Kurfürstenklinik – 80 – Geheimnis um Clarisse

Kurfürstenklinik
– 80–

Geheimnis um Clarisse

Die schöne Krankenschwester plagen ungewöhnliche Sorgen

Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-120-9

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»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren«, sagte Niklas Vandenbeck und verließ den großen Sitzungssaal mit langen elastischen Schritten. Doch kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, fiel die zur Schau getragene Energie von ihm ab. Er lehnte mit dem Rücken an die Wand neben der Tür und schloß die Augen.

Sein Herz! Immer wieder war es sein Herz, das ihn zwang, kürzer zu treten. Dabei war er erst dreiunddreißig Jahre alt und bereits der Juniorchef eines großen Unternehmens. Er liebte die Arbeit im Familienimperium über alles. Sein Studium der Betriebswirtschaft hatte er zur Freude seiner Eltern, deren einziges Kind er war, mit Auszeichnung abgeschlossen. Sie waren ungeheuer stolz auf ihn, den ersten ›Studierten‹ in der Familie.

Sein Vater war der Sohn eines Handwerkers, er hatte selbst als Handwerker angefangen, bevor ihm dann alles zu eng geworden war und er sich mit einer eigenen Firma selbständig gemacht hatte. Im Laufe der Zeit war diese dann immer größer und größer geworden, heute war es ein kompliziertes Geflecht verschiedener Firmen unter einem Dach.

Niklas hatte nie etwas anderes tun wollen, als im väterlichen Unternehmen zu arbeiten und es eines Tages zu übernehmen. Er wußte, daß er gut war. Er hatte das sichere Gespür seines Vaters für das Geschäft geerbt, und es gab keinerlei Autoritätsprobleme in der Firma – sein Wort galt bereits genauso viel wie das ›des Alten‹, wie sein Vater liebe- und respektvoll von seinen Angestellten genannt wurde.

Aber wie sollte es weitergehen, wenn er nicht voll leistungsfähig war? Es gab manchmal Wochen, in denen er sein Herz überhaupt nicht spürte – und dann wieder... Dann war es so wie jetzt: Er bekam kaum Luft, das Herz hämmerte gegen seine Rippen, als wolle es den Brustkorb sprengen, und ihn überkamen heftige Angstgefühle. Er sorgte dafür, daß er immer allein war, wenn ihn ein solcher Anfall, wie er es nannte, überkam – und er hatte es bisher auch immer geschafft, weil er die Anzeichen mittlerweile kannte, die die Probleme ankündigten. Heute jedoch war er überrascht worden, er hatte sich morgens sogar besonders gut gefühlt. Und jetzt das! Er hatte eine wichtige Sitzung verlassen müssen, das war ihm bisher noch nie passiert.

»Herr Vandenbeck? Ist alles in Ordnung?«

Er öffnete die Augen und lächelte dem jungen Mann, der mit besorgtem Gesicht vor ihm stand, beruhigend zu. »Natürlich, Herr Wolf. Ich habe eine kleine Magenverstimmung, das ist alles.«

Richard Wolf war sein Assistent, ein kluger, wendiger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der von seinen Freunden, wie Niklas kürzlich amüsiert erfahren hatte, wegen seines südländischen Aussehens ›Ricardo‹ genannt wurde. Er hatte pechschwarze Haare, dunkle Augen und ging vermutlich ins Solarium, weil er stets aussah, als käme er gerade aus einem Urlaub unter südlicher Sonne. Er war ein großer Frauenheld, auch das hatte Niklas ganz nebenbei mitbekommen. Doch das Privatleben seines Mitarbeiters interessierte ihn nicht, so lange dieser einwandfrei arbeitete, und das tat er. Er war der bei weitem beste Assistent, den Niklas je gehabt hatte.

Sein Herz schien sich beruhigt zu haben. »Kommen Sie«, sagte er mit erzwungener Ruhe, »wir gehen wieder hinein. Ich werde ein Glas Wasser trinken, dann wird sich mein Magen schon beruhigen.«

Richard Wolf sah so aus, als wolle er etwas einwenden, doch Niklas’ verschlossenes Gesicht warnte ihn, und er ließ es bleiben. Er sagte nur: »Gut, ich bin froh, daß es nichts weiter ist.«

Er ahnt etwas, dachte Niklas. Meine Güte, wenn sich herumspricht, daß ich Probleme mit dem Herzen habe, was wird dann sein? Werden sie mich überhaupt noch ernst nehmen?

Er war ein sehr disziplinierter Mensch, der sich strikt an die Anweisungen seines Arztes hielt: Er rauchte und trank nicht, sah sich mit dem Essen vor und trieb mäßig Sport, um sich fit zu halten. Aber wenn das alles nicht mehr genügte, um ihm ein einigermaßen beschwerdefreies Leben zu garantieren?

Richard Wolf öffnete die Tür und ließ ihm höflich den Vortritt. Sämtliche Gesichter wandten sich Niklas zu, der es irgendwie schaffte, unbefangen zu lächeln und zu sagen: »Eine kleine Magenverstimmung, entschuldigen Sie bitte. Wo waren wir stehengeblieben?«

Alle wandten sich wieder den vor ihnen liegenden Papieren zu, und die Sitzung wurde fortgesetzt. Nach einer Viertelstunde hatte Niklas sein Herz vergessen. Er hielt eine leidenschaftliche Rede, um für eine Neuerung zu werben, der mehrere der Direktoren skeptisch gegenüber standen – und am Ende hatte er sie überzeugt.

Der kleine Zwischenfall war vergessen.

Erleichtert kehrte er mit Richard Wolf in sein Büro zurück. Dieses Mal war es noch gut gegangen, aber ihm wurde klar, daß er mit seinen Eltern reden mußte. Nur wenige Menschen wußten von seinem Herzfehler – seine Eltern natürlich, sein Arzt und einige wenige enge Freunde der Familie. Er fürchtete immer mehr, daß es nötig sein könnte, einen weiteren Nachfolger für das Familienunternehmen zu bestimmen, er allein würde der Belastung auf Dauer vielleicht nicht gewachsen sein. Es war eine Illusion gewesen, das zu glauben, dieser kleine Anfall heute Morgen hatte ihm das deutlich gemacht. So etwas konnte immer wieder passieren, obwohl er eigentlich lange Zeit Ruhe gehabt hatte. In den letzten Wochen jedoch hatte sich sein Herz sehr nachdrücklich in Erinnerung gebracht.

Im Augenblick war sein Vater auf einer Geschäftsreise in China, seine Mutter begleitete ihn. Doch sobald die beiden zurückgekehrt waren, würde er mit ihnen reden. Das würde für sie alle drei ein schmerzliches Gespräch werden, dem er jedoch nicht länger ausweichen durfte.

Er sah auf und bemerkte, daß sein Assistent ihn forschend ansah. Als sich ihre Blicke trafen, wandte sich Richard Wolf verlegen ab. »Brauchen Sie mich noch, Herr Vandenbeck?« fragte er. »Wenn nicht, würde ich jetzt zuerst das Protokoll schreiben.«

»Tun Sie das, Herr Wolf. Je eher wir es auf dem Tisch haben, desto besser.«

Der junge Mann verließ eilig den Raum. Niklas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig, als habe es nie etwas anderes getan. Früher hatte es ihn oft mit Bitterkeit erfüllt, daß er nicht so gesund und robust gewesen war wie seine Freunde, im Laufe der Jahre hatte er jedoch gelernt, besser damit umzugehen. Aber wenn es wirklich darauf hinauslaufen sollte, daß er die Leitung der Firma nicht allein würde übernehmen können, weil er der Belastung nicht gewachsen war – nun, ein schmerzlicheres Opfer konnte man ihm kaum abverlangen.

Er nahm die Arme herunter und wandte sich den Notizen zu, die seine Sekretärin ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Noch war nichts entschieden. Vielleicht sah er im Augenblick ja auch einfach zu schwarz?!

*

»Sie ist reizend, aber etwas stimmt nicht mit ihr«, stellte Dr. Julia Martensen mit leiser Stimme fest, während sie in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg einen etwa zehnjährigen Jungen behandelte. In seiner linken Fußsohle steckte ein Nagel, und er versuchte tapfer, seine Tränen zurückzuhalten.

»Wie meinst du das?« fragte Dr. Adrian Winter, der gerade hereingekommen war, um zu fragen, ob sie Hilfe brauchte, was aber ganz offensichtlich nicht der Fall war. »Und vor allem: Wen meinst du?«

Adrin leitete die Notaufnahme seit einigen Jahren, als jüngster Chefarzt der Klinik. Er war Unfallchirurg, während Julia Internistin war und gewöhnlich auf der Inneren Station arbeitete. Aber sie ließ sich regelmäßig für den Dienst in der Notaufnahme einteilen, um nicht ›einzurosten‹, wie sie es nannte. Sie war bedeutend älter als Adrian, was man aber meistens vergaß, weil sie immer voller Tatkraft und Energie zu sein schien.

»Schwester Clarisse natürlich«, antwortete sie, noch ein wenig leiser, obwohl der kleine Patient ihnen sowieso nicht zuhörte, da er ganz damit beschäftigt war, die Zähne zusammenzubeißen – und sonst war niemand in der Nähe.

Clarisse Colbert – sie hatte französische Vorfahren, daher ihr Name – arbeitete erst seit kurzem in der Notaufnahme, als Nachfolgerin einer Schwester, die man nach wenigen Tagen bereits wieder hatte entlassen müssen.

Adrian war froh über diese Verstärkung seines Teams, die er seinem Freund und zukünftigen Schwager Thomas Laufenberg zu verdanken hatte. Thomas war der Verwaltungsdirektor der Klinik und außerdem der Verlobte von Adrians Zwillingsschwester. Er war ständig bemüht, den Personalnotstand in erträglichen Grenzen zu halten, doch mehr als Übergangslösungen hatte er zumindest der Notaufnahme bisher nicht bieten können. Clarisse Colbert aber sollte länger bleiben, zumindest war es im Augenblick so geplant.

»Ist dir schon mal aufgefallen, daß sie manchmal völlig abwesend ist?« fragte Julia. »Dann steht sie mehrere Sekunden lang da, ohne sich zu rühren. Wenn man sie anspricht, zuckte sie zusammen, wird rot und versucht ihre Arbeit dann doppelt so schnell zu machen.«

»Ja«, gab Adrian zu, »das habe ich auch schon ein- oder zweimal erlebt, aber das heißt doch nicht gleich, daß etwas mit ihr nicht stimmt, Julia!«

»Doch!« erwiderte seine Kollegin unerwartet hartnäckig. »Wir sollten sie im Augen behalten,

Adrian. Ich habe sie gestern darauf angesprochen.«

»Und? Wie hat sie reagiert?«

»Sie hat mir beteuert, das werde nicht wieder vorkommen, sie sei nur etwas müde gewesen. Aber sie hat mich nicht ansehen können, als sie das gesagt hat. Sie hat Probleme, das könnte ich beschwören.«

»Wenn du das so siehst, werde ich mich darum kümmern«, versprach Adrian und schob sich eine Strähne seines dichten dunkelblonden Haars aus der Stirn. »Ich hatte bisher zu wenig mit ihr zu tun, um mir schon ein Urteil erlauben zu können. Du siehst das sicher klarer als ich, ich verlasse mich auf dein Gespür.« Er seufzte. »Ich war so froh, daß wir die sogenannte Schwester Doris endlich wieder los sind, Julia! Und nun soll ich mir also schon wieder Sorgen machen?«

Schwester Doris war zur Aushilfe in der Notaufnahme gewesen, aber Adrian hatte sich nach zehn Tagen bereits wieder von ihr getrennt, weil er mit ihrer Arbeit nicht zufrieden gewesen war. Danach erst hatte sich herausgestellt, daß ihre Zeugnisse raffinierte Fälschungen gewesen waren. Adrian erinnerte sich nur mit Schrecken an den Schaden, den sie hätte anrichten können, wenn sie länger in der Notaufnahme gearbeitet hätte.

»Clarisse ist mit Doris überhaupt nicht zu vergleichen, es ist doch völlig klar, daß sie eine hervorragende Krankenschwester ist, Adrian. Ich möchte nur wissen, was für Probleme sie hat, das ist alles.«

Julia hatte mittlerweile den Nagel aus dem Fuß des Jungen entfernt, die Wunde desinfiziert und verbunden und half ihm nun, sich aufzurichten. »Siehst du die Mutter irgendwo da draußen, Adrian? Sie kann ihren Sohn jetzt wieder in Empfang nehmen.«

Adrian winkte die kleine rundliche Frau heran, die auf dem Gang hin- und herlief.

»Ich kann nicht auftreten«, jammerte der Junge.

»Wenn es gar nicht geht, fahren wir dich mit dem Rollstuhl auf den Parkplatz«, sagte Julia. »Deine Mama hat ja ein Auto dabei, sie fährt dich nach Hause. Das wird schnell abheilen, keine Sorge.«

Es stellte sich dann heraus, daß der Junge am Arm seiner Mutter humpeln konnte, in einem Rollstuhl wollte er nämlich auf keinen Fall sitzen. Die Mutter bedankte sich bei Julia und verließ mit ihrem Sohn, der nun doch die Tränen fließen ließ, langsam die Notaufnahme.

»Es ist so ruhig heute«, wunderte sich Adrian, »im Wartezimmer sitzt kein Mensch – wann hat es das je gegeben?«