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© 2018 Heribert Fischedick

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN  
Paperback: 978-3-7469-3991-9
Hardcover: 978-3-7469-3992-6
e-Book: 978-3-7469-3993-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Meinen Enkelkindern

Helene, David, Johanna und Theo –

wunderbare Heldinnen und Helden

auf dem Weg ins Leben

Heribert Fischedick

Der Weg des

Helden

Die Reise zu sich selbst

Inhalt

1. KAPITEL

Geschichten über das Leben

Mythen und Lebensbewältigung

Mythen als Spiegel und Wegweiser

2. KAPITEL

Der Weg des Helden

Das Schema des Heldenweges

Mehr als bürgerliche Helden

Archetypen als Entwicklungshelfer

Übersicht Archetypen

3. KAPITEL

Der Verwaiste

Bittere Enttäuschung

Selbstbesinnung als Entwicklungschance

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung

Der Wille zur Heilung

Die Religion des Verwaisten

4. KAPITEL

Der Wanderer

Berufung: Werde Du selbst

Gefangenschaft und Aufbruch

Den Missbrauch beenden

Der Abenteuer- und Prüfweg

Die Religion des Wanderers

Trennung und Wiedervereinigung

5. KAPITEL

Der Krieger

Die Entdeckung der Kraft

Selbstverantwortung und Selbstbehauptung

Abgrenzung und Selbstfürsorge

Konfliktfähigkeit

Die Integration des Schattens

Die Religion des Kriegers

6. KAPITEL

Der Märtyrer

Auf der Suche nach Liebe

Selbstlose sind sich selbst los

Verstümmelnde und verwandelnde Opfer

Die Kunst des Liebens

Die Religion des Märtyrers

7. KAPITEL

Der Magier

Mitte und Balance

Ordnung und Einordnung

Eine neue Sicht der Welt

Einweihung und Verwandlung

Die Religion des Magiers

8. KAPITEL

Heldenweg und Lebenssinn

Das Leben als Antwort

AUTOR

„Nec mori timuit,

nec vivere recusavit.“

Er fürchtete sich nicht

zu sterben,

und er weigerte sich nicht

zu leben.

Brevier am Fest des Heiligen Martin von Tours

1.

Geschichten über das Leben

Die uralte Kunst, Geschichten zu erzählen, findet heute unter dem Begriff „Storytelling“ eine neue Beachtung in Bildung und Wissensmanagement, in der Werbung, in der Unternehmenssteuerung und als Problemlösungsmethode in Beratung und Psychotherapie. Sie alle nutzen das Erzählen von Geschichten, um wichtige Botschaften und Wissen zu vermitteln. Verantwortlich für diese neue Wertschätzung ist die Erfahrung, dass eine lebendig erzählte Geschichte Zuhörer deutlich mehr berührt und in Bann zieht als eine nüchterne Sachinformation. Durch das Erzählen gerät der Zuhörer in eine Art Trancezustand, in dem er das in der Geschichte vermittelte Wissen unterschwellig und nachhaltiger aufnimmt als durch gezielte, an den Verstand gerichtete Information. Geschichten wirken darüber hinaus im Unterbewussten weiter und fördern so auch weiterhin das Reifen von Erkenntnissen.

Die Werbung nutzt seit längerem diese Wirkung. Denn Sachinformationen sind für eine Kaufentscheidung nicht annähernd so ausschlaggebend wie die emotionale Verknüpfung mit Erfahrungen und Bedürfnissen der Verbraucher. Darum werden in der Werbung Geschichten erzählt. Denn Verbraucher können sich daran nicht nur leichter erinnern, sondern bekommen durch die Geschichten eben auch ein Gefühl vermittelt wie Lebensfreude, Sicherheit, Vertrauen oder Optimismus. So können sie sich mit den Inhalten und Akteuren identifizieren und bekommen dadurch emotional eine Vorstellung vom Nutzen der beworbenen Produkte und Dienstleistungen.

Auch in der Steuerung von Unternehmen bedient man sich zunehmend der Kraft der Geschichten, um zu vermitteln, wofür ein Unternehmen steht, welche Werte es bestimmen und welche Absichten es verfolgt. Geschichten liefern bildhafte Vorstellungen, die leicht verständlich sind und im Gedächtnis bleiben. Unternehmensleitlinien und Führungsgrundsätze sind zwar plakativ, müssen aber erst mit Vorstellungen verbunden werden. Eine motivierende Identifikation mit Sinn, Ausrichtung und Weiterentwicklung eines Unternehmens lässt sich daher bedeutend einfacher mit Geschichten erzielen als mit Zahlen und trockenen Begründungen von Notwendigkeiten.

Dass Kinder Geschichten und die damit verbundene entspannte Atmosphäre des Erzählens lieben, ist hinreichend bekannt. Das Erzählen fördert ihre Vorstellungskraft und lädt sie ein, mit und voraus zu denken. Indem sie sich mit den Personen identifizieren und in deren Handlung hineinversetzen, wird auch ihre emotionale Intelligenz angesprochen, die zum Verständnis von Handlungsmotiven und Entscheidungen erforderlich ist. Gleichzeitig wird durch die vorgestellten Lösungswege auch ihre eigene Problemlösungskompetenz gestärkt. Das „nebenbei“ vermittelte Faktenwissen bleibt deutlich besser im Gedächtnis haften. Das gilt nicht nur für Kinder. Denn das limbische System unseres Gehirns, das für Emotionen zuständig ist, hat gleichzeitig Einfluss auf unser Langzeitgedächtnis. Alles, was wir emotional als bedeutsam erfahren, wird durch das Langzeitgedächtnis gespeichert. Darum kommt auch bei Erwachsenen der emotionalen Vermittlung von Wissen große Bedeutung zu.

Mythen und Lebensbewältigung

Das Erzählen von Geschichten kann also viele Aufgaben erfüllen. Es kann unterhalten, Denkprozesse anstoßen, Wissen weitergeben, Lebenserfahrung vermitteln, Problemlösungen aufzeigen, das Repertoire an Verhaltensweisen erweitern und Verhaltensänderung anregen. Es kann Rollen, Normen und Werte vermitteln, Hoffnung stiften und Sinn geben. Das alles sind keine neuen Erkenntnisse. Schon Platon (428-348 v.Chr.) empfahl den künftigen Bürgern seines Idealstaates, ihre Erziehung mit der Erzählung von Mythen und nicht mit bloßen Tatsachen oder sogenannten rationalen Lehren zu beginnen, weil dies mehr als alles andere zur Persönlichkeitsentwicklung beitrage. Und selbst Aristoteles (384-322 v.Chr.), der Meister der reinen Vernunft, war der Meinung, dass der Freund der Weisheit auch ein Freund des Mythos, ein Freund der Geschichten sein müsse. Es waren dann die Urväter der Tiefenpsychologie, Sigmund Freud (1856-1939) und Carl Gustav Jung (1857-1961), die über ihre Beschäftigung mit den Träumen und deren Sinn auch zu einer Auseinandersetzung mit den Märchen und Mythen kamen. In den Bildern der Träume wie in den Bildern der Märchen und Mythen sahen sie die Sprache des Unbewussten am Werk. Ein Mythos sei sozusagen ein öffentlicher Traum, während der Traum einen privaten Mythos bilde. Denn im Traum werden jede Nacht aktuelle Ereignisse des Tages mit anderen Erfahrungen der persönlichen Lebensgeschichte verknüpft, in symbolische Bilder und Bildfolgen umgesetzt und auf diese Weise verarbeitet und zu abrufbaren Erfahrungen verdichtet. Im Mythos dagegen werden kollektive Erfahrungen, d.h. die Erlebnisse einer größeren Menschengruppe mit zentralen Themen des Lebens verarbeitet und zu komplexen, symbolträchtigen Geschichten ausgestaltet. Freud und Jung sahen in der Symbolisierungsfähigkeit die ausschlaggebende Möglichkeit des Menschen überhaupt, seine Erfahrungen in und mit der Welt innerseelisch zu registrieren, zu ordnen, zu verarbeiten und für das weitere Leben verwertbar zu machen. Insofern sind Träume, Mythen und Märchen "geronnene Erfahrungen". Während der Traum Auskunft gibt über ganz persönliche Konflikte, Themen und Erfahrungen, geben Mythos und Märchen Auskunft über eine Seite unseres Wesens, die nicht persönlich ist, sondern allgemein menschlich und sich in den Mythen der klassischen Hochkulturen Ägypten, Griechenland und Rom genauso widerspiegelt wie in den Erzählungen der Ritter der Tafelrunde, den indianischen Geschichten, den religiösen Vorstellungen der asiatischen Kulturen und auch in den Erzählungen unserer jüdisch-christlichen Bibel. Denn egal zu welcher Zeit oder an welchem Ort wir leben, wir alle durchleben die gleichen Lebensthemen: Geburt, Kindheit und Abhängigkeit, Geschlechtsreife, den Übergang aus der Kindheit in die Verantwortlichkeit des Mann- oder Frauseins, Partnerschaft, Erfahrungen von Grenzen wie Leid, Krankheit und Unglück, den Verfall des Körpers, die allmähliche Einbuße seiner Kräfte und den Tod. Darum sprechen wir alle auf die gleichen Bilder an, die von den mit diesen Lebensthemen verbundenen Aufgaben und möglichen Lösungen erzählen. Und egal zu welcher Zeit oder an welchem Ort wir leben, wir alle müssen einen konstruktiven Umgang mit diesen Lern- und Entwicklungsaufgaben finden und können dabei auf die Erfahrungen zurückgreifen, die in den Geschichten weitervermittelt werden. Denn es sind Geschichten über das Leben und Geschichten zum Leben - Geschichten, die im eigenen Leben neu aufgeführt werden wollen.

Gerade da, wo es um uns selbst geht, um unser Dasein in der Welt, um die Bewältigung unseres Lebens und die Suche nach Sinn brauchen wir eine Sprache, die Gefühle transportieren und auslösen kann. Ein Roman, ein Film, ein Schauspiel kann uns viel mehr in Bann ziehen, viel tiefer anrühren und viel nachhaltigere Prozesse in uns auslösen als ein Appell oder eine wissenschaftliche Information es je vermögen. Denn ihre Bilder erreichen eine Ebene im Menschen, auf der er über den Verstand nicht getroffen werden kann; eine Ebene, auf der es ihn unbedingt angeht. Darum haben alle Völker Mythen entwickelt, bildhafte Geschichten von Göttern, Helden und deren Abenteuern, in denen sie ihre Werte und Lebenserfahrungen verdichtet haben, um sie von Generation zu Generation weiterzugeben und dem einzelnen zur Verfügung zu stellen. Es sind Geschichten zum Leben, die Auskunft über das Leben geben und im persönlichen Leben umgesetzt werden wollen. Je wesentlicher ihr Thema, desto universeller ist die Bedeutung eines Mythos. C.G. Jung spricht von „Archetypen“, Urbildern, die in der Seele grundgelegt sind und von ihr erkannt und verstanden werden. "Bei der Entwicklung eines Verständnisses für Mythos und Mythologie muss man begreifen, dass der Mensch in sich Bilder trägt, Vorstellungen, die ihm ganz tief eingegraben sind und die er gar nicht in sein Bewusstsein zu bekommen braucht, die er aber dann, wenn sie ihm begegnen, als irgendwie zu ihm gehörig erlebt und darauf anspricht. Es entsteht die Empfindung einer Entsprechung zwischen dem auftretenden Bild und dem Inneren des menschlichen Wesens."1 Das sind die Geschichten, die uns in einer eigenartigen Weise berühren und in eine heilsame Unruhe versetzen, so wie der Märchenheld eines Tages Kunde von einer gefangenen Prinzessin in einem fernen Land erhält und keine Ruhe mehr findet, ehe er nicht sein Leben daran gewagt hätte, diese Prinzessin zu suchen und zu erlösen.

Mythen als Spiegel und Wegweiser

Wenn einem mythologische Geschichten und Bilder vertraut sind, dann bieten sie sich an, eigene Lebenssituationen aus ihrer Perspektive betrachten. Sie stellen eine Art Schema zur Verfügung, um das Aktuelle zu deuten und in seiner Bedeutung zu erkennen und einzuordnen. Mir persönlich ist das zunächst einmal in einer psychotherapeutischen Arbeit aufgefallen Als ich wieder einmal in einer Therapie den Widerstand einer Patientin erlebte und deren Klagen und Vorwürfe hörte ("warum habe ich das Ganze überhaupt angefangen, ging es mir vorher nicht viel besser?; ich habe keine Lust mehr, lassen Sie mich in Ruhe!"), da dachte ich mir: jetzt ergeht es Dir genau wie Mose in der Wüste - erst soll er das Volk in die Freiheit führen und dann wird er genau deswegen angegriffen. Ich habe daraufhin der Patientin die entsprechende Passage (Exodus 16,1-3) erzählt:

1 Sie brachen von Elim auf, und die ganze Gemeinde der Israeliten kam am fünfzehnten Tag des zweiten Monats nach ihrem Auszug aus Ägypten in die Wüste Sin, die zwischen Elim und Sinai liegt. 2 Da murrte die ganze Gemeinde der Israeliten gegen Mose und Aaron in der Wüste. 3 Die Israeliten sagten zu ihnen: "Wären wir doch durch die Hand Jahwes in Ägypten gestorben, als wir noch vor Fleischtöpfen saßen und uns satt aßen am Brot. Doch ihr habt uns in diese Wüste geführt, um diese ganze Gemeinde vor Hunger sterben zu lassen.

Diese Geschichte wurde für uns beide zu einem Schlüssel, das gegenwärtige Stadium zu verstehen, besser als eine theoretische Information über Widerstandsäußerungen und -bearbeitungen es je vermocht hätten. Aber mehr noch: die Geschichte löste eine Reihe von Träumen aus und offenbarte so eine ganz eigene Dynamik und Wirkung, die die Patientin in ihrem Prozeß weiterbrachte. Noch oft habe ich im Verlauf von Therapien auf Entsprechungen zu Stationen der Exoduserzählung verweisen können. Ich habe diese Erfahrungen an anderer Stelle ausführlich beschrieben.2 Das war für mich der Anfang, mich in einer neuen Weise um das Verständnis von Mythen und damit auch der biblischen Geschichten zu bemühen.

Mythen verstehe ich seitdem als Spiegelungen innerer Prozesse und Dynamiken. Es sind Geschichten unserer ewigen Suche nach uns selbst, nach Sinn und Wahrheit, Schlüssel zu unseren tieferen Entwicklungsmöglichkeiten. Indem wir uns in ihre Bilder versenken, rufen wir ihre Kräfte in unserem Leben wach. Schon die alten Griechen sahen im Theater, in der Aufführung der Mythen, wesentlich eine therapeutische Funktion, eine Reinigung des Gemütes durch Mitvollzug des Geschehens auf der Bühne. Wenn wir in mythologischen Geschichten den Abenteuerweg des Helden, sein Ringen und Scheitern, sein Wachsen und Reifen, seine Ruhe- und Heimatlosigkeit und sein Ankommen mitvollziehen können, erleben wir auf einer zum Teil unbewußten Ebene Entsprechungen zu unserem eigenen Leben. Mythen bringen die eigene Lebensführung in Einklang mit der Weisung der Natur, der Weisung unseres Selbst.

Der große amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell ist der Überzeugung, daß Mythen vor allem eine mystische und eine pädagogische Aufgabe erfüllen. Zum einen vermitteln Mythen das Erlebnis, dass die ganze Welt, man selbst, das Leben ein Wunder ist, und sie wecken Ehrfurcht vor diesem Geheimnis. Zum anderen zeigen sie auf, wie man unter allen Umständen ein menschliches Leben führen kann. Beide Funktionen sind auch heute von großer Bedeutung. Denn angesichts einer geradezu kolonialistischen Weise der Aneignung und Unterwerfung der Natur können Mythen und ein mythologisches Bewußtsein eine neue Ehrfurcht vor dem vermitteln, was uns umgibt und begegnet. Und angesichts einer Nüchternheit, die oft der Erfahrung von Sinnlosigkeit nahekommt, können sie auch eine neue Ehrfurcht vor uns selbst und dem vermitteln, was sich im eigenen Leben und im Leben anderer tut. "Man erlebt, wie geschwisterlich man den Menschen verbunden ist, da diese Bilder auf jeden Menschen passen. Man entdeckt, wie man im Wesentlichsten der Erlebnisse mit allen eins ist."3 Schließlich knüpfen die Mythen mit ihren Bildern an unserem zentralsten Wunsch an: dem Wunsch, glücklich zu werden. Dabei sind sie grundehrlich. Denn es gibt keinen Mythos, der sagt, man könne leben ohne zu leiden. Aber sie teilen uns mit, wie man mit Leiden umgeht, es begreift und verwertet. Sie wissen und verschweigen nicht, dass es eines Todes und einer Auferstehung bedarf, um aus seelischer Unreife zum Mut des Selbstseins und der Selbstverantwortung zu erwachsen. Die Wiedergeburt, die Wandlung zu einer neuen Weise des Seins, die Reifung zum Selbstsein ist ihr eigentlicher Inhalt und ihr eigentliches Anliegen. Die Mythen der Völker sind in Bilder gefasste Grundthemen des Lebens, die in symbolischer Weise Aufschluß darüber geben, wie ein Mensch zu sich selbst finden kann, bzw. was ihn daran hindert, er selbst zu sein.

Das gilt auch für die biblischen Erzählungen. Wer sie wörtlich nimmt, gerät in große Schwierigkeiten, denn sie widersprechen einander, widersprechen historischen Gegebenheiten und widersprechen unbestreitbaren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Da bleibt dann nur, diese Widersprüche zu ignorieren und sich trotzdem eine Art Historie des jüdischen Volkes und des Lebens Jesu daraus zu formen. Oder aber sie auf moralische Lehren zu reduzieren. Oder aber sie ins Reich der Märchen zu verweisen. Womit wir genau auf der richtigen Spur wären. Denn auch sie sind Mythen, Geschichten voller Symbole, erzählt in der Bildersprache des Unbewussten. Auch sie sind Geschichten zum Leben, die Aufschluss darüber geben, was ein Mensch lernen und entwickeln muss, um sich selbst zu erschaffen und die Voraussetzungen für ein Leben zu schaffen, in dem er selbst und andere glücklich werden können. Sie sprechen von psychodynamischen Prozessen, die sich in uns oder zwischen uns und anderen abspielen. Und sie sprechen von spirituellen Prozessen, die in Gang kommen, wenn göttlich-geistige Welt und irdisch-menschliche Welt in Kontakt kommen. Insofern ist die Bibel unser abendländisches Weisheitsbuch geworden, das ebenfalls von der Heldenreise, den archetypischen Aufgaben und Erfahrungen auf dem Weg zu uns selbst erzählt. Ich verwende diese Geschichten deshalb, weil sie Vielen noch vertraut sind, weil sie sehr genau über psychodynamische Prozesse informieren und weil es spannend ist, sich – befreit von kirchlichem Ballast – auf ihre Wirkungen einzulassen.

2.

Der Weg des Helden

Das Schema des Heldenweges

Der Heldenmythos ist der am weitesten verbreitete Mythos der Welt. In den Details der Geschichten kommt es zwar zu großen Unterschieden, aber sie folgen alle einem universellen Muster. Dieses Muster entspricht in seiner Grundstruktur den Durchgangsriten der alten Kulturen mit ihren drei Stadien der Trennung, der Initiation und der Wiedereingliederung. Diese Rituale heißen deshalb "Durchgangsriten" weil sie an entscheidenden Übergängen im Leben der einzelnen und ganzer Gesellschaften durchgeführt wurden. Solche Übergänge waren z.B. der Eintritt in das Erwachsenenalter oder die feierliche Aufnahme in eine religiöse Gemeinschaft, aber auch Ereignisse wie schwere Krankheiten oder das Überschreiten geographischer Grenzlinien; kurzum: alles, was in einem äußeren oder inneren Sinn als Orts-, Zustands-, Seins- oder Identitätsveränderung empfunden wurde. Im Stadium der Trennung wurden heranwachsende Jungen z.B. überfallartig von ihren Müttern getrennt und verschleppt. Durch diese plötzliche und radikale Absonderung wurde der Bruch mit der bisherigen Daseinsweise herbeigeführt. Im Stadium der Initiation traten die Aspiranten nach einer Zeit des verstandesmäßigen Lernens in einen Erfahrungsprozess, in dessen Zentrum eine zwar symbolische aber höchst wirksame Begegnung mit dem Tod stand, die über das Erleben den persönlichen Veränderungsprozess einleitete und unterstützte. Im Stadium der Wiedereingliederung wurde der einzelne neu in die Gemeinschaft integriert, aber er war jetzt nicht mehr der gleiche wie vorher, sondern im Besitz neuer Erfahrungen, Begriffe und Weltanschauungen und damit auch im Besitz neuer Verantwortung, neuer Identität und eines neuen Ranges. So verhalfen diese Rituale als eine Art Erfahrungstraining, Entwicklung als Sterben und Neugeborenwerden erlebbar zu machen und die dazu notwendigen Prozesse zu durchlaufen. Das Ritual kann so als dramatische Aufführung des Mythos verstanden werden und der Mythos umgekehrt als erzählerisch bildhafte Darstellung des Rituals. Beide sind Ergebnis der Symbolisierung zentraler Lebenserfahrungen.

Dieses Strukturmuster von Trennung, Einweihung und Rückkehr ist uns einerseits als Grundschema vieler Märchen vertraut. Es beginnt in der Regel damit, dass ein König krank wird oder in große Not gerät, oft durch eigenes Verschulden. Er schickt dann in seiner Bedrängnis seine drei Söhne aus, das Heilmittel zu suchen oder die ihm gestellte Aufgabe zu lösen, wobei die beiden älteren Söhne regelmäßig an dieser Aufgabe scheitern, während der jüngste Sohn, dem der Vater es gar nicht zutraut, die Suche erfolgreich bewältigt. Auf seinem Abenteuerweg gerät dieser jüngste Sohn in ein magisches Reich oder einen magischen Wald, wo ihm Tiere, Zwerge und Geister zu Hilfe kommen. Mitten in diesem magischen Gebiet trifft er auf einen Unhold, den er entweder mit Hilfe von dessen Mutter überlistet oder aber im Kampf überwältigt. Dadurch kann er ihn als einen wichtigen Verbündeten gewinnen oder ihm ein wichtiges Hilfsmittel abnehmen. Auf dem weiteren Weg kommt es noch zu vielen anderen Abenteuern, durch deren Bewältigung es jedesmal Schätze oder wichtige Hinweise zu gewinnen gibt. Schließlich gelangt der Held an den Ort der verwunschenen oder gefangen gehaltenen Jungfrau, die er aus der Gewalt der Wächter oder des Wächterdrachens befreit und als Braut heimführt. Meist sind auf dem Rückweg noch weitere Abenteuer zu bestehen. Oft ist der glückliche Ausgang kurz vor dem Ende noch einmal durch Intrigen der älteren Brüder, falsche Ratgeber oder eigene hochmütige Ignorierung wohlgemeinter Hinweise gefährdet, ehe der Held schließlich, wie durch ein Wunder gerettet, die Hochzeit feiern und den alten König ablösen kann.

Nach einem ähnlichen Muster verlaufen auch die Heldenmythen, wie wir sie z.B. aus den griechischen und römischen Sagen des klassischen Altertums kennen. Die Geburt des Helden erfolgt unterwegs in großer Armseligkeit und meist unter wunderlichen Umständen. Sein Überleben ist von Anfang an durch Widersacher oder böse Mächte gefährdet, so dass er zunächst ins Exil muß. Bereits früh sind Anzeichen seiner besonderen Begabung erkennbar. Eines Tages erlebt er dann seine Berufung und muß aufbrechen. Folgt er diesem Ruf, dann erhält er bald Hilfe durch übernatürliche schützende Gestalten, die ihn für seinen bevorstehenden Kampf ausrüsten. Auch für ihn beginnt damit ein Abenteuerweg, auf dem er viele Prüfungen zu bestehen und vieles zu lernen hat. Wenn er die Welt in ihren bekannten Dimensionen ausgeschritten hat, überschreitet er schließlich die Schwelle zu einer Zone besonderer Magie und Bedeutung, wo er entweder die Hochzeit mit der Mutter/Braut feiert oder die Bestätigung durch den Vater stattfindet. Im Kampf gegen die Mächte des Bösen gelingt es ihm so gestärkt, diesen eine wertvolle Erkenntnis oder ein wichtiges Heilmittel abzugewinnen. Auf seinem Rückweg muß er ebenfalls weitere Prüfungen bestehen. Oft ist auch hier der glückliche Ausgang durch Verrat aus der nächsten Umgebung des Helden oder durch dessen Anfälligkeit für die Sünde des Stolzes gefährdet. Oft endet der Mythos auch mit dem Tod des Helden, einem selbstlosen Opfer zum Wohl der Gemeinschaft. "Bezeichnenderweise ist der Triumph des Märchenhelden ein häuslicher, mikrokosmischer, während der des Mythenhelden ein weltgeschichtlicher, makrokosmischer ist. Während jener ... über seine persönlichen Bedrücker triumphiert, bringt dieser von seinem Abenteuer die Mittel zurück, die seine Gesellschaft im Ganzen regenerieren."4

Wer erkennt in dieser Grundstruktur nicht auch den Weg des Helden Jesus von Nazareth? Denn auch in seiner Geschichte hören wir von einer wundersam jungfräulichen Geburt in großer Armut. Auch er soll getötet werden und muss deshalb ins Exil nach Ägypten. Auch er fällt früh durch seine große Begabung auf, die er bereits als 12jähriger in der Diskussion mit Schriftgelehrten überlegen beweist. Sein Berufungserlebnis findet am Jordan bei der Taufe durch Johannes statt. Anschließend beginnt auch er einen dreijährigen Weg mit Prüfungen und Aufgaben, der dann durch Verrat und ein heldenhaftes Lebensopfer am Kreuz beendet wird. Schließlich hören wir von seinem siegreichen Kampf mit dem Drachen des Todes, dem er das Leben für alle abringt, ehe er endgültig an den "Hof" des Vaters zurückkehrt.

Mehr als bürgerliche Helden

Um das richtig zu verstehen, müssen wir sicherlich Abschied nehmen von gängigen Heldenklischees. Denn der Begriff des Helden ist vorbelastet durch so manches "Heldengedenken", das den Helden mit dem Krieger identifiziert und die mörderische Realität jeder Kriegsführung verklären will. Aber auch die Helden so mancher Romane, die Helden der Comicstrips und Fernsehserien haben diesen Begriff belastet. Von Karl Mays Old Shatterhand angefangen über den Herrn der Ringe, Superman und den anderen Rächern und Rettern bis hin zu den „Helden“ der Wirtschaft verkörpern diese "bürgerliche Helden" den Wunsch, großartig, mächtig und unverletzlich zu sein, wobei eben der Wunsch der Vater des Gedankens ist. An der Wurzel ihrer Gestalt steht der Narzissmus, eine krankhafte Selbstbezogenheit infolge fundamentaler Kränkungen und Entwertungen des Selbstwertgefühls in frühester Kindheit. Aber die Bilder dieser Geschichten helfen nicht, diese Kränkung zu verwinden und sich dem Leben zu stellen, sie verführen im Gegenteil dazu, sich diesem Leben zu verweigern und in eine Wunschwelt zu flüchten. Wolfgang Schmidbauer schreibt dazu: "Die Beschäftigung mit den Heldengeschichten ist auch eine Begegnung mit den inneren und äußeren Bildern der Jugend. Für mich gab es damals zwei Welten (und was ich von meinen Kindern erfahre, spricht dafür, dass es ihnen nicht viel anders geht). Die eine war mein Alltag - unbedeutend, abhängig von den Erwachsenen, oft ohnmächtig, mit heftigen Schwankungen des Selbstgefühls. Doch gab es auch eine andere Welt. In ihr suchten Männer ihren Weg durch große Gefahren, in der Wüste, im Eismeer, in den Bergen oder im Dschungel. Diese Helden waren mir verwandt und waren doch mein Gegenteil: Während mein innerer Zustand sehr labil war, meine äußeren Lebensumstände aber durch die Zwänge des Gymnasiums fest und für die unendlich lange Zeitspanne bis zum Abitur klar vorgezeichnet, verhielt es sich bei den Helden umgekehrt. Ihr innerer Zustand schwankte nicht, ihr Mut und Selbstvertrauen blieben unerschütterlich, während sie von äußeren Veränderungen und Bedrohungen in rascher Folge heimgesucht wurden. Der Held ist periodisch in Gefahr, zu erliegen, doch gelingt es ihm immer wieder, alle Gegner und Gewalten zu bezwingen."5 Wie schön, wenn einem solche Heldengeschichten zeitweilig wie beispielsweise in den Umbrüchen der Pubertät das bedrohte Selbstwertgefühl stützen. Aber wenn die Identifizierung mit diesen Gestalten in einer bleibenden Weise die Entwicklung einer eigenen Identität ersetzt, dann wird es nicht nur problematisch für den Betroffenen, sondern auch gefährlich für die Gemeinschaft. Denn dann kommt es zum faschistischen Lebensentwurf, zur grandiosen Selbstüberschätzung und zur Aufteilung der Welt in Gut und Böse.

"Will man auch nur etwas vom Mythos und vom Heros und vom Mythos des Heros begreifen, so muss man sich auf etwas ganz anderes einstellen als das, woran man sich gewöhnt hat. Der Heros ist immer ein Wanderer. ... Das Unbestimmte ebensowohl wie das Unbestimmbare gehört zum Wesen des Heros."6 Die Lebensbilder der mythologischen Helden zeigen, dass sie Kräften und Ereignissen ausgesetzt werden, die der durchschnittliche Bürger niemals durchleben möchte. Was ihr Leben kennzeichnet, ist nicht das aufgeblasene grandiose Selbstgefühl und die unzerstörbare Allmacht der bürgerlichen Helden, sondern der Gehorsam. Er erweist sich im Befolgen der Berufung und im Hören auf die Hinweise und Lehren sowie in der Offenheit für die anstehenden Aufgaben. Der Mythos vom Heldenweg deutet den Sinn des menschlichen Lebens als ein lebenslanges Lernen, Wachsen und Reifen. Sein Leben aus dem Blickwinkel des Heldenmythos zu begreifen heißt darum, sich in jeder Phase und in jedem Ereignis des Lebens zu fragen: was will es mich lehren, was kann und was soll ich dadurch entwickeln?

Der Atem kann einem stocken, wenn man der ungeheuren Chance aber auch der erheblichen Zumutung nachspürt, die in dieser Fragestellung enthalten ist. Denn sie lädt ein, in die Auseinandersetzung mit jeder Station und mit jedem Ereignis des Lebens zu treten, um durch diesen "Kampf" etwas zu gewinnen: eine Erfahrung, einen Zuwachs an Reife und Erkenntnis, ein Mehr an Identität und Beziehungsfähigkeit. Aber sie verlangt auch die Bejahung der auf einen zukommenden Ereignisse und das Ja zu den Mühen des Weges und der Auseinandersetzung - eben das Ja zur Berufung und zum Aufbruch. Diesem Ja entspricht die Bereitschaft, für sein eigenes Wohl und Sein Verantwortung zu übernehmen. Ich kenne genügend Menschen, die auch in fortgeschrittenem Alter noch die Defizite ihrer Kindheit beklagen, von den Eltern Entschädigung erwarten oder erwarten, dass Partner, Kinder, Arbeitgeber und/oder Staat die Verantwortung übernehmen, sie glücklich zu machen. Doch zum Erwachsenwerden gehört es, diese Verantwortung selbst zu übernehmen. Niemand ist für mein Glück verantwortlich – nur ich allein! Darum gehört zu dem Ja des Helden zu seiner Berufung auch die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten. Wer ehrlich auf sich schaut, wird viel Gutes an Eigenschaften und Fähigkeiten entdecken, das sich lohnt, beibehalten und ausgebaut zu werden. Er wird aber auch Eigenschaften und Haltungen wahrnehmen, die er besser zurückfahren und verändern würde. Und er wird um Eigenschaften, Haltungen und Fähigkeiten wissen, die er einfach zusätzlich entwickeln müsste. Kurzum: wir sind uns selbst Gabe und Aufgabe, Material, mit dem wir etwas anfangen können und sollen. Dann geht es nicht mehr nur um die Frage, wohin sich die Karriere entwickeln soll, sondern vor allem um die Frage, wohin ich mich als Mensch entwickeln will.

Der Mythos vom Heldenweg beschreibt also unsere Ich-Werdung, die er als Weg, als Prozess (das lateinische Wort "procedere" heißt "voranschreiten") deutet. Der Weg des Helden im Mythos mit seinen Aufgaben und Abenteuern ist ein Leitfaden für den eigenen Weg, auf dem wir demnach nicht alleine sind. In einer mythologischen Gestalt können wir vielmehr etwas von dem verkörpert sehen, was in jedem Menschen vorhanden ist und zum Menschsein schlechthin gehört. So hat der Philosoph Josef Pieper einmal geschrieben, dass kaum eine Aussage möglich sei, die tiefer in die innere Zone unserer Existenz eindränge als die, dass der Mensch bis zu seinem Tode in statu viatoris, im Zustand des Auf-dem-Wege-Seins ist. Der Lebensweg, der äußere wie innere Entwicklungen unserer persönlichen Geschichte umfasst, wird zum Inbegriff des Lebens überhaupt, dem ein ganz tiefer Impuls und eine ganz natürliche Bereitschaft zu eigen ist, sich zu entwickeln. "Das Bedürfnis zur Reise ist dem Menschen eingeboren. Wenn wir nichts riskieren und vorgeschriebene soziale Rollen spielen, statt unsere Reise in Angriff zu nehmen, fühlen wir uns erstarrt, entfremdet, innerlich leer."7

Ich finde es bei solchen Überlegungen immer wieder spannend, wie sehr äußeres und inneres Geschehen einander entsprechen. So ist mir schon oft ein deutlicher Unterschied zwischen solchen Menschen aufgefallen, die sich in ihrem Leben noch nie richtig von der Heimatscholle entfernt hatten, und solchen, die schon einmal oder mehrfach umgezogen waren. Die äußere Bewegung korrespondierte erkennbar mit einer inneren Beweglichkeit, während die Immobilität auch eine Stagnation des Denkens und Verhaltens bewirkte. Die Beweglichkeit, die darin besteht, neue Informationen aufnehmen und verarbeiten zu können, ist Grundlage der menschheitlichen und individuellen Entwicklung. "Es gibt eine Freude am Wachsen, Werden und Reifen; wer diese Freude nicht kennt, dem hat das Leben eine seiner beglückendsten Erfahrungen vorenthalten."8 Ich selbst habe es in meiner eigenen mit der Ausbildung verbundenen Analyse als einen entscheidenden Durchbruch empfunden, als nicht mehr die Angst vor der Selbstbegegnung, die Angst vor Abgründen, Schatten und Schmerzen im Vordergrund stand, sondern die Neugier an der Entdeckung, die Freude an der Klärung und die Lust am Vorankommen. Heldentum im mythologischen Sinne ist darum die Bereitschaft, für sich, sein Wohl, Sein und Werden Verantwortung zu übernehmen und die Offenheit für die Lektionen des Lebens.

Archetypen als Entwicklungsthemen

Der Weg des Helden, der Prozess unserer Selbstwerdung, lässt sich also entsprechend dem Grundmuster der Märchen und Mythen in typischen Stationen beschreiben. Es gibt aber auch noch eine andere Möglichkeit. Denn der Heldenweg lässt sich auch als Begegnung mit typischen Lebensthemen und der schrittweisen Aneignung archetypischer Lebensrollen beschreiben. Wie Mosaiksteine sind sie zu entdecken, zu reinigen und zu bearbeiten, ehe sie zum Ganzen unserer Identität zusammengefügt und integriert werden können. Die amerikanische Autorin Carol S. Pearson beschreibt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Weg des Helden in Mythen und Märchen, wie die menschliche Entwicklung in voraussehbaren Phasen verläuft, die von ganz bestimmten Archetypen geprägt werden.9 Als solche archetypische Rollen nennt sie den "Verwaisten", den "Wanderer", den "Krieger", den "Märtyrer" und den "Magier". Jeder dieser Archetypen hat seine ihm eigene Sicht der Welt und damit auch je andere Lebensziele und Vorstellungen davon, was das Leben sinnvoll macht. Jeder Archetyp symbolisiert dementsprechend eine eigene Lernaufgabe, einen bestimmten Aspekt der Persönlichkeit und Lebenserfahrung, der entwickelt und integriert werden muß. "Der Verwaiste wird mit der Realität des Falls konfrontiert. Die nächsten Phasen stellen Strategien dar, um in einer Welt nach dem Fall zu leben: Der Wanderer lernt, von anderen unabhängig zu sein und sich selbst zu finden; der Krieger lernt zu kämpfen, um sich zu verteidigen und die Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern; der Märtyrer lernt zu geben, sich hinzugeben und sich für andere zu opfern. Die Abfolge verläuft also vom Leid zur Bestimmung des eigenen Standpunkts über den Kampf zur Liebe. ...Nachdem er seine Umgebung durch Disziplin, Wille und Kampf verändert hat, lernt der Magier, mit der Energie des Universums zu fließen und das, was er braucht, durch die Gesetze der Synchronizität anzuziehen."10 Diese Darstellung hat mich sehr angesprochen, weil ich sofort viele Entsprechungen zu meinem eigenen Leben, zu mythologischen Bildern und zu biblischen Bildern empfunden habe. Ich möchte deshalb im Folgenden diese Archetypen zur Grundlage nehmen, um dem Heldenweg in den Bildern der Bibel nachzuspüren.

Archetypen - ein Begriff aus der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jung's - sind Symbole für zeitlos gültige und auf alle Menschen zutreffende Grundwahrheiten unseres Lebens, die sich kulturübergreifend in ähnlichen Bildern ausdrücken. Vor allem sind es Bilder mit Emotionen. Erst wenn beides - Bild und Emotion - zusammenkommt, können wir von Archetypen sprechen. "Die spezifische Energie der Archetypen kann man wahrnehmen, wenn man die besondere Faszination erlebt, die sie begleitet. Archetypen scheinen einen besonderen Zauber auszuüben." meint C.G.Jung11 Solche Bilder sind voller psychischer Energie und besitzen eine Dynamik, die sich zwangsläufig auf die Menschen auswirkt. Über die Archetypen erhält der einzelne Anschluss an die Lebenserfahrung der Menschheit. Der Held selbst ist ein solcher Archetyp und die vorgenannten fünf Archetypen sind Teilaspekte der von ihm repräsentierten Lebensaufgabe.

Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg durch die in diesen Archetypen symbolisierten Haltungen und Lernaufgaben. Doch lassen sich auch typische Wege nachzeichnen. Der männliche Weg in unserer westlichen Gesellschaft sieht nämlich in der Regel so aus, dass er sein Verwaistsein als Krieger zu überwinden hofft, ehe irgendeine Erfahrung (die Midlife-Crisis z.B.) ihn dazu zwingt, zum Wanderer zu werden und über den Märtyrer zum Magier zu finden. Frauen dagegen werden eher dazu angehalten, ihr Verwaistsein durch die Selbstlosigkeit des Märtyrers zu kompensieren, ehe auch sie ein Ereignis (eine Ehekrise z.B.) zum Wanderer macht und sie als Krieger lernen, für sich und ihre Bedürfnisse zu kämpfen, und so zum Magier finden. Aber es ist nicht so, als ob dies ein geradliniger Weg sei. Wir bewegen uns vielmehr auf einer Spirale, die uns immer wieder mit diesen Archetypen in Kontakt bringt, mal auf einer tieferen Ebene, mal näher an der Oberfläche, mal näher am Zentrum, mal weiter am Rande. Jede Begegnung hat ihre eigene Qualität und bietet jeweils eine andere Chance, zu lernen. Wer von einem Archetyp zum ersten mal bestimmt wird, hält im Augenblick dessen Anschauung der Welt und dessen Lebensaufgabe für das einzig Wahre und alles andere für falsch. Wer aber erneut mit ihm in Berührung kommt, verliert von dieser Ausschließlichkeit und gewinnt an Erlebnis-, Denk- und Verhaltensspielraum. Jede weitere Begegnung ist eine Chance, auf einer tieferen Verständnisebene zu lernen, und jede dieser Lektionen nehmen wir in die nächste Phase mit. So hat jeder Archetyp mehrere Stufen und Aspekte. In jeder Begegnung mit ihm geht es darum, vollständiger und ganzer zu werden, und nicht darum, auf einer Leistungsskala höher zu klettern.

Wer zum erstenmal mit dem Verwaisten in sich in Kontakt kommt, wird wahrscheinlich dazu neigen, die damit verbundene Verzweiflung zu verleugnen und zu überspielen. In einer weiteren Begegnung wird er sie dann empfinden und sowohl den Schmerz wie die Wut in Klagen äußern müssen. Eine weitere Begegnung wird ihn lehren, das Verwaistsein zu akzeptieren und nach Hilfe zu suchen. So kann durch jede Konfrontation mit diesem Archetyp schließlich Vertrauen wachsen.

Wer mit dem Wanderer in sich Kontakt bekommt, wird anfangs Entfremdung und Isolation empfinden. Eine weitere Begegnung kann vielleicht die Entscheidung fördern, sich auf die Suchwanderung zu begeben, eine andere helfen, Identität und Verbundenheit zu entdecken. So kann ein Mensch durch jede Konfrontation mit dem Archetyp des Wanderers mehr Klarheit hinsichtlich der persönlichen Lebenswahrheit finden und leben.

Wer zum ersten mal mit dem Krieger in sich in Berührung kommt, wird unter Umständen wild um sich schlagen und in der Ausübung von Macht der Verzweiflung Herr werden wollen. Durch weitere Begegnungen wird er lernen können, für sich und andere und für Überzeugungen einzutreten. Jede Lektion wird ihm helfen, sich selbst in Respekt vor dem Gegner und dessen Bedürfnissen zu behaupten und innerlich zu erstarken.

Wer es mit dem Märtyrer in sich zu tun bekommt, mag anfangs zur Selbstlosigkeit neigen, um anderen zu gefallen und eventuelle Feinde zu beschwichtigen. In weiteren Begegnungen wird er anderen helfen wollen und lernen, zwischen Selbstverstümmelung und verwandelnden Opfern zu unterscheiden. So kann er in der Auseinandersetzung mit diesem Archetyp das echte und freie Geben lernen und, sich in der Liebe selbst zu geben.

Die Begegnung mit dem Magier wird einen zuerst mit dem eigenen Schatten konfrontieren. In weiteren Begegnungen kann er uns lehren, uns selbst und die ganze Welt zu bejahen bis wir in der Entdeckung des Reichtums des Universums die Freude lernen. Gerade von den vielen Begegnungen mit diesen Archetypen in uns gilt, daß jede Begegnung ein Geschenk für uns bereithält und uns Wesentliches über unser Menschsein lehren will.

Dem Mythos vom Heldenweg ist dabei ein großer Realismus zu eigen. Denn er verschweigt nicht die Mühen und Beschwerlichkeiten des Weges, ja nicht einmal die Gefährdungen des Ziels. Aber er macht auch Mut, sich auf diesen Weg zu begeben, um das Reich zu retten. "Das glückliche Ende des Märchens, des Mythos ... ist nicht als Widerspruch zur universalen Tragödie des Menschen zu verstehen, sondern als deren Überwindung zu deuten. Die objektive Welt bleibt, was sie war, sie wird aber, durch eine Akzentverschiebung im Subjekt, wahrgenommen, als ob sie verwandelt sei."12 Letztlich spricht der Mythos davon, daß die Selbstveränderung der Schlüssel zur Weltveränderung ist. Das bedeutet weder, dass in der mythologischen Sicht die Realität dieser Welt nicht mehr zur Kenntnis genommen wird, noch dass Selbstwerdung im Sinne des Mythos zum Rückzug aus der Welt führt. Vielmehr ist dies Ausdruck der Erfahrung, daß sich die persönliche Selbstveränderung sowohl auf die Wahrnehmung der Welt wie auf das eigene Verhaltensspektrum auswirkt. Jeder kennt die Erfahrung, dass sich Ereignisse und Gegebenheiten mit Abstand anders darstellen und ein angemesseneres Verhalten ermöglichen als in der unmittelbaren Situation selbst. Der Heldenweg ermöglicht diesen Abstand.

Übersicht Archetypen13

Verwaister

Ziel: Sicherheit
Größte Angst: Verlassenwerden, Ausbeutung
Reaktion auf den Drachen: Leugnet seine Existenz oder wartet auf Erlösung
Spiritualität: Verlangt nach einer Gottheit, die ihn rettet, und nach einem religiösen Berater
Intellekt/Erziehung: Verlangt nach einer Autorität, die die Antwort gibt
Beziehungen: Möchte jemanden, der für ihn sorgt
Gefühle: Außer Kontrolle oder betäubt
Körperliche Gesundheit: Will schnelle Lösung, sofortige Befriedigung
Arbeit: Möchte ein leichtes Leben, würde eher nicht arbeiten
Materielle Welt: Fühlt sich arm, möchte in der Lotterie gewinnen oder eine Erbschaft machen
Aufgabe/Leistung: Die Leugnung überwinden, Hoffnung, Unschuld

Märtyrer

Ziel: Gut sein, Fürsorglichkeit, Verantwortung
Größte Angst: Egoismus, Gefühllosigkeit
Reaktion auf den Drachen: Beschwichtigt ihn oder opfert sein Selbst, um andere zu retten
Spiritualität: Sucht Gott zu gefallen, indem er leidet; leidet, um anderen zu helfen
Intellekt/Erziehung: Lernt oder verzichtet aufs Lernen, beides, um anderen zu helfen
Beziehungen: Sorgt für andere, opfert sich
Gefühle: Negative werden unterdrückt, um andere nicht zu verletzen
Körperliche Gesundheit: Enthält sich Dinge vor, lebt Diät, leidet, um schön zu sein
Arbeit: Sieht sie als hart und unerfreulich, aber notwendig an; arbeitet zum Wohle anderer
Materielle Welt: Glaubt, dass geben seliger ist als Nehmen und Armsein tugendhafter als Reichsein
Aufgabe/Leistung: Fähigkeit der Fürsorglichkeit, des Auf- und Weggebens

Wanderer

Ziel: Unabhängigkeit, Selbständigkeit
Größte Angst: Konformität
Reaktion auf den Drachen: Flieht
Spiritualität: Sucht alleine nach Gott
Intellekt/Erziehung: Erforscht neue Ideen auf seine Weise
Beziehungen: Geht den Weg allein
Gefühle: Setzt sich alleine mit ihnen auseinander
Körperliche Gesundheit: Mißtraut Experten, kümmert sich alleine darum, alternative Gesundheitsfürsorge
Arbeit: Schlägt sich alleine durch, sucht seine Berufung
Materielle Welt: Wird Selfmade-Mann oder -Frau, kann Geld opfern, um unabhängig zu sein
Aufgabe/Leistung: Selbständigkeit, Identität, Berufung

Krieger

Ziel: Stärke, Effektivität
Größte Angst: Schwäche, Ineffizienz
Reaktion auf den Drachen: Tötet ihn
Spiritualität: Missioniert, bekehrt andere, spirituelle Disziplin
Intellekt/Erziehung: Lernt durch Wettbewerb, Leistung, Motivation
Beziehungen: Ändert oder formt andere, um seinem Selbst zu gefallen, unternimmt „Pygmalion-Projekte“
Gefühle: Kontrolliert, unterdrückt, um ein Ziel zu erreichen oder sich durchzusetzen
Körperliche Gesundheit: Befolgt Diäten, Disziplin, mag Mannschaftssportarten
Arbeit: Arbeitet hart für ein Ziel, erwartet Belohnung
Materielle Welt: Arbeitet hart, um Erfolg zu haben, lässt das System für sich arbeiten, zieht es vor, reich zu sein
Aufgabe/Leistung: Selbstbehauptung, Selbstvertrauen, Mut, Respekt

Magier

Ziel: Authentizität, Ganzheit, Gleichgewicht
Größte Angst: Oberflächlichkeit, Entfremdung vom Selbst, vom anderen
Reaktion auf den Drachen: Integriert und bejaht ihn
Spiritualität: Sieht Gott in jedem, respektiert die verschiedenen Wege, das Heilige zu erfahren
Intellekt/Erziehung: Bejaht Neugierde, lernt in der Gruppe oder allein, weil es Spaß macht
Beziehungen: Schätzt Unterschiedlichkeit, möchte ebenbürtige Beziehungen
Gefühle: Lässts sie bei sich u nd anderen zu, lernt von ihnen
Körperliche Gesundheit: Lässt Gesundheit zu, gönnt seinem Körper Bewegung, gesunde Nahrung
Arbeit: Arbeitet mit seinen wahren Talenten, die Arbeit ist ihre eigene Belohnung
Materielle Welt: Fühlt sich mit wenig oder viel wohlhabend, vertraut, dass er immer das Notwendige haben wird, hortet nicht
Aufgabe/Leistung: Freude, Fülle, Akzeptanz, Glaube

3.

Der Verwaiste

"In den meisten Kulturen und Religionen gibt es Geschichten, die von einer vergangenen Welt erzählen, in der es dem Menschen noch gut ging: eine Welt des Wohlbehagens, in der er sich um nichts Sorgen machen musste, in der nichts sein Glück gefährdete und in der er sein Dasein ungetrübt genießen konnte. Doch dieser Zustand totaler Geborgenheit und Verwöhnung ging durch ein Vergehen der Menschen verloren. Seitdem erlebt der Mensch sich und seine Welt als begrenzt, sein Glück gefährdet und das Dasein als Mühsal. Seitdem ist der Traum vom Paradies, die Sehnsucht nach dieser verlorengegangenen Welt, einer der grundlegendsten Träume der Menschheit überhaupt."14 Viele Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen sind von dieser Sehnsucht genährt. Eine solche Lebenseinstellung ist z.B. die Erwartung, andere -Gott, Eltern, Kinder, Ehepartner, Freunde, Arbeitgeber, Staat- müssten einem das Leben zum Paradies machen. In dieser Erwartung erscheinen andere Menschen wie die Welt überhaupt als etwas, das dazu da ist, uns zu dienen und unsere Bedürfnisse zufriedenzustellen. Nach Herzenslust und Laune möchte man von allem nach eigenem Bedarf Gebrauch machen können. Es ist im Grunde eine narzisstische und orale Haltung, in der sich der einzelne als Mittelpunkt des Universums wünscht und seine Beziehung zur Umgebung vornehmlich als Nehmen und Einverleiben gestaltet. In ihr spiegelt sich die Existenzweise des ersten Lebensjahres wieder, die hier zur bleibenden Lebenshaltung verfestigt wird. Mehr denn je haben wir es mit Menschen mit solcher Anspruchshaltung zu tun, die sich und ihre Bedürfnisse im Zentrum sehen und wenig Einfühlung für die Interessen anderer aufbringen.