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Arthur Koestler

Sonnenfinsternis

Roman

Nach dem deutschen Originalmanuskript

Mit einem Vorwort von
Michael Scammell
und einem Nachwort von
Matthias Weßel

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INHALT

Vorwort von Michael Scammell

Sonnenfinsternis

Das erste Verhör

Das zweite Verhör

Das dritte Verhör

Die grammatikalische Fiktion

Nachwort von Matthias Weßel

Quellennachweis und Textgestalt

Zeittafel

Über die Autoren

Über dieses Buch

Impressum

LOGIK DER EISZEIT

Zur Erstausgabe des deutschen Originaltextes von Arthur Koestlers Roman «Sonnenfinsternis»

Michael Scammell

Sonnenfinsternis ist ein intellektueller Politthriller über das Leben und Sterben eines revolutionären Führers namens Nicolai Rubaschow, den man ins Gefängnis geworfen hat, um ihn dort als vermeintlichen Verräter mit aller Härte zu verhören. Nach langwierigen Befragungen durch zwei Untersuchungsrichter – der eine ist Iwanoff, einst ein Freund und Weggefährte, der andere Gletkin, feindseliger und grausam in seiner Vorgehensweise – bringt man Rubaschow schließlich dazu, Verbrechen zu gestehen, welche er gar nicht begangen hat; er wird zum Tode verurteilt und ohne viel Federlesens im Keller des Gefängnisses exekutiert.

Koestler arbeitete knapp anderthalb Jahre an diesem Roman, vom Sommer 1938 bis ins Frühjahr 1940. Das Land, in welchem die Geschehnisse stattfinden, wird an keiner Stelle benannt, doch obwohl sich an einigen Stellen Hinweise auf das nationalsozialistische Deutschland ebenso wie auf die kommunistische Sowjetunion finden, lassen die russischen Namen einen eindeutigen Schluss zu. Offensichtlich bezieht Koestler sich auf die berüchtigten Schauprozesse, die Stalin 1938 und 1939 inszenieren ließ und in deren Verlauf führende Vertreter der Kommunistischen Partei in spektakulären, kaum glaubhaften Geständnissen bizarre Verbrechen gegen die eigene Regierung einräumten. Bis zu seiner Inhaftierung im Spanischen Bürgerkrieg im Jahr 1937 (wo er mit seiner eigenen Hinrichtung rechnete) war Koestler selbst gläubiger Kommunist. Er hatte also ein ganz besonderes Interesse daran, Antworten auf seine Fragen zu diesen Prozessen zu finden: Wie war es dem NKWD nur gelungen, so prominente Führungsfiguren der Partei wie Nikolai Bucharin, Grigorij Zinowjew und Karl Radek dazu zu bringen, Taten zu gestehen, die sie niemals begangen hatten – und damit ihr eigenes Todesurteil zu besiegeln?

Koestlers Antwort, wie sie im Roman greifbar wird, lautet: Man hat sie durch ununterbrochenen psychischen Druck gezwungen, ihr politisches Handeln als Verbrechen gegen den Staat zu werten – durch Drohungen und die Anwendung physischer Gewalt. Mit Blick auf Rubaschows rastlosen Einsatz für die Partei und die Sache der Revolution unterziehen die Untersuchungsrichter jede Facette seines Lebens einer gründlichen Prüfung; wo er ihren Deutungen widerspricht oder sie der Heuchelei bezichtigt, da die Partei ihre Utopie verraten und eine Hölle auf Erden geschaffen habe, halten sie ihm kritische Äußerungen aus der Vergangenheit vor, verdrehen ihm das Wort im Mund und erwecken den Eindruck, er habe sich schon vor geraumer Zeit einer Verschwörung gegen den Staat angeschlossen. Schritt für Schritt entreißen sie ihm so seine Verteidigungswaffen und brechen seinen Willen. «Was ich nicht verstehe», sagte Iwanoff, «ist, daß du heute offen zugibst, seit Jahren die Überzeugung zu hegen, daß wir die Revolution verderben, und im gleichen Atemzug leugnest, der Opposition organisatorisch angehört und gegen uns konspiriert zu haben. Willst du wirklich, daß ich glauben soll, du hättest mit den Händen im Schoß zugesehn, wie wir, deiner Überzeugung nach, das Land und die Partei zugrunde richteten?»

Iwanoff entlockt Rubaschow diese Bekenntnisse, indem er als Freund und mitfühlender Kollege agiert; Rubaschow tappt in die Falle seiner eigenen Worte. Der skrupellose Gletkin hat kein Gespür für die Feinheiten der Iwanoff’schen Gesprächsführung; er geht sofort aufs Ganze und behauptet, Rubaschow sei aktiv an einer Verschwörung gegen den Parteiführer beteiligt gewesen und habe beabsichtigt, diesen zu ermorden. Er drängt Rubaschow sogar zur Unterschrift unter ein Geständnis dieses Mordkomplotts. Angewidert von Gletkins zynischer Taktik, doch erschöpft von Schlafentzug, Drohungen und einer inszenierten Gegenüberstellung mit einem vermeintlichen Auftragsmörder in seinen Diensten räumt Rubaschow schließlich eine «objektive» Schuld ein. Er unterzeichnet das Protokoll, bestätigt später im «öffentlichen» Prozess dessen Echtheit und wird zum Tode verurteilt.

Nach Abschluss des Prozesses wird Rubaschow noch einmal für einige Minuten zurück in seine Zelle geführt, bevor man ihn in Handschellen eine Wendeltreppe hinunter in den Keller führt, wo ein Schlag mit dem Knüppel ihn zu Boden streckt:

«Eine unförmige Gestalt beugte sich über ihn, er roch das frische Leder des Revolvergurts; aber welches Symbol trug die Gestalt an Ärmel und Klappe der straffen Uniform – und in wessen Namen hob sie den dunklen Pistolenlauf? Ein zweiter, schmetternder Schlag traf ihn am Ohr. Dann wurde es still. Das Meer rauschte. Eine Welle hob ihn sacht empor. Sie kam von ferne und reiste gemächlich weiter, ein Achselzucken der Unendlichkeit.»

Das Jahr 1940, kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um in Europa einen Roman zu schreiben oder zu veröffentlichen. Koestler lebte damals in Frankreich; es war die Zeit des sogenannten Sitzkriegs, eine ruhige Phase vor Beginn der Kampfhandlungen an der Westfront. Als Koestler gerade einmal die Hälfte seines Romans niedergeschrieben hatte, nahmen französische Sicherheitskräfte ihn fest und brachten ihn in ein Internierungslager für «feindliche Ausländer» im Süden Frankreichs. Das geschah nicht etwa, weil er in Deutschland gelebt hatte und auf Deutsch schrieb, sondern weil die Polizei in ihm einen sowjetischen Agenten sah – ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als er seinen antisowjetischen Roman verfasste. Im Lager herrschte kein strenges Regiment, und so arbeitete er hinter Stacheldraht weiter an seinem Werk – also an einem Ort, der für ein Buch über einen politischen Gefangenen wie geschaffen war. Aus Mangel an Beweisen ließ man Koestler bald wieder frei; in Paris stand er aber trotzdem unter Hausarrest und musste sich für polizeiliche Verhöre zur Verfügung halten. Seine junge englische Freundin, eine Kunststudentin namens Daphne Hardy, lebte damals mit ihm zusammen und übersetzte den Roman ins Englische, während Koestler noch unter Hochdruck daran arbeitete. Kaum hatte sie ihre Übersetzung abgeschlossen und nach London geschickt, musste sie zusammen mit Koestler nach Südfrankreich fliehen, um einer Verhaftung zu entgehen.

Daphne Hardys englische Übersetzung erschien im Dezember 1940 bei Cape in London, als die Bomben des deutschen «Blitzkriegs» auf die englische Hauptstadt niederregneten und man allen Ernstes eine deutsche Invasion für möglich hielt. Koestlers saß schon wieder in einer Zelle – dieses Mal in einer englischen –, abermals unter dem Verdacht feindlicher Agententätigkeit, nun aber für Deutschland. In Südfrankreich hatte er sich von Daphne Hardy getrennt, er hatte sich der französischen Fremdenlegion angeschlossen und war über Casablanca ins neutrale Portugal gereist, wo er sich unter einem Vorwand einen Platz in einem Flugzeug nach England zu sichern wusste. Die englische Grenzpolizei nahm ihn zwar sofort in Gewahrsam und drohte ihm die Ausweisung nach Portugal an, doch einflussreiche englische Freunde wussten das zu verhindern; kurz nach Erscheinen des Romans wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt.

Koestlers englische Freunde stammten vorwiegend aus dem linken Flügel der Labour Party, und sie hatten kaum Vorstellungen vom wirklichen Leben in der Sowjetunion. Als sozialistische Kameraden sympathisierten sie mit den Menschen dort – und Koestlers Roman traf sie daher wie ein Schlag. «Wer kann jemals seine erste Lektüre von Sonnenfinsternis vergessen ?», schrieb der künftige Labour-Vorsitzende Michael Foot in einer Rezension. «Insbesondere den Sozialisten hat sich diese Erfahrung unauslöschlich eingeprägt.» Andere Rezensenten sprachen von der «verheerendsten Bloßstellung stalinistischer Methoden, die jemals geschrieben wurde», von «einem der wenigen Bücher unserer Epoche, die Bestand haben werden» und von «einer bitteren Pille, die es zu schlucken gilt». Ein Kritiker lenkte den Blick auf einen Aspekt des Romans, der vielen anderen entgangen war: dass nämlich Koestler als einer der ersten Schriftsteller «die wachsende Ähnlichkeit zwischen dem Sowjetregime und dem Naziregime» bemerkt habe. Koestler war eben weniger antisowjetisch als antitotalitär.

George Orwell hielt das Buch für einen «brillanten Roman» und eine Erklärung der Schauprozesse, war aber eher an dessen Aussagen über den damaligen Kommunismus (und im weiteren Sinne den Sozialismus) interessiert. Als er selbst nur vier Jahre später an der Farm der Tiere arbeitete, sichtlich unter dem Einfluss Koestlers, erklärte er Sonnenfinsternis zum Meisterwerk. Die englische Öffentlichkeit blieb freilich gleichgültig; Ende 1941, also ein Jahr nach Erscheinen des Buches, hatte der Verlag gerade einmal 2500 Exemplare verkauft. In den USA, damals noch keine Kriegspartei, lief es besser, nicht zuletzt dank einer begeisterten Besprechung im Time Magazine von Whittaker Chambers. Chambers war ein ehemaliger Sowjetagent, der die Seiten gewechselt hatte und genau wusste, wovon Koestler sprach. Dem US-Erfolg half aber auch die Auswahl im Book of the Month Club; trotz allem blieb der Absatz zunächst weit entfernt von dem, was noch bevorstand.

Das wurde deutlich, als Cape nach dem Krieg eine neue Ausgabe des Romans auf den Markt brachte – und die Verkaufszahlen förmlich explodierten. Von einer französischen Übersetzung, die im Frühjahr 1946 in den Handel kam, gingen im ersten Monat 70 000 Exemplare über die Ladentheke. Vor dem französischen Verlagsgebäude in Paris standen die Leute Schlage, um sich druckfrische Exemplare zu sichern, und beim Weiterverkauf ließ sich das Achtfache des ursprünglichen Ladenpreises erzielen. Mitte des Jahres waren bereits 300 000 Bücher verkauft, binnen zwei Jahren wurden es zwei Millionen, damals ein absoluter Rekord im französischen Verlagswesen.

Hauptgrund für diesen enormen Erfolg war die Politik. Als Koestler seinen Roman schrieb, hatte Stalin einen Nichtangriffspakt mit Nazideutschland unterzeichnet und galt demzufolge als Feind der Westalliierten. Kaum hatte Deutschland der Sowjetunion den Krieg erklärt, vollzog sich ein Seitenwechsel – die Rote Armee wurde nun gebraucht, um den Sieg über Deutschland zu sichern. Infolgedessen erhielten kommunistische Parteien in Westeuropa plötzlich Zulauf; in Frankreich stellten die Kommunisten bei Kriegsende die stärkste Fraktion in der verfassunggebenden Nationalversammlung, und sie machten sich berechtigte Hoffnungen auf einen mühelosen Sieg bei der ersten regulären Parlamentswahl nach dem Krieg. In diese Stimmung hinein fuhr die sowjetkritische Botschaft von Sonnenfinsternis wie ein greller Blitz. Gerüchten zufolge soll eine kommunistische Abordnung damals sogar versucht haben, den Verlag zum Produktionsstopp zu überreden, und Parteimitglieder wurden angeblich in Buchhandlungen gesichtet, wo sie alle verfügbaren Exemplare aufkauften. Beim Verfassungsreferendum im Mai 1946 wurde der von den Kommunisten und Sozialisten unterstützte Entwurf knapp von 53 Prozent der Wähler abgelehnt. Viele Beobachter stimmten der Einschätzung des berühmten Romanciers und künftigen Nobelpreisträgers François Mauriac zu, wonach das Erscheinen von Sonnenfinsternis dabei den Ausschlag gegeben habe.

Als Koestler Ende 1946 wieder nach Frankreich reiste, wurde er dort als Held empfangen; Jean-Paul Sarte, Simone de Beauvoir und Albert Camus feierten ihn als Bruder im Geiste des Existenzialismus, André Malraux huldigte dem politischen Schriftsteller. Ähnlich verlief zwei Jahre später ein Besuch Koestlers in den USA. Er traf an Bord der «Queen Mary» in New York ein, und zwar gemeinsam mit dem berühmten Polarforscher Admiral Byrd, mit der Hollywood-Legende Clark Gable und dem Jazz-Star Dizzy Gillespie; das damalige VIP-Bulletin verzeichnet dennoch Koestler als «Berühmtheit des Tages». Er hielt einen Vortrag in der riesigen Carnegie Hall von New York, die hoffnungslos überfüllt war: Sein Publikum war begierig auf Enthüllungen über Stalin und die Sowjetunion; ähnlich groß war der Zulauf während seiner gesamten landesweiten Vortragsreise.

Binnen weniger Jahre wurde Sonnenfinsternis in dreißig Sprachen übersetzt, der Roman avancierte zum internationalen Bestseller. Doch mit der Ausweitung des Kalten Krieges übersah man die antitotalitäre und damit universelle Botschaft, der Blickwinkel wurde enger, bis man Sonnenfinsternis nur noch als ein Zeugnis des Kalten Krieges las. Kommunisten und ihre Weggefährten wiesen auf kleine sachliche Fehler hin, die Koestler bei der Beschreibung von Rubaschows Gefängnis unterlaufen waren. So blickten die Türspione in sowjetischen Zellentüren nach innen und nicht, wie in Koestlers Roman, nach außen – was jene berühmte Szene, in der ein Gefangener über den Flur zur Hinrichtung geschleift wird, weniger plausibel erscheinen lässt. Überdies schildert Koestler Wärter, die eine Zelle allein betreten, was in Gefängnissen der Sowjetunion verboten war. Herumgekrittelt wurde aber auch an jenen Stellen des Buches, an denen Gefangene sich über kodierte Klopfzeichen miteinander verständigen; das im Russischen verwendete kyrillische Alphabet sei dafür ungeeignet. Fehler dieser Art dienten als Belege für absichtliche Verzerrungen, allesamt angeblich Ausdruck der antikommunistischen Grundhaltung des Autors.

Wieder andere Kritiker hielten Koestler vor, die antisowjetische Tendenz von Sonnenfinsternis gehe gar nicht weit genug. Vertreter dieser Ansicht bezogen sich auf die Enthüllungen Nikita Chruschtschows, der seinem Vorgänger Stalin in seiner berühmten Geheimrede von 1956 vorgeworfen hatte, ein Massenmörder gewesen zu sein; Chruschtschow enthüllte in dem Zusammenhang, dass man Bucharin und seine Mitangeklagten vor den Schauprozessen gefoltert hatte. Der Vorwurf lautete demnach, Koestler habe die Bedeutung der Folter in diesen Prozessen bagatellisiert und eine gemäßigte Haltung eingenommen, weil er immer noch Sympathien für Sowjetrussland hege, was angeblich durch den reichlichen Gebrauch kommunistischen Jargons in den Verhörszenen belegt sei.

Ein umstrittener Autor gewöhnt sich mit der Zeit an Angriffe aus allen Richtungen, doch immerhin steckten auch ein paar Körnchen Wahrheit in einigen dieser Anschuldigungen, die sich freilich leicht erklären lassen. Koestler war einer der ersten bedeutenden Romanciers, die auf das Anwachsen totalitärer Gewalt in Europa gegen Mitte des 20. Jahrhunderts hinwiesen, und da er seine Recherchen wohl kaum in Deutschland oder in der Sowjetunion durchführen konnte (zumal es damals nur wenige entflohene Häftlinge aus deutschen oder sowjetischen Gefängnissen gab), griff er auf seine eigenen Erfahrungen in einer spanischen Gefängniszelle zurück. In Spanien gestatteten die Türspione den Blick nach draußen, und die Wärter betraten seine Zelle allein. Das Klopfzeichen-Alphabet dagegen hat mit Spanien nichts zu tun. Koestler verdankt diesen Hinweis einer Freundin aus Budapester Kindertagen, Eva Striker, die man in Moskau wegen eines vermeintlich geplanten Attentats auf Stalin verhaftet hatte. Striker wurde nach sechzehn Monaten Einzelhaft entlassen; Koestler traf sie in London, als er gerade in den Anfängen von Sonnenfinsternis steckte. Für gründliche Recherchen war keine Zeit mehr, und Koestler verwendete Strikers Hinweise, um seine Geschichte plausibler zu machen; dabei griff er auf das lateinische statt auf das kyrillische Alphabet zurück, um keine weitere Verwirrung in einen ohnehin schon komplizierten Vorgang zu bringen.

Ein größeres Gewicht kommt natürlich der Frage nach der Verbreitung von Folter in Stalins Gefängnissen zu, und es trifft ja durchaus zu, dass Koestler deren Bedeutung herunterspielt. In Spanien hatte man ihn nicht gefoltert und auch nicht zum Tode verurteilt, doch war ihm die Angst vor Folter und Hinrichtung durchaus vertraut, zumal Koestlers Zellennachbar in Spanien tatsächlich exekutiert worden war und Koestler mit dem gleichen Schicksal rechnen musste. Wenn er die psychologische Dimension dieser Ängste und den Anteil der persönlichen Schuld an Rubaschows Bereitschaft zum Geständnis betont, dann deshalb, weil er selbst, ähnlich wie Rubaschow, damals bereits den Glauben an den Kommunismus verloren hatte und sich mit eigenen Schuldgefühlen plagte – Schuld wegen des Verrats an seinen Kameraden und, schwerer wiegend, Schuld an moralischen Vergehen, die er «um des Guten in der Sache willen» begangen hatte. Schuld war ein wesentliches Motiv bei der Arbeit an diesem Sujet, und bei der Gestaltung seines Alter Ego, Rubaschow, war Schuld ihm wichtiger als körperliche Misshandlungen und Folter (auch wenn deutlich wird, dass ihm diese Seite des sowjetischen Gefängniswesens durchaus bewusst war).

Koestler widmete sich immer wieder der Frage nach dem Einsatz von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele. Das Thema beschäftigte ihn schon seit dem Spanischen Bürgerkrieg und sollte ihn auch nach der Fertigstellung von Sonnenfinsternis nicht loslassen. In Diebe in der Nacht, einem Roman über den Kampf der Juden in Palästina nach Ende des Zweiten Weltkriegs für ihren eigenen unabhängigen Staat, kam Koestler der Rechtfertigung dieser Gewalt schon sehr nahe: In einem Dialog zwischen dem Romanhelden Joseph und einem zionistischen Terroristen namens Baumann, den Joseph gleichzeitig bewundert und fürchtet, rechtfertigt Baumann seine Methoden mit dem Hinweis, er folge «der Logik der Eiszeit»; das heißt: Der gute Zweck heiligt die üblen Mittel. Hier scheint Koestler zu schwanken, er übersieht Baumanns Nähe zu den sowjetischen Fürsprechern der Folter; interessant ist aber auch, wie sehr dieses Gespräch der Debatte zwischen Rubaschow und Iwanoff ähnelt, die sich ihrerseits an Dostojewskis Betrachtungen über Mittel und Zwecke in Schuld und Sühne anlehnt. In Sonnenfinsternis übernimmt Rubaschow die Rolle des angeklagten Raskolnikow; sein Widersacher Porfirij wird durch die beiden Untersuchungsrichter Iwanoff und Gletkin repräsentiert. Der große Streit zwischen Scharfsinn und Wille bei Dostojewskis Antipoden spiegelt sich bei Koestler in den Verhören wider, wobei hier die marxistische Ideologie den Hintergrund bildet und an die Stelle der christlichen Theologie tritt. Natürlich reicht die ideologische Sprache nicht an die Komplexität und an die Eloquenz heran, mit welcher die Metaphysik bei Dostojewski in Erscheinung tritt, und Koestler versucht das auch gar nicht erst. Stattdessen legt er Hand an die Thesen, die der sowjetischen Ideologie zugrunde liegen, indem er ethische Fragen und das Problem der Schuld und Unschuld in die Waagschale wirft – dies aber durchaus in der Manier Dostojewskis.

Selbstverständlich arbeitete Koestler nicht als Historiker und auch nicht als Theoretiker; als Autor eines Romans ging es ihm um das Gute und das Böse und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens. Sonnenfinsternis ist ein literarisches Werk, das uns mitempfinden lässt, wie man sich als ein rettungslos verlorener politischer Häftling in der Sowjetunion (und ansatzweise auch in Nazideutschland) kurz vor dem Zweiten Weltkrieg fühlte; es ging Koestler dabei nicht um eine vollkommen exakte Schilderung der Bedingungen und Abläufe in einem sowjetischen Gefängnis oder um eine komplexe politische Analyse. Indem er auch die faschistische Gewalt in den Blick nahm, weitete Koestler seine Perspektive und bezog warnend Stellung gegen totalitäre Tendenzen, welche die Zukunft der Menschheit Mitte des 20. Jahrhunderts gleich aus mehreren Richtungen bedrohten. Sonnenfinsternis ist eine Dystopie, vergleichbar Samjatins Wir, Huxleys Schöner neuer Welt, Orwells 1984 und Bradburys Fahrenheit 451 – allesamt warnende Stimmen aus dem 20. Jahrhundert, die leider bis heute nichts an Aktualität verloren haben.

Die Veröffentlichung dieser deutschen Neuausgabe von Sonnenfinsternis stellt ein besonderes Ereignis dar, denn Leser haben nun erstmals die Möglichkeit, Koestlers berühmten Roman genau so kennenzulernen, wie der Verfasser ihn geschrieben hat, und seine Qualitäten und seine Bedeutung neu zu bewerten. Das hängt damit zusammen, dass Koestlers einziges Exemplar seines ursprünglich auf Deutsch verfassten Manuskripts in den Wirren der Flucht vor den deutschen Invasoren verlorengegangen war. 75 Jahre lang blieb das Original verschollen, bis der junge deutsche Literaturwissenschaftler Matthias Weßel es im Archiv eines Verlages in Zürich entdeckte. Er selbst schildert diese Entdeckung im Nachwort zur vorliegenden Ausgabe.

Glücklicherweise befand sich Daphne Hardys englische Übersetzung bereits auf dem Weg nach London, als sie und Koestler aus Paris flohen; und weil es kein Original mehr gab, avancierte diese erste Übersetzung zum «Urtext» aller folgenden Übersetzungen von Sonnenfinsternis in andere Sprachen, einschließlich des Deutschen – ein Fall, der in der modernen Literaturgeschichte ohne Beispiel bleibt. Koestler selbst erledigte 1943 einen großen Teil der Übersetzung bzw. Rückübersetzung ins Deutsche, während er in London den Krieg miterlebte, doch es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis die Übersetzung ihren Weg zurück nach Deutschland finden konnte. Zwar wurde schon vor Kriegsende in England eine deutsche Ausgabe gedruckt, doch 1946, als der Roman überall in Europa für Furore sorgte und das Interesse entsprechend groß war, sprach sich der britische Hochkommissar im besetzten Deutschland gegen eine Verbreitung des Buches aus, um die Sowjetunion nicht zu provozieren, eine der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und damals immer noch mit den Westmächten verbündet. Dieses Verbot hatte zwei weitere Jahre Bestand und wurde erst 1948, nach Beginn des Kalten Krieges, aufgehoben.

Die deutsche Haltung gegenüber Koestlers ist stark von der Tatsache geprägt, dass sämtlichen deutschen Ausgaben dieses Romans eine Übersetzung aus dem Englischen zugrunde liegt. Weil damals noch weitere Werke Koestlers aus dem Englischen übersetzt wurden, gewannen die Leser der Nachkriegszeit den Eindruck, Koestler sei ein ausschließlich englischer Schriftsteller. Deutschsprachige Leser sahen den Roman deshalb als Zeugnis einer fremden Kultur, und viele überlasen geflissentlich die Passagen über das totalitäre Nazideutschland und registrierten ausschließlich die sowjetische Seite. Koestler aber hatte Rubaschow sehr bewusst als sowjetischen Agenten in Deutschland gezeigt – was ihm leichtfiel, da er selbst mehrere Jahre lang als Korrespondent für deutsche Zeitungen gearbeitet und vor dem Krieg ausschließlich auf Deutsch geschrieben hatte. Erst während des Krieges und dann endgültig nach Kriegsende wechselte Koestler als Schriftsteller ins Englische.

Ein weiteres Problem bestand darin, dass Daphne Hardy jung und unerfahren war (bei Beginn der Übersetzungsarbeit gerade einmal einundzwanzig) und unter hohem Zeitdruck stand; ihre Übersetzung ist also keineswegs frei von Mängeln. Da sie mit den Praktiken der sowjetischen (und nationalsozialistischen) Geheimpolizei und den Mechanismen totalitärer Staaten nicht vertraut war, ersetzte Hardy die bolschewistische Terminologie durch britische Rechtsvorstellungen und -begriffe, was das System milder und zivilisierter erscheinen ließ; dies war einer der Gründe, weshalb Kritiker Koestler eine allzu nachgiebige Haltung gegenüber dem Kommunismus unterstellten. Andere Auslassungen und Übersetzungsfehler blieben damals eher unbeachtet, entfalteten aber durchaus ihre Wirkung auf deutsche Leser. So spottet Rubaschow in einer der Verhörszenen, es sei «unsere Führervergottung grotesker als die des Hampelmannes mit dem kleinen Schnurrbärtchen», eine direkte Anspielung auf Hitler. Daphne Hardy macht daraus: «more Byzantine than that of the reactionary dictatorships» («unser Führerkult [ist] byzantinischer als unter konterrevolutionären Diktaturen»), eine unbeholfene Wendung, die das Gemeinsame, das Koestler zwischen der Sowjetunion und Nazideutschland erkannte, beiseitelässt – und Rubaschows Widerstand entwertet. An einer anderen Stelle erinnert Rubaschow sich daran, wie man ihn mit einem Revolverknauf ins Gesicht schlug – ein Detail, das Daphne Hardy weglässt, das aber an die Reise des Sowjetagenten durch Nazideutschland erinnert und das Verbindende zwischen beiden totalitären Staaten unterstreicht.

Koestler gab sich große Mühe, die rechtliche Terminologie bei seiner Rückübersetzung zu berichtigen und zumindest einige der ausgelassenen Stellen wiederherzustellen, er bekam es dabei allerdings mit einem neuen Problem zu tun. In den drei oder vier Jahren seit der Arbeit am Originalmanuskript hatte Koestler sich angewöhnt, nur noch englisch zu schreiben und zu denken; sein Deutsch war ein wenig eingerostet. Er wandte sich an seinen Freund Rudolf Ullstein, den Inhaber des Ullstein Verlags, und Ullstein erklärte ihm, der Text enthalte zu viele fremdsprachliche Ausdrücke. Daraufhin bat Koestler einen anderen Freund, die gesamte Übersetzung für ihn durchzusehen, doch als Weßel nach seiner Entdeckung Teile des Romans Wort für Wort mit der Rückübersetzung verglich, war sein Urteil eindeutig: «Die Differenzen variieren stark in Art und Umfang, doch insgesamt gesehen unterscheiden sich beide Fassungen so deutlich in inhaltlicher und sprachlicher Hinsicht, dass eine neue deutsche Ausgabe ohne Zweifel nicht nur gerechtfertigt, sondern zwingend erforderlich ist.»

Diese neue deutsche Ausgabe halten Sie jetzt in Händen. Sonnenfinsternis ist Koestlers bester Roman; erst kürzlich hat die Redaktion von America’s Modern Library ihn auf ihrer Liste der hundert bedeutendsten englischsprachigen Romane auf Platz acht gesetzt. Wobei das «englischsprachig» natürlich eine reizvolle Ironie darstellt, denn Sonnenfinsternis ist zuallererst ein deutscher Roman, kein englischer; und er stellt den Höhepunkt in Koestlers Romanschaffen dar, ganz unabhängig von der Ausgangssprache. Hoffen wir also, dass die Publikation dieses berühmten Werkes im deutschen Original am Ende dazu beiträgt, den Blick der deutschsprachigen Öffentlichkeit auf den vermeintlich englischen Autor zu verändern und in Koestler – jedenfalls während der ersten Hälfte seines Lebens – ein herausragendes Mitglied der deutschen Diaspora zu erkennen.

Sonnenfinsternis

«Wer die Alleinherrschaft an sich reißt und den Brutus nicht tötet, oder wer eine Republik gründet und die Söhne des Brutus nicht tötet, wird sich nur eine kurze Frist halten.»

Niccolò di Bernardo Macchiavelli
(Discorsi III, Kap. 3.)

«Mann, Mann, ganz ohne etwas Mitleid kann man überhaupt nicht leben.»

Dostojewsky (Schuld und Sühne)

Die Personen dieses Romans sind fiktiv. Die historischen Begebenheiten, die ihnen das Gesetz ihres Handelns vorschrieben, sind real. Das Schicksal des Mannes N. S. Rubaschow ist aus den Schicksalen einer Anzahl von Männern zusammengesetzt, die Opfer der sogenannten ‹Moskauer Prozesse› wurden. Einige von ihnen waren dem Autor persönlich bekannt. Ihrem Andenken ist dieses Buch gewidmet.

Paris, im März 1940

DAS ERSTE VERHÖR

«Man kann keineswegs schuldlos herrschen.»

(St. Just)

1.

Die Zellentür knallte hinter Rubaschow ins Schloß.

Er blieb einige Sekunden lang an die Tür gelehnt stehen und zündete sich eine Zigarette an. Auf der Pritsche zu seiner Rechten lagen zwei leidlich saubere Decken, und der Strohsack sah frisch aufgefüllt aus. Das Waschbecken zu seiner Linken hatte keinen Stöpsel, aber der Hahn funktionierte. Der Kübel daneben war frisch desinfiziert, er roch nicht. Die Wand war zu beiden Seiten aus Ziegeln und gab keine Klopf-Resonanz, aber die Austrittstellen der Heizröhre und des Abzugrohrs waren vergipst und tönten leidlich; die Heizröhre selbst schien außerdem schalleitend zu sein. Das Fenster begann in Kopfhöhe, man konnte in den Hof hinuntersehn, ohne sich am Gitter hochziehen zu müssen. Soweit war alles in Ordnung.

Er gähnte, zog sich die Jacke aus, rollte sie zusammen und legte sie als Kopfkissen auf den Strohsack. Er sah in den Hof hinab; der Schnee glänzte gelblich in dem doppelten Licht des Mondes und der elektrischen Laternen. Rings, der Mauer entlang, war eine schmale Spur ausgeschaufelt für den Spaziergang. Es dämmerte noch nicht, die Sterne schimmerten klar im Frost, trotz der Laternen. Auf der Rampe der Außenmauer, die Rubaschows Zelle gegenüber lag, ging ein Soldat mit geschultertem Gewehr die hundert Schritte ab; er stampfte bei jedem Schritt mit den Füßen auf wie beim Parademarsch; Rubaschow konnte nicht entscheiden, ob er es wegen der Vorschrift oder wegen der Kälte tat; ab und zu blitzte auf seinem Bajonettschaft die Spiegelung der gelben Laternen auf.

Rubaschow zog sich, am Fenster stehend, die Schuhe aus. Er löschte die Zigarette, legte den Stummel neben das Fußende der Pritsche und saß einige Minuten lang auf dem Strohsack. Er ging noch einmal an das Fenster zurück; der Hof war still, der Wachsoldat machte gerade kehrt, über dem Maschinengewehrturm sah man ein Stück der Milchstraße. Rubaschow streckte sich auf der Pritsche aus und wickelte sich in die obere Decke. Es war fünf Uhr früh; vor sieben mußte man hier im Winter wohl nicht aufstehn. Er war sehr schläfrig und überlegte, daß das erste Verhör kaum vor drei bis vier Tagen stattfinden würde. Er hob den Zwicker ab, legte ihn neben den Zigarettenstummel auf die Steinfliesen, lächelte und schloß die Augen. Die Decke hüllte ihn warm ein, er fühlte sich geborgen, das erste Mal seit Monaten fürchtete er sich nicht vor dem Träumen.

Als der Wärter einige Minuten später das Licht von außen abdrehte und durch den Spion in die Zelle sah, schlief der ehemalige Volkskommissar Rubaschow, den Rücken zur Wand gedreht, mit dem Kopf auf dem ausgestreckten linken Arm, der steif aus dem Bett herausragte; nur die Hand am Ende des Armes hing schlaff herab und zuckte im Schlaf.

2.

Eine Stunde vorher, als die beiden Beamten vom Volkskommissariat des Innern gegen Rubaschows Wohnungstür gehämmert hatten, um ihn zu verhaften, hatte Rubaschow gerade geträumt, daß er verhaftet wurde.

Das Pochen war stärker geworden, und Rubaschow hatte sich bemüht aufzuwachen. Er hatte Übung darin, sich aus einem Alptraum zu reißen, denn der Traum von seiner ersten Verhaftung kehrte seit Jahren periodisch wieder und lief mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes ab. Manchmal gelang es ihm, mit einer starken Willensanspannung das Uhrwerk zum Stehen zu bringen, sich gleichsam am eigenen Schopfe aus dem Traum hochzuziehn, aber diesmal gelang es nicht; die letzten Wochen hatten ihn sehr zermürbt, er schwitzte und röchelte im Schlaf, das Uhrwerk schnurrte, er träumte weiter.

Er träumte, wie immer, daß an seine Tür gehämmert wurde und daß draußen drei Männer standen, die ihn verhaften kamen. Er sah sie, durch die Türe hindurch, wie sie draußen standen und gegen das Rahmenwerk schlugen. Sie hatten ganz neue Uniformen an, die kleidsame Tracht der Praetorianer der deutschen Diktatur; auf ihren Kappen und Ärmeln trugen sie ihr Symbol, das mit aggressiven Widerhaken ergänzte Kreuz; in den unbeschäftigten Händen hielten sie unförmig große Pistolen, ihr Riemenzeug roch nach frischem Leder. Plötzlich standen sie im Zimmer, vor seinem Bett. Zwei waren hochgewachsene Bauernjungen mit dicken Lippen und Fischaugen, der dritte war klein und rund. Sie standen vor seinem Bett und hielten die Pistolen in ihren Händen und atmeten ihn an; es war ganz still, nur der kleine Dicke schnaufte asthmatisch. Dann wurde in der oberen Etage ein Abzug gezogen, und das Wasser strömte mit gleichmäßigem Geräusch durch die Röhren in den Wänden.

– Das Uhrwerk surrte ab. Das Hämmern an Rubaschows Tür wurde lauter; die beiden Männer draußen, die ihn verhaften kamen, hämmerten abwechselnd und bliesen sich in die kaltgefrornen Hände. Aber Rubaschow konnte nicht aufwachen, obwohl er wußte, daß jetzt eine besonders peinigende Szene des Traumes folgen mußte: die Drei stehen immer noch vor seinem Bett, er versucht sich seinen Schlafrock anzuziehn. Aber der eine Ärmel ist nach innen gestülpt, er vermag mit dem Arm nicht hineinzugelangen, er müht sich vergeblich, bis ihn eine Art Lähmung befällt: er kann sich nicht rühren, obwohl alles davon abhängt, daß er rechtzeitig in den Ärmel gelangt. Diese quälende Erstarrung dauert eine Anzahl von Sekunden, während deren Rubaschow stöhnt, die kalte Nässe auf den Schläfen spürt und das Hämmern an seiner Türe wie ein ferner Trommelwirbel in seinen Schlaf dringt; sein Arm unter dem Kopfkissen zuckt in der fiebrigen Bemühung, in den Ärmel des Schlafrocks hineinzuschlüpfen – da trifft ihn endlich der erste, erlösende Hieb mit dem Pistolenknauf schmetternd am Ohr.

– Mit der vertrauten, in hundertfacher Wiederholung immer neu durchlebten Erinnerung dieses ersten Schlages, von dem Rubaschows Schwerhörigkeit datierte, pflegte er gewöhnlich aufzuwachen. Eine Weile zitterte er dann gewöhnlich noch, und seine Hand, eingeklemmt unter dem Kopfkissen, zuckte weiter nach dem Ärmel des Schlafrocks; denn ehe er völlig wach wurde, hatte er in der Regel noch die letzte und schlimmste Etappe zurückzulegen. Sie bestand in dem schwindligen, doppelbodigen Gefühl, daß dieses befreiende Erwachen nun erst recht geträumt sei und daß er in Wirklichkeit immer noch auf dem feuchten Steinboden der Dunkelzelle liege, zu seinen Füßen den Kübel, neben dem Kopf den gesparten Brotrest und den Wasserkrug.

Einige Sekunden lang hielt dieser benommene Zustand auch diesmal an, die Ungewißheit, ob seine tastende Hand an den Kübel oder an den Schalter der Nachttischlampe stoßen werde. Dann wich der Nebel, das Licht flammte auf; Rubaschow atmete einige Mal tief ein und aus und trocknete sich mit der Bettdecke die Stirn und die beginnende Glatze am Hinterkopf. Er lag still; genoss, die Hände über der Brust gefaltet, wie ein Rekonvaleszent das beglückende Gefühl der Freiheit und Geborgenheit und blinzelte, mit schon wieder erwachender Ironie, zu dem Öldruck von No. 1, dem Führer der Partei empor, das über dem Bett an der Wand seines Zimmers hing – und an den Wänden aller Zimmer neben, über oder unter ihm, an allen Wänden des Hauses, der Stadt, des unmäßig ausgedehnten Landes, um das er gekämpft und gelitten und das ihn nun wieder aufgenommen hatte in seinem gewaltigen, bergenden Schoß. Er war jetzt endlich völlig wach – aber das Hämmern an seiner Tür hielt an.

3.

Die beiden Männer, die gekommen waren, um Rubaschow zu verhaften, standen draußen im dunklen Treppenflur und berieten. Der Hausmeister Wassilij, der sie heraufgefahren hatte, stand in der offenen Fahrstuhltür und keuchte vor Angst. Er war ein magerer alter Mann, aus dem zerrissenen Kragen des Soldatenmantels, den er über das Nachthemd geworfen hatte, ragte eine breite rote Narbe heraus, die ihm ein skrofulöses Aussehn gab. Sie stammte von einem Halsschuß aus dem Bürgerkrieg, den er in dem Partisanenregiment Rubaschows durchgekämpft hatte. Dann war Rubaschow ins Ausland kommandiert worden und Wassilij erfuhr nur gelegentlich aus der Zeitung, die ihm seine Tochter abends vorlas, was mit ihm passierte. Er ließ sich die Reden vorlesen, die Rubaschow auf den Kongressen hielt; sie waren lang, schwer verständlich, und es wollte Wassilij nie recht gelingen, aus ihnen den Tonfall des kleinen bärtigen Partisanenkommandeurs Rubaschow herauszuhören, der so schöne Flüche gekannt hatte, daß selbst die heilige Madonna von Kazan vor Freude lächeln mußte darüber. Gewöhnlich schlief der Hausmeister in der Mitte dieser Reden ein, wachte aber immer auf, wenn die Tochter bei den Schlußlosungen und dem Beifall anlangte und feierlich die Stimme hob. Zu jedem dieser feierlichen Schlußsätze, es lebe die Internationale, es lebe die Weltrevolution, es lebe No. 1, fügte Wassilij ein ‹Amen› hinzu, innig, aber leise, damit es die Tochter nicht höre, zog die Jacke aus, bekreuzigte sich heimlich und mit schlechtem Gewissen und ging ins Bett. Auch über seinem Bett hing das Ölbild von No. 1 und daneben eine Fotografie Rubaschows als Partisanenkommandeur. Wenn man die Fotografie fand, dann holte man ihn demnächst wohl auch.

Es war kalt, finster und sehr still in dem Treppenhaus. Der jüngere der beiden Männer vom Innenkommissariat schlug vor, das Türschloß zu durchschießen. Wassilij lehnte sich an die Fahrstuhltür, er hatte seine Stiefel in der Eile nicht richtig angezogen, seine Hände zitterten so stark, daß er die Riemen nicht festschnüren konnte. Der ältere der beiden Männer lehnte das Schießen ab; die Verhaftung sollte möglichst unauffällig durchgeführt werden. Sie bliesen sich in die froststarren Hände und begannen erneut gegen die Tür zu hämmern; der Jüngere schlug mit dem Revolverknauf. Einige Etagen tiefer begann eine Frau mit schriller Stimme zu schreien. «Sag, sie soll das Maul halten», sagte der Junge zu Wassilij. «Ruhe», rief Wassilij, «hier ist Behörde.» Die Frau verstummte sofort. Der Junge ging dazu über, die Tür mit seinem Stiefel zu bearbeiten. Das ganze Treppenhaus dröhnte, endlich sprang die Türe auf.

Sie standen zu dritt vor dem Bett Rubaschows, der junge und der alte Beamte in ihren Uniformen, der Junge mit dem Revolver in der Hand, der Alte in strammer Haltung, wie man vor Vorgesetzten steht; Wassilij stand einen Schritt hinter ihnen, an die Wand gelehnt. Rubaschow war noch dabei, sich den Schweiß an Stirne und Hinterkopf zu trocknen, er sah sie kurzsichtig und verschlafen an. «Bürger Rubaschow, Nicolas Salmanowitsch, wir verhaften Sie im Namen des Gesetzes», sagte der Junge. Rubaschow tastete nach seinem Zwicker unter dem Kopfkissen und stützte sich ein wenig auf. Jetzt, da er den Zwicker aufhatte, hatten seine Augen wieder den gleichen Ausdruck, den Wassilij und der ältere Beamte von Fotografien und Öldrucken aus den Revolutionstagen kannten. Der Alte stand noch etwas strammer; der Junge, der bereits unter anderen Namen aufgewachsen war, trat einen Schritt näher ans Bett heran – alle drei sahen ihm an, daß er, um seine Unsicherheit zu bemänteln, gleich eine Brutalität sagen oder begehen würde.

«Tun Sie doch den Revolver weg, Genosse», sagte Rubaschow zu dem Jungen. «Was ist denn los mit mir?»

«Sie hören, daß Sie verhaftet sind», sagte der Junge. «Machen Sie keine langen Geschichten und ziehen Sie sich an.»

«Haben Sie einen Haftbefehl?», fragte Rubaschow.

Der ältere Beamte zog ein Papier aus der Tasche, überreichte es Rubaschow und nahm wieder dienstliche Haltung an.

Rubaschow las aufmerksam. «Na schön», sagte er, «daraus erfährt man nie was. Hol euch der Teufel.»

«Ziehen Sie sich an und machen Sie rasch», sagte der Junge. Man merkte, daß die Grobheit nicht mehr gekünstelt war und seiner Natur entsprach. Eine schöne Generation hat man sich da eingebrockt, dachte Rubaschow. Er erinnerte sich an die Propagandaplakate, auf denen diese Jugend immer mit lachenden Gesichtern abgebildet war. Er fühlte sich sehr müde. «Reichen Sie mir meinen Schlafrock, anstatt mit Ihrer Pistole herumzufuchteln», sagte er zu dem Jungen. Der Junge wurde rot, schwieg aber. Der ältere Beamte reichte Rubaschow den Schlafrock. Rubaschow würgte sich in die Ärmel hinein. «Diesmal gehts wenigstens», sagte er mit einem verzerrten Lächeln. Die drei andern verstanden ihn nicht und schwiegen. Sie sahen stumm zu, wie Rubaschow langsam aus dem Bett stieg und seine zerdrückten Kleider zusammensuchte. Das Haus war seit dem einen schrillen Frauenschrei wieder still, aber sie hatten das Gefühl, daß alle Bewohner wach in ihren Betten lagen und den Atem anhielten.

Dann hörten sie, wie in einer der oberen Etagen am Abzug gezogen wurde und das Wasser gleichmäßig durch die Röhren rauschte.

4.

Unten vor dem Haustor stand das Auto, in dem die Beamten gekommen waren, ein neuer amerikanischer Wagen. Es war noch dunkel, der Chauffeur hatte die Scheinwerfer angestellt, die Straße schlief oder stellte sich schlafend. Sie stiegen ein, der Junge zuerst, dann Rubaschow, dann der Alte. Der Chauffeur, gleichfalls in Uniform, setzte den Wagen in Bewegung. Gleich hinter dem Häuserblock hörte die Pflasterung auf; sie waren noch im Zentrum der Stadt, es gab ringsum lauter Hochhäuser mit modernen Fassaden, acht- und neunstöckige Gebäude, aber die Straßen waren ländliche Karrenwege aus gefrorenem Lehm, in dessen Rissen dünner Pulverschnee lag; der Chauffeur fuhr im Schritt, und der vorzüglich gefederte Wagen stöhnte und knirschte wie ein Ochsenkarren.

«Fahr schneller», sagte der Junge, der das Schweigen im Wagen nicht vertrug, zum Chauffeur.

Der Chauffeur zuckte die Achseln, ohne sich umzusehen. Er hatte Rubaschow beim Einsteigen gleichgültig und unfreundlich gemustert. Rubaschow hatte einmal einen Unfall gehabt; der Mann am Steuer des Rettungswagens, der ihn holen kam, hatte ihn ebenso angesehn. Die langsame, holpernde Fahrt durch die ausgestorbenen Straßen, mit dem zitternden Lichtkegel des Scheinwerfers voran, war schwer erträglich. «Wie weit ist es?», fragte Rubaschow, ohne seine Begleiter anzusehn. Fast hätte er hinzugefügt: bis zum Krankenhaus und dem Operationssaal. «Eine gute halbe Stunde», sagte der ältere Uniformierte. Rubaschow kramte Zigaretten aus der Tasche, steckte eine in den Mund und bot das Paket automatisch herum. Der Junge lehnte schroff ab, der Ältere nahm zwei Zigaretten, von denen er eine dem Chauffeur reichte. Der Chauffeur fuhr mit der Hand an die Mütze und gab allen Feuer, wobei er das Steuer mit einer Hand hielt. Rubaschow wurde leichter ums Herz, gleichzeitig ärgerte er sich darüber. ‹Jetzt noch sentimental werden›, dachte er. Aber er konnte der Versuchung nicht widerstehn, zu sprechen und ein wenig menschliche Wärme um sich zu erzeugen. «Schade um die schönen Wagen», sagte er. «Kosten ein gutes Stück Valuta und nach einem halben Jahr sind sie auf unsern Straßen beim Teufel.»

«Da haben Sie ganz recht, unsere Straßen sind noch sehr rückständig», sagte der alte Beamte. An seinem Ton merkte Rubaschow, daß der Alte seine Hilflosigkeit erkannt hatte. Er kam sich vor wie ein Hund, dem man einen Knochen hingeworfen hat, und beschloß, nicht mehr zu reden. Aber der Junge sagte plötzlich herausfordernd: «In den kapitalistischen Ländern sind die Straßen vielleicht besser?»

Rubaschow mußte grinsen. «Waren Sie einmal draußen?», fragte er.

«Ich weiß trotzdem, wie es dort zugeht», sagte der Junge. «Sie müssen gar nicht erst versuchen, mir Geschichten aufzubinden.»

«Für wen halten Sie mich eigentlich?», fragte Rubaschow, sehr ruhig. Aber er konnte sich doch nicht enthalten, hinzuzufügen: «Sie sollten wirklich ein bißchen die Parteigeschichte studieren.»

Der Junge schwieg und sah starr geradeaus. Alle drei schwiegen. Der Chauffeur würgte schon zum dritten Mal den keuchenden Motor ab und ließ ihn fluchend wieder anspringen. Sie holperten durch die Vorstadt; am Aussehn der hölzernen Elendsbaracken hier hatte sich nichts geändert. Über ihren krummen Silhouetten hing der Mond, blaß und kalt.

5.

In allen Korridoren des neuen Prachtgefängnisses brannte elektrisches Licht. Es lag fahl auf den eisernen Galerien, den kahl getünchten Wänden, den Zellentüren mit den Namenskarten und den schwarzen Löchern der Spione. Rubaschow war dieses fade, reflexlose Licht und die schrille Akustik ihrer Schritte auf den Steinfliesen so vertraut, daß er einige Sekunden lang mit der Illusion spielte, wieder zu träumen. Er wollte sich gerne einreden, daß er wirklich daran glaubte. ‹Wenn es dir gelingt, dich davon zu überzeugen, daß du nur träumst, dann wird es wirklich nur ein Traum sein›, dachte er. Er wünschte das so heftig, daß ihm fast schwindlig wurde; gleich darauf stieg eine würgende Scham in ihm hoch. ‹Das muß anständig zu Ende gelöffelt werden›, dachte er. ‹Auch wenn man am letzten Brocken erstickt.› Inzwischen waren sie schon bei Zelle 404 angelangt. Über dem Spion hing eine Karte, auf der sein Name stand, Nicolas Salmanowitsch Rubaschow. ‹Die haben ja alles schön vorbereitet›, dachte Rubaschow, der Anblick seines Namens auf der Karte berührte ihn unheimlich. Er wollte noch eine Zusatzdecke wegen seines Rheumatismus vom Aufseher verlangen, da knallte bereits die Zellentür hinter ihm ins Schloß.

6.

Der Aufseher hatte in regelmäßigen Abständen durch den Spion in Rubaschows Zelle gespäht. Aber Rubaschow hatte still auf seiner Pritsche gelegen; nur seine Hand hatte manchmal im Schlaf gezuckt. Neben der Pritsche lagen sein Zwicker und ein Zigarettenstummel auf der Steinfliese.

Um sieben Uhr morgens – zwei Stunden nach seiner Einlieferung – wurde Rubaschow durch einen Posaunenstoß geweckt. Er hatte die zwei Stunden traumlos durchgeschlafen und war sogleich im Bilde. Die Posaune blies dreimal, die gleiche, schmetternde Tonfolge in Moll. Die Töne zitterten lange nach, erstarben; eine feindselige Stille trat ein.

Es war noch nicht ganz hell; die Konturen des Blechkübels und des Waschbeckens waren noch durch die Dämmerung gemildert. Die Fenstergitter lagen als schwarzes Silhouettenmuster vor dem trüben Glas; oben links war eine zerbrochene Scheibe mit Zeitungspapier verklebt. Rubaschow setzte sich auf, langte nach dem Zwicker und dem Zigarettenstummel am Fußende und legte sich wieder zurück. Er setzte den Zwicker auf und brachte den Stummel zum Glimmen. Die Stille hielt an. In dem gekalkten Wabenbau erhoben sich jetzt wohl gleichzeitig die Männer von den Pritschen, fluchten und tappten über den Steinboden, aber in den Zellen des Isolators hörte man nichts – nur ab und zu verhallende Schritte auf dem Korridor. Rubaschow wußte, daß er sich in einem Isolator befand und daß er hier zu bleiben hatte, bis man ihn erschoß. Er strich mit den Fingern durch den kurzen Spitzbart, rauchte und lag still.