilot überrascht und trocken geantwortet. Darauf Paul VI.: »Dacht’ ich mir’s doch!« – So weit die Begegnung im Vatikan. Doch erst in der Fortsetzung bekommt die Anekdote ihre wirkliche Pointe. Selbstverständlich hatte der Held der Sowjetunion nach der Erdumkreisung auch seine Audienz bei Chruschtschow, dem Parteichef der KPdSU. Dieser stellte in einem unbeobachteten Augenblick dieselbe Frage, ob er im All Engel gesehen habe. Diesmal war die Antwort Gagarins: »Jawohl, mein Vorsitzender!« Und Chruschtschow antwortete: »Dacht’ ich mir’s doch!« – Wer immer diese Geschichte erfunden hat: Er hat zutreffend ins Wort gebracht, dass heute alle Transzendenzbezüge morsch geworden sind – die des Glaubens und die des Unglaubens. So sich jemand daranmacht, die Grenze des Diesseits zu überschreiten, gibt er alle innerweltliche Sicherheit auf. Leugnet er die Religion und Gott als ihren höchsten Repräsentanten, so kann er seine Gegner nicht mit Verstandesargumenten bezwingen. Für das Ungreifbare gibt es keine empirische Formel. Es lässt sich allenfalls über Kopf und Herz erahnen.

Aufgedeckt

Um ein Urteil fällen zu können, orientieren wir uns bei undeutlichen Wahrnehmungen oder unscharfen Eindrücken gern an statistischen Umfragen und verlässlichen Zahlen. Auch zum Religionsproblem fehlen diese nicht. Ich entnehme sie der großen demoskopischen Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung für verschiedene europäische Länder, darunter auch Deutschland.11 Die Daten wurden von Fachvertretern der Soziologie erörtert. Sie folgten bei ihrer Kommentierung genauen methodischen Vorgaben und legten dabei ihre eigene, für die Publikation gewählte Sichtweise offen.

Die Autoren gehen davon aus, dass die Religiosität des Menschen ein vielschichtiges Phänomen ist, dessen Kern in der Frage nach Gott oder auch nach etwas Göttlichem bestehe. Die erhobenen Angaben werden dann gemessen an der gesellschaftlichen und religiösen Praxis der Befragten. Ferner findet Beachtung, dass Frömmigkeitsakte sowohl eine öffentliche Dimension in gemeinschaftlichem Tun wie auch eine private Tiefe im Gebet und in der Meditation haben. Von besonderer Relevanz für unseren Zusammenhang sind Auskünfte darüber, in welcher Weise Religiöses den Menschen berührt. Die Soziologen unterscheiden zwischen zwei Grundtypen: Einmal mache sich solche Erfahrung an einem göttlichen Gegenüber fest, an einem Du, und im Gegensatz dazu stehe – so der Religionsmonitor – eine Intuition von diffuser Einheit bzw. Verschmelzung mit dem allumfassend Göttlichen, das unpersönlich ist.12

Gerade für die letztgenannte Gottesidee nennt der Monitor ein aufschlussreiches Zitat. Die Frage, welche Idee einer der Gesprächspartner von »Gott« habe, beantwortet dieser:

Ich meine, es gibt ganz schlaue Leute, die die Welt erklärt haben, Ursprung blablabla, wie das halt entstanden ist und dass da Gott überhaupt keine Rolle drin spielt, aber irgendwie denkt man doch, man denkt doch auch: »Mein Gott, lass das nicht geschehen«, oder wenn man in irgendeiner ganz schwierigen Situation ist: »Hilf mir doch mal!«, oder so was. Irgendwo in irgendeiner Form, in welcher Form weiß ich nicht, aber irgendwo denkt man schon, dass da noch was ist.13

Aus der Untersuchung, die sowohl nach Konfessionen wie auch nach West- und Ostdeutschland trennt, sollen hier aus Gründen der Einfachheit nur die Ergebnisse für die Christen des Westens herangezogen werden. Unter den 65,7 Millionen Westdeutschen machen die Katholiken mit 25 Millionen, d. h. mit 38 Prozent der Bevölkerung, die zahlenmäßig größte Religionsgemeinschaft aus; 22 Millionen sind evangelisch und die restliche Bevölkerung nennt sich konfessionslos.

Zunächst mag den Leser der hohe Anteil der deklariert Konfessions- und Religionslosen überraschen. »Etwa ein Drittel der (west)deutschen Bevölkerung ist konfessionslos … 70 Prozent der Konfessionslosen teilen keine religiöse Überzeugung (etwa Glaube an Gott oder ein Leben nach dem Tod), 96 Prozent von ihnen haben keine öffentliche (z. B. Gottesdienstbesuch) und 85 Prozent keine private religiöse Praxis (z. B. Gebet oder Meditation), und 81 Prozent der Konfessionslosen machen keinerlei religiöse oder spirituelle Erfahrungen, z. B. von Gott angesprochen zu werden oder mit der Welt eins zu sein.«14

Der Monitor versucht nun zu ergründen, welche Elemente von Religionsvorstellung sich bei den verschiedenen Gruppen ausmachen lassen. Dabei unterscheidet er zusätzlich, ob die Befragten diesen Elementen niedriges, mittleres oder starkes Gewicht beimessen. Als Kategorien, die Religiosität zu erfassen, benennt er religiöse Reflexivität, öffentliche und private religiöse Praxis, religiöse Selbsteinschätzung, die Intuition der Einheit mit einem diffus Göttlichen sowie der Verschmelzung mit ihm und schließlich die Erfahrung eines Du als eines göttlichen Gegenübers. Letzterem spricht der Monitor die stärkste Glaubensintensität zu.

Welche Angaben lassen sich finden? Im Sinne der Kommentatoren und auch entsprechend unserem Interesse sollen hier die beiden letzten Kategorien – die Einheitsintuition mit einem diffus Göttlichen (1) und andererseits die Erfahrung Gottes als eines Du (2) – für Christen Beachtung finden. Bei den Evangelischen identifizieren 39,4 Prozent der Interviewten ihre Religionsvorstellung mit intensiver und mittlerer Einheitsintuition. Sie liegen mit diesen Daten in etwa auf gleicher Höhe mit den Katholiken. Wer schließlich danach fragt, ob Christen zu Gott eine Du-Beziehung haben, muss – ob bei Katholiken oder Protestanten – zur Kenntnis nehmen, dass in der zitierten Umfrage die hohe Zahl von 85 Prozent unter ihnen Gott nicht als ein personales Du bekennen; nur 12 Prozent der Evangelischen und 16,2 Prozent der Katholiken erfahren Gott als ein Du. Daraus zieht der Kommentator den Schluss, »dass pantheistische Religionsmuster … von den Katholiken bis zu den Konfessionslosen reichen und offenbar ein gemeinsames Element der von allen geteilten religiösen Kultur ausmachen«.15

Christsein meint somit für einen hohen Anteil derer, die sich dazu bekennen, nicht länger, dass Gott mein Vater im Himmel ist und ich der Bruder seines Sohnes Jesus Christus bin. Es ist vielmehr zu einem vagen Gefühl von einer gesichtslosen, anonymen Göttlichkeit geronnen. Dieser Befund müsste alle geweihten Hirten und verantwortlichen Laien aufrütteln, wenn nicht gar erschüttern. Wirksame Mittel zur »Neuevangelisierung« müssten daher alle notwendige Förderung finden, damit diese der Verkündigung von Christi Erlösungstat auch tatsächlich neue Wege eröffnete.

Wer die Glaubens- und die Geistesgeschichte sensibel wahrnahm, konnte schon vor Jahren einen einschneidenden Umschlag des allgemeinen Daseinsgefühls feststellen. Er reicht über das Glaubensumfeld und das Gesellschaftsklima noch hinaus. Heinrich Schlier († 1978), der angesehene katholische Bibelwissenschaftler, bemerkte und registrierte ihn. Er machte sich im Jahr 1965 einen Ausspruch des protestantischen Zeugen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer zu eigen, der geäußert hatte:

Wir stehen hinsichtlich der Religion in einer gegenüber der gesamten Geschichte völlig neuen Situation. Das, was man mit dem Schlagwort »Säkularismus« zu bezeichnen pflegt, ist ein Novum ohne Parallele.

Näherhin begründet Schlier diesen Befund durch die Reduktion des Lebens auf das technisch Verfügbare, auf das Beweis- und Kontrollierbare. Mit solchem verkürzenden Wechsel der Weltsicht erhielten zwar Schöpfung und Mensch größere Eigenständigkeit, sie würden weltlicher und menschlicher. Aber das Leben gelte nicht mehr »als Gabe« und sei nicht länger »verdankt«. Dieser Umschlag begründe wirklich einen neuen Grundzug für das Begreifen alles Geschaffenen. Das gewohnte Bild des Ursprungs der Dinge ist verschwunden; ein anderes ist an seine Stelle getreten: Der Mensch hat selbst und für sich selbst einen neuen »Weltgott« geschaffen. Der gläubige Exeget Heinrich Schlier bezieht einen Bericht aus der »Geheimen Offenbarung des Johannes« (Offb 13,14) auf diesen Vorgang; sie berichtet, dass die Bewohner der Erde sich ein göttliches Standbild schaffen, um es anzubeten. »Das ist nicht mehr heidnisch«, urteilt Schlier dann entschieden, »sondern antichristlich.«16

Der neue »Weltgott« konnte also eindrucksvolle Geländegewinne verzeichnen. Es ist kaum zu übersehen, dass »Gott« normalerweise im Alltagsurteil heute keinen Haftpunkt mehr hat. Schliers Wächterruf trifft folglich ins Schwarze.

Angezeigt

Einsichtig ist, dass die ausgelotete »Gottvergessenheit« nur einen geistlich Empfindsamen bedrückt; wer die Religion als Hirngespinst oder Volksverdummung betrachtet, kann Gott entbehren. So sind es denn auch nicht die Diesseits-Menschen, die über den verschlossenen Himmel klagen. Geistesgrößen und Menschenkennern hingegen fehlt Entscheidendes, wenn sie sich für die Deutung des Lebens auf Irdisch-Handgreifliches beschränken müssen. Erst recht spüren Glaubende und Propheten unserer Tage, dass der Verlust der Transzendenz uns alle arm gemacht hat.

Einer von ihnen war der heilige Johannes Paul II. Es ist zwar kaum vorstellbar, dass er in seiner Gottverbundenheit je ernsthaft beschädigt wurde. Seine Herkunft, sein Kampf für die Freiheit der Kirche unter der kommunistischen Diktatur, seine kraftvolle Verkündigung und sein weltumspannendes Reiseapostolat, seine Geduld als Kranker und sein heroisches öffentliches Sterben belegen eine außergewöhnliche Glaubenskraft. Doch es entging dem wachen Hirten nicht, dass der Mensch von heute dem Neuheidentum ausgesetzt ist und ihm oft erliegt. Er alarmierte deshalb die Kirchen Europas, die anbrandende Welle des Atheismus zu erkennen und ihr Einhalt zu gebieten: Am 5. Juni 1990 hielt er eine große Ansprache zur Vorbereitung der Außerordentlichen Bischofssynode, die diesem Kontinent galt. In ihr legte er dar, wie sich in der Neuzeit das naturwissenschaftliche Denken der geoffenbarten Wahrheit diametral entgegenstelle: Empirie habe den heutigen Menschen daran gewöhnt, »die Welt in sich selbst zu betrachten, ›als ob es Gott nicht gäbe‹«. Aus der Hypothese, dass Gott nicht existiere, werde dann die Überzeugung, er selbst sei eine Hypothese. Agnostizismus unter Wissenschaftlern greife um sich, und Atheismus als philosophischer Standpunkt sei überall anzutreffen. Die Antwort auf diese Verbreitung müsse eine gediegene Evangelisierung sein; Jesu Aufruf »Wachet und betet« formuliere das Gebot der Stunde.

Das Pontifikat Benedikts XVI. nahm diese Weisung auf. Es fand im Appell gegen heutige »Gottvergessenheit« seinen roten Faden. Der emeritierte Papst hat in seinen Publikationen, Predigten, Katechesen und öffentlichen Reden nicht aufgehört, die verbreitete Glaubensunsicherheit anzusprechen. Wie ein Prophet legte er den Finger immer wieder in diese Wunde der Menschheit und des Christentums. Er zeigt ihre unterschiedlichen Spielarten auf. Ein Hinweis soll für viele stehen. Er stammt aus seiner Audienzansprache an den früheren Botschafter der Bundesrepublik Deutschland anlässlich der Überreichung des Beglaubigungsschreibens (13. September 2010):

An die Stelle des personalen Gottes des Christentums, der sich in der Bibel offenbart, tritt ein geheimnisvolles und unbestimmtes Höchstes Wesen, das nur eine vage Beziehung zum persönlichen Leben des Menschen hat. Diese Auffassungen prägen zunehmend den gesellschaftlichen Diskurs, die Rechtsprechung und die Gesetzgebung. Wenn man aber den Glauben an Gott als Person aufgibt, dann ist die Alternative ein »Gott«, der nicht erkennt, nicht hört und nicht spricht.