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Über dieses Buch:

Weihnachten steht vor der Tür und die zwölfjährige Vanessa und ihre jüngeren Geschwister haben nur einen Wunsch für dieses Jahr: Es soll festlich werden! Ihre Mutter lässt sich zwischen ihren Affären jedoch selten zu Hause blicken und wenn, hat sie nur harte Worte für ihre Kinder übrig. Um das Weihnachtsfest zu retten, sperren Vanessa und ihre Geschwister die Mutter kurzerhand im Keller ein – zum Ausnüchtern und um sie an ihre Familie zu erinnern. Doch aus dem kurzen Experiment werden Tage, aus Tagen werden Wochen. Und plötzlich stellt sich den Kindern die grauenhafte Frage: Wozu brauchen sie überhaupt noch eine Mutter?

»Gillian White setzt die schaurigen Zutaten ihrer Geschichten kontrolliert und intelligent ein.« Independent on Sunday

Über die Autorin:

Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.

Bei dotbooks erschienen auch ihre Romane: Das Ginsterhaus, Denn du bist mein, Hexenwiege, Ein unheimlicher Gast, Das Familiengrab, Das Hotel bei den Klippen, Der Fluch der alten Dame, Der Peststein und Der Nachmieter.

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eBook-Neuausgabe Juli 2018

Dieses Buch erschien bereits 1995 unter dem Titel Teufelsbrut bei Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1993 by Gillian White

Die englische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel Mothertime bei Orion.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1995 by Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Lorena Tempera

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-415-7

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Gillian White

Du kannst uns nicht entkommen

Roman

Aus dem Englischen von Eva Malsch

dotbooks.

1

Um halb drei Uhr am Weihnachtsmorgen nahmen sie ihre Mutter gefangen.

Es ging nicht anders. Es war eine gute Tat – oder zumindest notwendiger Selbstschutz. Eine traurige, kluge Entscheidung, wie sie normalerweise von Staatsbeamten getroffen wird, die ungefährdet hinter dicken Glasscheiben sitzen.

Tiefer Winter.

Mitternacht.

Trostlos und eiskalt, aber kein Wind stöhnt.

»Und noch etwas, himmlischer Vater, manchmal wache ich auf und habe schreckliche Angst vor all den Dingen, die mir tagsüber passieren könnten. Warum hast du uns Menschen so geschaffen, daß wir verstehen können, was Qualen sind ...?«

Durch das helle Viereck des Vorhangs, durch den sicheren verschleierten Abstand fremder Leute können wir beobachten, wie Vanessa Townsend ihr Gespräch mit Gott beendet. Soeben hat sie »Das Schweigen der Lämmer« beiseite gelegt. Winternebel umgibt die antiquierte Straßenlampe vor ihrem Fenster, schweigend festgehalten von nächtlicher Stille. Das hellwache Mädchen duftet schwach nach Johnson's Powder, in makelloses Weiß gekleidet, wartet auf die Heimkehr der Mutter, zwingt sich, gut achtzugeben.

Sobald es ruhig im Haus geworden ist und die Mutter sich nach oben ins Bett geschleppt hat, wird Vanessa mit den Kissenbezügen umherschleichen, die sie hinten in ihrem Schrank versteckt, dann kann sie das Licht abschalten und ihr Gehirn. Der Morgenmantel liegt auf der Bettkante bereit. Innerhalb der Hausmauern scheint nichts zu geschehen, die Stille ist vollkommen.

Letztes Jahr erlebten sie kein richtiges Weihnachtsfest, und Vanessa schwor auf ihre heilige Bibel, sie würde so etwas nie wieder geschehen lassen. Sie trägt die Verantwortung, sonst gibt es niemanden, der sie übernehmen könnte. Nur von ihr hängt es ab, und sie glaubt, sie hätte sich an alles erinnert – genauso, wie es früher war. Der Kühlschrank ist gefüllt, und in der Speisekammer steht ein Marks&Spencer-Weihnachtskuchen. Auch an die Cracker hat sie gedacht, sogar an eine Packung Feuerwerkskörper.

Dominic, »der Mann im Haus«, Camilla und die Zwillinge, Sacha und Amber – nun, die schlafen jetzt, mit der strengen Anweisung ins Bett gebracht, sie sollten es bloß nicht wagen, vor sieben Uhr aufzuwachen. Aber das muß Vanessa ohnehin nicht befürchten. Alle sind erschöpft. Sie schleppten die Kiste mit dem Weihnachtsschmuck vom Dachboden herunter, dann verbrachten sie den Abend damit, die Halle zu schmücken, den Salon, den süß duftenden Baum, den sie nach dem Tee bei Mr. Gribble abgeholt hatten. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, alles herzurichten, denn es ist ein großes Haus, sehr elegant, in georgianischem Stil, mit hohen Zimmerdecken und breiten Treppenfluchten. Die beiden erleuchteten Ananasfrüchte von Tiffany, die auf ihren schmiedeeisernen Pfosten neben der grandiosen marineblauen Eingangstür Wache halten, gehören zu Mutters Protest gegen alles, was sie »die Mittelmäßigkeit dieser verdammten Welt von Boots, Barratts und Bradford & Bingley« nennt. Das ganze Haus ist jetzt nach ihrem Geschmack eingerichtet – bonbonfarben, mit wattierten Vorhängen und Schleifen, mit bohnengrünen Jadevasen in Alkoven, von Spots angestrahlt, und Teppichen, so dick, daß man überall unbemerkt umhergehen kann.

Unter dem Baum liegen die Geschenke für Mutter – eins mit einem Band, das teuer aussieht und von Daddy stammen muß. Es blieb den Kindern vorbehalten, die Weihnachtspost zu öffnen, die von der Mutter ignoriert wurde. Oder sie riß die Kuverts achtlos und gleichgültig auf. Sie verteilten die Karten auf dem Kaminsims, in Bücherregalen, auf Wattestreifen entlang der Wände, um alle ordentlich zur Schau zu stellen.

Hundertsiebenundvierzig Karten. Irgendwo müssen also irgendwelche Leute leben, die Mutter früher einmal gemocht haben. Sie behauptet immer, sie sei sehr beliebt.

Am Abend, als Dominic gerade auf der Trittleiter balancierte und Silberfäden über den Baum mit dem Weihnachtsengel drapierte, wurden sie von Ilses Rückkehr bei der Arbeit gestört. »O Gott!« Ihre blauen Augen drohten hervorzuquellen. In ihren goldgelben Leggings und dem wattierten seidigen blauen Anorak sah sie wie eine Weihnachtskartenfigur aus – ein Engel mit einem Rotkehlchen auf der Schulter. Sie hob zwei zierliche behandschuhte Hände, als wollte sie einen Steptanz vollführen. »Was wird Mrs. Townsend sagen, wenn sie das sieht?«

Die Kinder erstarrten und gafften sie an. Hinter den runden Brillengläsern der Zwillinge glitzerten die Augen wie Steine. Zu beiden Seiten ihrer kleinen Köpfe umklammerten riesige karierte Schleifen dichtes steifes Haar. Ein gezwungenes Lächeln entblößte Zahnlücken. Sie können sich's leisten, Ilse zu ignorieren, und es würde ihnen leichtfallen, schon morgen für die Kündigung des Mädchens zu sorgen. Ilse weiß das auch. Mutter wäre schockiert, wenn sie erführe, wie oft Ilse ausgeht, während sie auf die Kinder aufpassen müßte. Oder wie oft sie Männer in ihr Schlafzimmer mitnimmt, hoch oben in der Lebkuchenfassade des alten Hauses. Sie hat ihren eigenen winzigen Balkon, aber dort muß sie nicht so kokett wie Julia warten, denn sie benutzt ihre eigene Hintertreppe.

»Morgen wird's vielleicht schneien. Das haben sie im Radio gesagt.« Ilse inspizierte den Baum. Am Boden lag ein Päckchen für sie. Vanessa hatte den Geschenkanhänger für die ganze Familie unterschrieben, Mutter eingeschlossen. Aber Ilse zeigte nicht das geringste Interesse.

»Hier schneit es nie zu Weihnachten«, erklärte Camilla der Schwedin.

»Ihr solltet längst im Bett liegen, vor allem die Kleinen.« Ihre Lippen waren geschwollen und rissig. Den Kragen hatte sie hochgeschlagen, um zu verbergen, was Dominic ihre Vampir-Bisse nennt. Sie machte sich nicht die Mühe, noch irgendwas zu sagen. Mit einem manierierten Seufzer wandte sie sich ab und verschwand. Sie hörten, wie sie in der Küche Eiswürfel in ein Glas warf und dann mit ihrem Drink nach oben ging. Am Nachmittag hatte sie ihr Haar gewaschen und ihre Kleidung für den nächsten Tag bereitgelegt. Am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag mußte sie nicht arbeiten. Sie würde bei ihren neuen Freunden in Wimbledon wohnen.

Die Zeit verstrich – es wurde Mitternacht, dann eins, halb zwei. Jetzt sitzt Vanessa im Bett, ganz in Weiß wie ein Porzellankind, die Beine unter der Decke ausgestreckt wie ein schlafender Polizist. O ja, all die Geschenke in den Kissenbezügen sind sorgfältig verpackt und mit Anhängern versehen, im Lauf der letzten Monate liebevoll ausgesucht, erstanden mit dem Geld, das sie der Mutter unter Vorspiegelung falscher Tatsachen entlockt, bei Schulausflügen oder Einkäufen gespart hat. Erstaunlich, wieviel dabei zusammenkam ... All diese kleinen Summen fügte sie den größeren Beträgen hinzu, die Daddy ihr gab. Es ist auch verwunderlich, wie einfach das Leben verläuft, seit Mutter sich in Bart verliebt hat, eine Beziehung, die viel länger dauert als irgendeine andere, an die sich ihre älteste Tochter erinnern kann, seit Daddy weggegangen ist.

Die zehnjährige Camilla sagt, Bart sei eine Null.

Mutter kommt heim. Vanessas Augen verdunkeln sich. Sie hat das Gefühl, schon jahrelang auf ihre Mutter zu warten.

In ihrem Schlafzimmer im ersten Stock des dunklen Hauses, schwach beleuchtet von der Nachttischlampe, über der Vorderveranda an der Camberley Road, hört Vanessa den flüsternden Motor, als Barts neuer BMW lethargisch anhält. Dicke Reifen saugen sich am Rinnstein fest. Sie sieht die Scheinwerfer verlöschen, wie die Lider eines Zechers, die sich trunken hinabsenken. Geparkte Autos säumen die Straße, dunkle Hügel, die sich säuberlich aneinanderreihen, dicht an dicht, denn ringsum wollen die Leute diese besondere Nacht zu Hause verbringen. Sie möchten bei ihren Kindern sein. Überall da draußen ist es so, wie es sein sollte. Die Stille der Weihnachtsnacht, sanfte, vom Feuerschein erhellte Vorfreude auf den Weihnachtsmorgen. Nicht einmal die Bäume im Park auf der anderen Straßenseite seufzen in finsterem Schweigen. Und der Nebel hängt wie eine Girlande um den Lampenpfosten. Als Kind glaubte Vanessa, im Gestrüpp am Wegrand würden Wölfe lauern, die zwischen Eichen und Birken dahinschleichen, inmitten der fernen Kiefern heulen, die sich so einsam vor dem Himmel abzeichnen.

Mutter kommt heim.

Vanessas Nerven spannen sich an, und sie runzelt die runde Stirn, während sie abwartet, ob Bart hereinkommt oder davonfährt, wie er es manchmal tut, zurück zu seiner Frau in Potters Bar, die nicht weiß, daß er mit Mutter ausgeht, sondern glaubt, er wäre mit Freunden in seinem Fitneßclub in der City. Bitte, komm herein, Bart, bitte, komm herein!

Vanessa weiß, daß Mutter wegen dieser Ehefrau den ganzen Weihnachtstag allein sein wird. »Niemand mag mich«, wird sie schluchzen und das konstante Geplärr des Fernsehers übertönen. (Sie liebt Spielshows.) Die langen roten Fingernägel zusammengekrallt, wird sie sich zum Spiegel neigen, die tränennassen Wangen voller zerflossener Wimperntusche. »Und ihr seid auch nur hier, weil euer Vater euch nicht haben will, Kinder – der und seine ekelhafte, arrogante Frau!«

Der Fitneßclub wird geschlossen sein. Alles ist geschlossen, sogar Alis Laden an der Ecke, aber wenn Bart Glück hat, wird er ein Telefon finden und Mutter anrufen. Und sie wird mit ihm reden, über den Apparat im Schlafzimmer gebeugt, im schrecklichen Chaos ihrer ungepflegten Kleider, die den Teppich wie verwehte Blütenblätter bedecken. Wenn er sich nicht meldet, wird der Weihnachtstag verdorben, noch schlimmer als sonst sein. Bestenfalls können sie hoffen, daß Mutter schlafen wird, bis das Telefon klingelt – daß dies ihre Laune bessern möge –, daß sie etwas anderes anziehen wird als den schlampigen Morgenmantel.

Während die Zeit vergeht, wird Mutter in die geballte Stille jenseits des wilden Fernsehgeschreis murmeln: »Verdammt, ruf doch an!«

Die Nonnen in der Schule lächeln sanft und sagen, Weihnachten sei die Zeit der Unschuld. Vanessa besucht die Klosterschule zum Heiligen Herzen, weil Daddy Katholik ist und das Schulgeld bezahlt. Nächstes Jahr wird auch Camilla dorthin gehen, wenn sie die schwierige Aufnahmeprüfung besteht. Beim Krippenspiel durfte Vanessa die Maria spielen, obwohl sie zu den jüngsten Schülerinnen zählt, »weil dein Gesicht eine seltene Reinheit ausstrahlt – eine gewisse süße Heiterkeit, meine Liebe, besonders wenn du so dreinschaust«, bemerkte Schwester Agnes und hob ihr Kinn mit einem eiskalten Finger hoch, während sie das Profil betrachtete.

Diese Worte hat Vanessa auf die erste Seite ihres Tagebuchs geschrieben und hütet sie nun wie einen kostbaren Schatz.

Mutter jammert, Vanessa sei ein unscheinbares Kind, das vielleicht, wenn es Glück hat, eines Tages erblühen wird, aber sie zweifelt daran. »Vor allem, du gerätst nach deinem Vater, und dagegen kann man wenig tun.« Vanessa versteht nicht, was Mutter meint. Sie sieht Daddy überhaupt nicht ähnlich, wenn sie auch wünscht, es wäre so. Die Leute behaupten, Mutter sei schön, aber ihre Kinder wissen, daß sich hinter der glanzvollen Fassade keinerlei Schönheit verbirgt. Nicht einmal das Haar ist echt; unter den diversen Perücken, die im vollgestopften, parfümierten, stickig heißen Dschungel des Schlafzimmers auf ihren Ständern hocken, pflegt sich mausgraues, borstiges, kurzgeschnittenes, nur selten zur Schau gestelltes Haar zu verbergen. Im Haus wandert sie mit einem Kopftuch umher, wie eine Trümmerfrau, hinterläßt überall ihre eigene, ganz besondere Verwüstung, randvolle Aschenbecher und halbleere Gläser. Die Farbe in ihrem Gesicht heißt Clinique und wird mit Pinseln aus Zobel- und Dachshaar aufgetragen. Früher mag sie die Titelseiten der alten Zeitschriften geziert haben, die sie in ihrem Nußbaumschrank verwahrt und manchmal wehmütig betrachtet. Aber jetzt ist sie nicht mehr schön oder glamourös. Sie ist häßlich und zornig, und in den Kniekehlen hat sie kleine rote Adern. Weil sie so viele Kinder bekommen hat – und das nur, weil Daddy Katholik ist.

Am nächsten Tag werden die Kinder aufpassen müssen, um sie nicht zu stören.

Letzte Woche trat Mutter in einem alten TV-Werbespot auf, der zum Spaß gesendet wurde. In einem engen Rock und Netzstrümpfen schob sie einen Staubsauger vor sich her. Vanessa lächelt zwischen zwei aneinandergelegten Daumen, während sie sich daran erinnert. Caroline Heaten, wie Mutter damals hieß, starrte ihnen vom Bildschirm entgegen – eine fremde Frau mit Wimpern, die wie Spinnenbeine aussahen, und hochgetürmtem Haar. »Still! Schaut doch alle hin!« Aufgeregt neigte sich Mutter vor, und ihr Gesicht wurde so schmal, das Kinn so spitz, daß sie einer Hexe glich. Glücklicherweise war Bart noch nicht eingetroffen, also blieb ihr diese Demütigung erspart, denn der altmodische Spot wirkte einfach idiotisch. Das Publikum in der Fernsehsendung brüllte vor Lachen, und als Mutter das merkte, streckte sie sich auf dem Sofa aus und streichelte ihren eigenen Arm. Sie wurde blaß, und ihr Mund kräuselte sich um die Zigarette wie ein Beutel, von einer Schnur zusammengezogen. Vanessa spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Sekundenlang tat ihr die Mutter leid wie nie zuvor. Den Glanz in den traurigen Augen hielt sie für Tränen. Aber als Camilla ihr Kichern nicht unterdrücken konnte, fuhr Mutter hoch und schlug sie ins Gesicht. Die Zehnjährige schnappte nach Luft. Mutters Gesicht war völlig ausdruckslos.

Oft jammert sie über ihre entschwundene Prominenz. Daddy ist immer noch berühmt.

Wann immer er auf dem Bildschirm erscheint, schaltet sie den Fernseher ab, aber Dominic zeichnet jede »Update«-Sendung in seinem Zimmer mit dem Videorecorder auf, sogar die Wiederholungen. Wenn Mutter ausgeht, schauen sich die Kinder diese Videos begeistert an, obwohl sie nicht viel von dem trockenen politischen Zeug verstehen.

Aber es ist nicht so, wie es in der Geburtsnacht des kleinen Jesus sein sollte.

Man kann nur versuchen, es irgendwie richtig zu machen.

Bald wird Mutter das Haus betreten. Verzweifelt hofft Vanessa, Bart möge mitkommen, denn seine Anwesenheit würde Mutters Reaktion auf die Weihnachtsvorbereitungen mildern. Wenn er da ist, beherrscht sie sich. Mit ihren Fingerspitzen verteilt sie kalte, flatternde Küsse, und manchmal streicht sie über einen Kinderkopf, der zufällig in ihre Nähe gerät.

Vanessa hört den Fluch und das heisere Gelächter, bevor die Autotür knallt, bevor die hochhackigen Stiefel klicken. Sie gehen um die lange silberne Motorhaube herum und nähern sich dem Gehsteig. Hohle Geräusche, als die Stiefel zum Haus trippeln, zu den kalten weißen Ananasfrüchten – immer macht Mutter diese langen Schritte, wie ein Model oder eine Katze –, das Wagenfenster surrt herunter, und Vanessa hört eine gedämpfte Bemerkung von Bart, dann lallt die Mutter: »Du hast schon alles gesagt, Bart. Also brauchst du's nicht noch schlimmer zu machen. Jetzt weiß ich, woran ich bin, also hau ab, du Arschloch!« Ihre bösartige Stimme durchsticht die sanfte nächtliche Stille wie eine Nadelspitze. »Verdammt noch mal, verschwinde endlich!«

»Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund!« Vanessas hektisches Flüstern sprudelt so schnell aus dem Mund, daß es allen Speichel mitnimmt. Sie fährt sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. In einer Minute wird das Haus leicht erzittern, wenn Mutter die Tür zuwirft.

Das lauschende Kind hebt ein wenig den Kopf, das kleine, müde Gesicht nimmt einen ernsten, nervösen Ausdruck an. Viertel vor zwei, verrät der Wecker auf dem Nachttisch mit den Lamettastreifen, denn sie hat der Versuchung, ihn zu schmücken, nicht widerstehen können. Nun huscht sie durch das Zimmer und nimmt den Kamm vom Toilettentisch, der einem Altar gleicht, mit weißem Musselin behangen, auf dem eine schlanke, nicht entzündete Kerze steht. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel zeigt große, dunkle Augen, die nicht mit der Wimper zucken. Schmerz liegt darin, so wie in Daddys Blick, und ein Hauch von Violett. Sie kriecht wieder ins Bett und schiebt die Ärmel des weißen Nachthemds zurück. Im Laden, wo sie's kaufte, gab es alle möglichen Farben – sie wählte Weiß, wegen der reinen Ausstrahlung. Sie beginnt, ihr glattes braunes Haar zu kämmen, in langsamem, beruhigendem Rhythmus, fast besessen von der Intensität ihrer eigenen Bewegungen. Inzwischen ist das Auto weggefahren, und nach einer langen Pause hört sie das Gefummel mit dem Schlüssel am Schloß. Mit klirrendem Peng fällt er auf die Verandastufen, und Mutter stolpert – aus ihrem Mund dringt ein seltsamer, gurgelnder Laut.

Niemals geschieht etwas Schönes, wenn Mutter daheim ist.

Oh, lieber Gott, hilf mir. Zeig mir, was ich tun soll. Das sorgsam geplante Weihnachtsfest wird sich in eine elende Farce verwandeln, in ein wildes Durcheinander, von der enthemmten Mutter erzeugt.

Die Zwölfjährige starrt nachdenklich in ihren Schoß und preßt die Hände fest zusammen, verbiegt den glänzenden rosa Kamm, bis er entzweibricht – als hätte sie zu heftig mit der Hoffnung gespielt, sie zu sehr geliebt, sie so leidenschaftlich mit Zärtlichkeiten überschüttet, daß das Gefühl sterben mußte wie jener Wassermolch, den sie einmal fand, der Kaltblüter, der ihre Liebe nicht brauchte. Tat sie das wirklich?

Es sei besser zu lieben, als geliebt zu werden, sagt Mutter, denn da müsse man nicht soviel Verantwortung tragen.

»Stille Nacht, heilige Nacht.« Vanessa weiß, daß sie weint, denn sie schmeckt die salzigen Tränen. Sie möchte nicht weinen, keine Flecken ins Kissen machen, nicht gestaltlos und schutzlos sein.

2

Der Krach auf den Stufen scheucht Vanessa in Camillas Zimmer. Barfuß, das Gesicht von wippenden Ringellöckchen umrahmt, schaut sie so verblüfft drein wie Schneeweißchen, vom Bären aufgeschreckt.

»Ich dachte, du würdest schlafen«, sagt Vanessa.

»Mutter ist wieder da.«

»Ja, ich weiß. Ich hörte die Tür zufallen. Jetzt versucht Mutter, die Treppe hinaufzusteigen. Gleich wird sie sehen, was wir gemacht haben.«

»Ist Bart mit ihr hereingekommen?« Hoffnung schwingt in der schrillen Frage mit.

»Nein. Ich glaube, sie hat sich mit ihm zerstritten.«

Verständnisvoll nickt Camilla. Ihr spitzes Gesichtchen verzerrt sich, und sie reißt die schrägstehenden Augen weit auf, so wie immer, wenn sie von Sorgen und schwierigen Problemen gequält wird. Wenn sie sich in Szene setzt und ihren speziellen Schmollmund zieht, sieht sie genauso wie die todschick gekleidete Mutter auf den Fotos in den alten Zeitschriften aus. Und das Haar schimmert wie pures Gold. »Was wird sie jetzt tun?«

»Keine Ahnung. Das hängt davon ab, wie schlimm sie sich fühlt.«

»Was soll aus dem Baum werden, wenn wir ihn nicht beschützen? Wird sie ihn kaputtmachen?«

Halb krank vor Angst, kann Vanessa nicht antworten. Sie weiß, was sie sagen muß, also kann sie es genausogut aussprechen. »Gehen wir lieber hinunter. Vielleicht – wenn sie ihre Geschenke auspackt ...«

»Wir sollten alle dabeisein, besonders Dominic.« Mutter mag Dominic.

»Aber wir wollen doch nicht, daß sich die Zwillinge fürchten.«

»Sei nicht albern, Vanessa. Sacha und Amber fürchten sich nicht mehr. Ebensowenig wie du.«

Ist das der Grund, warum sie sich so sehr um ein richtiges Weihnachtsfest bemüht hat? Weil sie sich fürchtet? Ist es eine Trotzreaktion? Oder hat sie es aus reiner Angst heraus getan? Wenn Vanessa auf Weihnachten verzichtet, wird sie vielleicht auch ihre Kindheit verlieren. Wie auch immer, im Augenblick hat sie das alles satt. Sie hätte wissen müssen, daß es niemals klappen würde. Was hat sie überhaupt erwartet? Daß Mutters Gesicht vor Freude strahlen, daß der Anblick der Lichter am Weihnachtsbaum sie zurückverwandeln würde in eine wundervolle Frau, so als wäre sie von einem Zauberstab berührt worden? Der Versuch war einfach lächerlich, und jetzt müssen sie den Preis dafür bezahlen. Während der Vorbereitungen sah alles noch ganz anders aus.

»Wenn ihr euch bei Robin beschweren wollt – ich kann euch genau erzählen, was dann passieren wird«, sagte Mutter letztes Jahr, als sie zeitig am Morgen erwachten und glaubten, die vertrauten, mit Geschenken gefüllten Kissenbezüge würden am Fußende der Betten stehen. Hastig und ärgerlich brachte sie ihre Ausreden vor. Sie sei krank, im Kopf ganz durcheinander, und wie könne man von ihr erwarten, sie würde sich zurechtfinden, nach allem, was Daddy ihr angetan habe? »Er wird ganz schrecklich nett sein«, warnte sie die Kinder, »und vor Mitleid zerfließen, und dann könnt ihr alle zusammen über mich herziehen. Sicher wird er mit euch ausgehen und kaufen, was immer ihr wollt, um mein schlechtes Benehmen wiedergutzumachen. Aber ich weiß, was am Ende des Tages geschehen wird, denn Suzie will euch auf keinen Fall in der Wohnung haben. Übrigens, hier müssen wir bald ausziehen. Dann habt ihr kein Zuhause mehr. Robin wird aufhören, die Instandhaltungskosten zu zahlen. Und wir können es uns nicht leisten, noch länger hier zu bleiben. Ihr werdet alle in Internate gesteckt, Gott weiß wo! Er ist ja so furchtbar eigensinnig und unvernünftig.« Sie starrte ihre Kinder an, eins nach dem anderen, und jedes schien unter dem durchdringenden Blick zu verwelken. In die Augen wilder Tiere darf man nicht zurückstarren, denn das schürt ihre Feindseligkeit, und alles wird noch schlimmer. Sie sog den Zigarettenrauch tief in ihre Lungen und blies ihn fast fröhlich in die Luft. »Was glaubt ihr also, wo ihr die Feiertage verbringen werdet?«

»Bei Granny?« schlug Vanessa fast tonlos vor.

Mutter schnaufte verächtlich. »Bildet euch das bloß nicht ein! Der Staat trifft besondere Vorkehrungen für Kinder wie euch. Diese Beamten nehmen ihre Formulare, inspizieren Isobels Haus und stellen fest, daß es völlig ungeeignet ist. Isobel haßt Kinder. Außerdem hält Robins Mutter eisern an ihren strengen Grundsätzen fest. Sie regt sich schon über ein winziges Staubkörnchen auf. Niemals käme sie mit euch zurecht. Nein, es gibt andere, speziell ausgebildete Leute, die euch aufnehmen werden. Zweifellos wird Robin euch manchmal besuchen oder irgendwas mit euch unternehmen, so wie jetzt, wenn's ihm gerade in den Kram paßt.«

»Und wo bleibst du, wenn wir in den Ferien zu solchen Leuten kommen, Mutter?« Dominics Wangen hatten sich gerötet. Ihr einziger Sohn. Er war sichtlich den Tränen nahe.

»Wo ich bin, interessiert niemanden. Es war niemals wichtig, und es wird auch niemals wichtig sein«, brach es aus Mutters gepeinigter Seele hervor.

Sie schaltete den Fernseher aus. Niemand von der Familie war vollständig angezogen. Damals hatte die Affäre mit Bart noch nicht begonnen. Es gab einen jungen Burschen namens Douglas den verrückten, meist gedopten, verdreckten Douglas mit fettigem schwarzen Haar und Silbernieten am Rückenteil seiner Jacke. Während dieser Phase trug Mutter ihre lange, glatte Perücke mit den Ponyfransen – orangegelb, ein krasser Kontrast zu ihrem Gesicht. Dazu schwarze Polohemden und hautenge Jeans. Ein Hammel, als Lamm verkleidet. Sie tanzte mit Douglas im Salon, bis spät in die Nacht hinein. »On the Wings of Love«. Wegen seiner klobigen Stiefel fiel es ihm schwer, sich anmutig zu bewegen. Sie kaufte ihm ein Motorrad, damit er einen Job bekam und in ganz London Pakete austragen konnte. Daddy lachte, als die Kinder es ihm erzählten. Es hörte sich so an, als wollten sie Mutter verpetzen. Er grinste, während Suzie die Brauen hob und eine Grimasse schnitt. Einmal beobachtete Vanessa, wie ihr Mund die Worte formte: »Misch dich nicht ein.« Mit der üblichen honigsüßen Verachtung.

Ist Mutter ein hoffnungsloser Fall, wie Granny zu behaupten pflegt?

Jedenfalls verschwand Douglas eines Morgens – zweifellos zu Suzies größter Belustigung – in einer riesigen Auspuffwolke und kehrte nie zurück. Aber Mutter verwahrt sein Foto in ihrer Geldbörse, im Fach für die Briefmarken.

Also saßen sie am Weihnachtsmorgen des letzten Jahres alle verwirrt und entmutigt da und sahen den »Zauberer von Oz«. Während sich Dorothy eine halbe Stunde später auf der gelben Straße entfernte, bemerkte Mutter mit sanfter Stimme, als hätten sie die ganze Zeit ein angeregtes Gespräch geführt: »Und so rate ich euch, den Mund zu halten. Weihnachten bedeutet ohnehin viel mehr als nur Geschenke. Das werdet ihr alle verstehen, wenn ihr älter seid. Ich gebe euch ein bißchen Geld, und ihr könnt morgen zum Schlußverkauf gehen. Das wird euch sogar noch viel mehr Spaß machen. Ich habe Mrs. Guerney gesagt, sie soll uns irgendwas in den Kühlschrank stellen. Wahrscheinlich kalten Truthahnbraten, wenn ihr schon so versessen drauf seid.«

»Dürfen wir ein bißchen Weihnachtsschmuck im Haus verteilen? Bitte!«

»Das würde sich doch gar nicht lohnen. Jetzt nicht mehr. Ihr hättet mich früher dran erinnern sollen. Dann hätte ich Mrs. Guerney gebeten, euch zu helfen. Oder Gwyneth.« Als Gwyneth kurz vor ihrer Niederkunft gekündigt hatte, war sie von Ilse ersetzt worden. Mutter fand das furchtbar deprimierend und erklärte, sie würde nie wieder schwangere Waliserinnen einstellen. »Die kommen nach London, um sich hier zu verstecken. Allmählich müßten diese Leute mit ihrer elenden, strengen Religion, die genauso grau ist wie ihre verdammten kleinen Hausmauern, ihre moralische Verantwortung übernehmen, so wie wir es ja auch tun. Und die drei Treppenfluchten strengen sie natürlich viel zu sehr an.« Sie hatte tatsächlich Daddy die Schuld gegeben. Auch seine Religion nannte. sie elend. »Euer Vater hat schon immer Märtyrerinnen geliebt. Deshalb ist er auch auf die zimperliche Suzie hereingefallen. Aber letzten Endes wird er ihr Leben zerstören. Vielleicht ...« Und nun lächelte sie. »Vielleicht geht sie eines Tages in Flammen auf. Hoffentlich bin ich dabei, damit ich zuschauen kann.«

Mutter durfte nicht solche Witze über Märtyrerinnen machen.

Für Vanessa oder Camilla oder Dom, die nicht an den Weihnachtsmann glaubten, war es nicht so schlimm, aber für Sacha und Amber. Danach kam Sacha zu Vanessa und wisperte: »Aber was ist aus unserer Wunschliste geworden? Ich und Amber haben zusammen eine geschrieben und in den Schornstein gesteckt.«

»Manchmal gehen die Listen im Himmel verloren, besonders nachts. Aber ich werde an den Nordpol schreiben und erklären, was diesmal passiert ist, damit es nicht noch mal vorkommt.«

Vanessa überlegte, ob sie Daddy vom verdorbenen Weihnachtsfest erzählen sollte. Obwohl sie nur ungern petzte. Am Morgen würde er anrufen, das hatte er versprochen. Über dieses Problem dachte sie lange und gründlich nach. Wenn sie's ihm sagte, würde das die Wirkung haben, vor der Mutter sie gewarnt hatte? Würde er beschließen, seine Kinder wegzuschicken, in verschiedene Internate? Manchmal ist es schwierig, an Daddy heranzukommen, weil er so stark von Suzie beeinflußt wird. Und vielleicht würde er gar nicht zuhören, wenn sie protestierten. Er wollte keinen Ärger. Freimütig diskutierte er mit ihnen über die Situation und betonte, es sei wichtig, daß sie alles verstünden.

Seinen Fitneßraum im Erdgeschoß hat er immer noch nicht ausgeräumt, aus Angst, Mutter aufzuregen. Damals verließ er mit einem einzigen Koffer voller Papiere das Haus. Den Rest ließ er zurück. Mutter packte alles zusammen, seine Kleidung, seine Bücher und Fotos, warf es in den Garten, übergoß es mit Benzin und zündete es an. Wütend stocherte sie mit einem Rechen in dem schwelenden Haufen herum. Sie tanzte, stieß spitze Schreie aus, als die Flammen emporloderten. Mr. Morrisey, der Nachbar, stand auf seiner Seite des hohen Holzzauns. Sein dünner Hals erhob sich über den Planken, die Schatten des Feuers verliehen seinem Gesicht hohle Wangen und schienen es zu verlängern, als würde er einen hohen Zylinder tragen und eine Rolle bei der grotesken Zeremonie spielen – vom zuckenden rötlichen Widerschein umhüllt wie ein Zauberer. »Ich will mich nicht beklagen, Mrs. Townsend«, rief er, »aber sind Sie auch wirklich sicher, daß Sie dieses Feuer unter Kontrolle haben? Der Wind bläst in meine Richtung!« Seine falschen Zähne glänzten.

Mutter beorderte die Kinder zu sich, aber sie wollten nicht an dem Ritual teilnehmen. Sie sahen vom Haus aus zu, auf der Fensterbank in Camillas Zimmer aneinandergedrückt. Dominic, das Gesicht rauchig umschattet, sagte immer wieder: »Vielleicht sollten wir Daddy anrufen und ihm erzählen, was sie macht.« Er preßte ein Kissen an seinen Bauch, als hätte er Schmerzen. Aber sie wußten, wie sinnlos es war. Daddy konnte nicht rechtzeitig herkommen, um irgendwas zu retten, und außerdem würde nur ein häßlicher Streit ausbrechen.

Als sie ihn später über das Feuer informierten, meinte er, es sei richtig gewesen, daß sie nichts unternommen hatten.

Die Ausstattung des Fitneßraums ließ sich nicht verbrennen, da sie hauptsächlich aus Metall bestand. Und sie war sehr schwer, großteils im Boden oder an den Wänden verankert. Mutter versuchte nicht, sie zu vernichten. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Daddy sagt, eines Tages, wenn sich die Wogen geglättet hätten, würde er eine Spezialfirma engagieren und das Zeug abholen lassen. Bis dahin bleibt das Kellergeschoß verschlossen, obwohl Ilse oft gefragt hat, ob sie den Hometrainer und die Gewichte benutzen dürfe. Niemand geht hinunter. Wahrscheinlich ist mittlerweile alles verstaubt und eingerostet. Einmal stieg Vanessa die Kellerstufen hinab, um reinzuschauen. Sie hatte vergessen, daß die winzigen Scheiben der vergitterten Fenster weiß gestrichen worden waren, um Daddys Privatsphäre zu schützen. Ganz fest drückte sie ihr Gesicht gegen die Stäbe, konnte aber nichts sehen.

Daddy bemitleidet die Kinder. »Eure Mutter ist so sprunghaft. Sie kann sich einfach nicht mit der veränderten Lage abfinden, und irgend jemand müßte ihr endlich helfen, ihre Trunksucht zu überwinden. Sie tut das nur, um Aufmerksamkeit zu erregen und sich an mir zu rächen. Das verstehen wir natürlich, Suzie und ich. Niemals war eure Mutter imstande, Schwierigkeiten zu meistern. Ich tat ihr gar keinen Gefallen, als ich so lange bei ihr blieb. Im Augenblick ist es jedenfalls besser, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Es braucht seine Zeit, aber bald werdet ihr feststellen, daß ich recht habe. Eure Mutter wird sich zusammenreißen und ihr eigenes Leben führen. Immerhin ist Caroline eine Überlebenskünstlerin. Ich weiß, ihr habt es jetzt sehr schwer. Für dich, Vanessa, muß das alles besonders schrecklich sein, weil du die Älteste bist. Ich verlasse mich auf dich. Selbstverständlich kannst du jederzeit zu mir kommen. Das weißt du doch? Ich wohne ja nur eine billige U-Bahn-Fahrt entfernt, und ich bin telefonisch immer zu erreichen. Ich möchte wissen, was passiert, Vanessa. Ihr seid meine Kinder, das werdet ihr immer bleiben, und ich liebe euch alle sehr.«

Aber jedesmal, wenn Vanessa bei Daddy anruft, hört sie einen scharfen Unterton in Suzies Stimme.

Mutter ist zu Hause.

»Weck Dominic, hol die Zwillinge, und wir gehen hinunter. Wenn wir alle zusammen sind, können wir sie vielleicht dazu überreden.«

Wozu? Wozu wollen sie Mutter überreden? Niemand weiß es. Warum diese seltsame Sehnsucht nach Dingen, die Schmerzen bewirken? Weil sie den schönen Baum mit den vielen Lichtern schützen möchten.

Es dauert nicht lange. Nach dem Krach herrscht unheimliche Stille im Haus. Geisterhaft versammeln sie sich auf dem schwacherleuchteten Treppenabsatz, müssen nichts mehr sagen oder erklären. Sie fühlen sich eng miteinander verbunden. Dominic schluchzt in seinen Morgenmantel. Seine Nerven flattern, sein Asthma macht sich bemerkbar. Er geht voran, schlurft in seinen Nilpferdpantoffeln die Stufen hinab. Die Zwillinge, noch im Halbschlaf, blinzeln und rücken ihre Drahtbrillen zurecht. Sie fragen nicht, was geschieht. Camilla folgt Dominic, und Vanessa bildet die Nachhut, eine strahlendweiße Fee, an deren Händen die müden Finger der Zwillinge kleben.

O nein! Mutter reißt das Lametta herunter, von einem Zweig nach dem anderen. Der geschmückte Baum neigt sich nach rechts, so daß die Beine des Weihnachtsengels in die Luft ragen – das sieht furchtbar lächerlich aus.

Mutter schluchzt, immer noch im Mantel. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, die Lampen anzuknipsen, und so wird der Raum nur von den Weihnachtslichtern in ihrem ganzen schimmernden Glanz erhellt, so rein, so sanft, eine Gloriole um jedes einzelne Glühbirnchen. Die Lederpolsterung des Sofas spiegelt die Farben wider, hinter dem Kamingitter schwelt die Asche.

»Nicht! Nicht!« Amber läuft ins Zimmer, die Arme ausgestreckt, dann bleibt sie wie festgewurzelt stehen, weil sie spürt, wie vergeblich der Protest wäre. Zwei schmale, unberührte Lamettabündel zwinkern einander im Halbdunkel zu.

Mutter schluchzt, dann lacht sie. Sogar in ihrem Wahn muß sie die beklemmende Anwesenheit ihrer Kinder spüren; hinter ihr bilden die weißen Gesichter einen Halbkreis, eine märchenhafte Mondsichel. Sie verlangsamt ihre Bewegungen, ehe sie sich umdreht und Vanessas Blick für eine oder zwei Sekunden festhält – dann schließt sie die Kinder wieder aus, verloren in der Dunkelheit. Ihre Augen verlöschen, jedes so traurig wie ein gepreßtes Blütenblatt, völlig unfähig, der Herausforderung zu begegnen.

»Nicht!« schreit Amber wieder, ein Häschen, vom Reißverschluß ihres Schlafanzugs eingesperrt. »Warum machst du das?« Das wütende Kind wendet sich zu Vanessa, die winzigen Hände geballt. »Warum macht sie das? Warum?«

Mutter gleicht einer Schlange – abstoßend – verkommen wie eine Hure. Sie stolziert zum Couchtisch, wo die grüne Flasche und das Glas warten. Ein Klirren und das Plätschern des Gins, der rasch eingegossen wird, sind die einzigen Geräusche im Raum.

»Du mußt nichts machen, Mutter. Alles ist schon erledigt. Wir haben uns drum gekümmert. Es soll eine Überraschung sein.« Vanessa spricht in sehr energischem Ton. Keine Furcht schwingt darin mit. »Du hast wirklich keinen Grund, alles zu zerstören.«

Mutters Gesicht entgleist genauso trüb wie ihre Stimme; alle Züge konzentrieren sich auf die Stelle, wo die Lippen warmen Alkohol kosten. »Und was soll das sein? Eine verdammte Familienfeier?« Die Fragen klingen so leblos, wie sie aussieht. Ihr Feuerzeug flammt auf, eine unsichere Hand nähert sich einer verbogenen Zigarette. »Scheiße!« schreit Mutter, als das Flämmchen ihren Daumen versengt, dann sinkt sie aufs Sofa, lehnt sich zurück, läßt den Rauch aus ihrem Mund und ihrer Nase quellen. Diese grauen Schwaden sind das weichste an ihr.

Sie legt sich der Länge nach hin, streckt die Beine aus, benutzt die Spitze eines Stiefels, um den anderen abzustreifen, schüttelt ihn herunter, tritt ihn beiseite. Dann hält sie das Bein hoch und krümmt die bestrumpften Zehen.

Irgendwo. Irgendwo anders auf der Welt schlafen kleine Kinder friedlich. Und unter einer Kiefer könnte ein Dachsbau liegen, mit einer ganzen Dachsfamilie, die sich zwischen die Wurzeln kuschelt. Irgendwo.

»Okay, ihr habt das Zeug an den Baum gehängt, und jetzt könnt ihr es wieder runternehmen«, faucht Mutter. »Es macht mich nervös, weil es mich an zuviel erinnert – an schreckliche Dinge und falsche Versprechungen ... O Gott, ich hab' das alles so satt. Und euch auch! Es wird Zeit, daß ihr das Leben so seht, wie es wirklich ist – nicht so, wie ihr's gern hättet. Die harten Tatsachen des Lebens! Darauf muß man euch endlich mit der Nase stoßen. Seid ihr denn so unsensibel, daß ihr überhaupt nicht begreift, was in diesem Haus geschehen ist?«

Die Kinder rühren sich nicht. Dann beobachtet Vanessa, wie Amber sich ein wenig vorbeugt und zu zittern beginnt.

Mutters Stimme ist eisig. »Habt ihr nicht gehört?« Sie versucht, mit den Fingern zu schnippen, aber die sind zu schwach und zu schlaff. Als sie das merkt, läßt sie die Hand sinken.

Niemand rührt sich. Wenn sie sich bewegten, würden sie es alle gleichzeitig tun, wie die Bestandteile eines Gases oder einer Flüssigkeit, einer Essenz reiner Verzweiflung. Aber sie sind zu keiner Regung fähig.

Unter Mutters geschlossenen Lidern zeichnet sich die Form der Augäpfel ab. In verächtlichem, sanftem Ton fügt sie hinzu: »Dann muß ich's eben selber machen. Gott steh mir bei! Eines Tages werde ich von hier verschwinden! Und was zum Teufel ist eigentlich mit dir los, Vanessa, du kleine, prüde Gans? Du hast doch die verdammte Jungfrau Maria gespielt, nicht wahr? Das paßt genau zu dir, dachte ich, als du mir davon erzähltest. Ständig beobachtest du mich. Immer starrst du mich an, die fromme Nase gerümpft, als wäre da ein Geruch, den du nicht erträgst und dessen Ursprung du nicht findest. Nun, leider bin ich dieser Gestank, Darling. Ich stinke so gräßlich, daß du's nicht aushältst, denn ich bin eine Kloake voller Löcher. Warum kommst du nicht näher und schnupperst an mir, Vanessa? Zwischen meinen Beinen. Unter meinen Armen. Du lieber Himmel!« Plötzlich bekommt sie einen Schluckauf. »Als hätte ich noch nicht genug durchgemacht!«

Hör auf, Mutter, hör auf! Du tust dir selber viel zu weh, und weil du stärker bist als ich, kann ich dir nicht helfen ... Vanessa hält den Atem an und schmeckt Blut, das aus ihrer zerbissenen Unterlippe quillt. Sie beißt noch fester hinein, und sie staunt, weil sie immer noch Kraft dafür findet. Mutter ist schlecht, durch und durch, voller Bösartigkeit! Und sie trägt die Last schrecklicher Sünden.

In diesem Augenblick drängt es Vanessa zu fragen: »Mutter, gab es jemals eine Zeit, wo du mich liebtest?« Aber sie kennt die Antwort ohnehin. Erinnerungen an jene mildere Zeit, wo Mutter ihr Bestes getan hat, drohen sie zu ersticken.

Jetzt wird Mutter von grausigem Gelächter geschüttelt, verstummt aber sehr schnell, als wäre es zu schmerzhaft, als könnte sie die Fröhlichkeit nicht bewältigen und müßte zu husten beginnen. Mühsam setzt sie sich auf, einen gestiefelten Fuß am Boden, greift benommen nach ihrem Glas, und die Kinder sehen die helle seidige Flüssigkeit in ihren Mund laufen. Sie schluckt, heftig hebt und senkt sich die Brust. Plötzlich reißt sie die Augen auf und stöhnt: »Mir ist übel.« Mit der freien bebenden Hand wischt sie über ihre Lider. »So übel. O Gott, ich fühle mich richtig beschissen.« Flecken bedecken ihren Mantel und den Rock, braune Flecken wie von getrockneten Essensresten. Sie neigt den Oberkörper vor, krümmt sich zusammen, erbricht auf den Teppich. Sofort verdrängt der Gestank den Kiefernduft. Unablässig sickert das Zeug aus ihrem Mund, ungebrochene Stränge aus Schleim, und sie erschauert vor lauter Bitterkeit. Sie würgt und ächzt, bis nur noch brauner Schaum von ihren Lippen sprudelt.

Nichts bewegt sich außer den Augen der Kinder; unbehaglich flackern sie von einem zum anderen. Endlich gelingt es Mutter aufzustehen. Ihr Gesicht ist milchweiß. Sie schwankt ein wenig, dann bricht sie auf dem Läufer vor dem Kamin zusammen.

»Oh, oh, oh, oh ...« Anscheinend kann Camilla ihre Klage nicht unterdrücken.

Aufmerksam beobachten sie Mutter und warten ab, ob sie noch atmet oder ob sie gestorben ist. Ist denn der Tod so einfach? Mutter gefällt es, wenn Burl Ives »Dippity Doo Da, Dippidy Day« singt. Sie sagt, heutzutage kann man keine Eiswaffeln mehr kaufen, nur noch Tüten. Sind diese gewöhnlichen Dinge nicht unglaublich? Allmählich fängt Mutters Brust wieder an, sich regelmäßig zu heben und zu senken. Das Zittern verebbt. Die schlaffen Lippen klaffen auseinander, die Zunge fällt heraus wie bei einem müden alten Hund.

Vanessa blickt auf. Es bereitet ihr große Mühe, den Hals zu recken. Die Schultern fühlen sich steif an, als hätte sie zu lange in kalter Zugluft gesessen. Sie tritt vor, drückt Mutters verbogene Zigarette im Aschenbecher aus. Von dieser Bewegung animiert, durchquert Dominic – der Mann im Haus, der immer noch ins Bett macht, was aber niemand weiß außer Vanessa und Mrs. Guerney – das Zimmer und zieht einen der schweren Vorhänge beiseite. »Wir brauchen Luft, wir müssen das Fenster aufmachen. Hier drin stinkt es zu sehr.« Und dann dreht er sich um, sein Gesicht strahlt vor hellem Entzücken. »Seht doch! Schaut her, Sacha! Amber! Ilse hat recht. Es schneit!«

Wie sehr beneidet Vanessa ihn um diese ungeheure, wundervolle kindliche Freude ...

3

Vanessa kniet nieder, wäscht ihre Mutter und glaubt, eine dünne Schicht böses Gewebe wegzuwischen. Die verweinten Augen sind rußigschwarze Flecken.

»Aber wir wollen doch nicht, daß sie aufwacht«, lispelt Amber durch ihre harte rosa Zahnlücke. »Wenn sie wach wird, verdirbt sie alles. Können wir sie nicht irgendwo schlafen lassen? Nur bis nach Weihnachten?«

Wenn Vanessa unscheinbar ist, so sind die Zwillinge schlicht und einfach häßlich – nicht so wie Mutter in früheren Zeiten oder die hübsche Ballettschülerin Camilla oder Dom mit seiner dunklen, zigeunerhaften Schönheit. Die kleinen runden Brillen verbessern den Gesamteindruck keineswegs, aber ohne sie können die Zwillinge ja kaum etwas sehen. Die hellen, gefleckten Augen hinter den Gläsern erwecken nicht den Anschein, als würden sie besonders gut funktionieren, und man muß genau hinschauen, um Wimpern zu erkennen. Die kantigen Gesichter werden von ausgeprägten Backenknochen in Koboldfratzen verwandelt, die Ellbogen stehen spitz hervor und erinnern an die Gliedmaßen von Marionetten. Sacha und Amber haben kurzes, glattes Haar in einem dumpfen Karottenrot und einen blassen Teint. Die Sommersprossen auf den Nasen wirken verschmiert, so als hätten die beiden vergessen, sich zu waschen. »Noch nie habe ich ein so altmodisches Paar gesehen wie euch zwei«, pflegt Mrs. Guerney zu bemerken, »in diesen Fair-Isle-Pullovern mit dem runden Ausschnitt – nicht farbig genug für meinen Geschmack, abgesehen von den Strickbündchen. Mit euren langen, dünnen Hälsen solltet ihr lieber einen Kragen tragen. Ein lebhaftes Grün würde zu euch passen. Und diese Kilts! Welche Kinder ziehen denn heutzutage noch Schottenröcke an?«

Daddy hat die Kilts im Scotch House gekauft. Vanessas Kinn zittert, wenn sie Mrs. Guerney so reden hört, und sie wird wütend, denn was weiß diese Frau schon mit ihren arthritischen Knien und den ekligen, unförmigen Fingern? »Ihr seid okay«, versichert sie den Zwillingen und weiß sehr wohl, wie verlegen sie sind, weil ihnen die Anziehungskraft und der Charme anderer Kinder fehlen, so wie ihr selber.

»Manchmal weiß ich gar nicht, warum ich's überhaupt noch versuche«, klagte Mrs. Guerney eines Tages. »Wann immer ich was sage, wird's wörtlich genommen, und wenn ich meine Meinung äußere, greift man mich an.«

Vanessa sieht Daddy mit ihren eigenen Augen, durch eine rosarote Brille. Sie mag sich nicht vorstellen, daß er »seinen Samen verstreut«, wie die Nonnen es ausdrücken. Am allerbesten ist er, wenn er im TV auftritt, so seriös, in einem schneeweißen Hemd und einem dunkelgrauen Anzug. Die großen Augen sanft und tiefgründig.

In der Woche kommt Mrs. Guerney jeden Morgen, um im Haus sauberzumachen – schon seit Vanessa denken kann. Sie besitzt ein Foto von sich selbst als Baby, in einem Kinderwagen, den die Putzfrau durch den Park schiebt. In ihrem karierten Einkaufskarren bringt sie die Lebensmittel, die täglich gebraucht werden. »Warum nicht?« sagt sie. »Ich komme ohnehin am Laden vorbei.« Also entscheidet Mrs. Guerney, was sie essen. Sie bereitet Pasteten oder Schmorgerichte vor, ehe sie geht, schiebt sie in den Ofen und stellt die Garzeit ein, dann klebt sie einen schmutzigen Zettel mit Instruktionen aufs Tablett. Meistens kommt Mutter erst um sieben nach Hause, oder sie ist nicht hungrig, oder sie will in einem Restaurant essen. Und da sie ständig um ihre Figur besorgt ist, ißt sie ohnehin nur wie ein Spatz. Sie öffnet den Kühlschrank und nimmt sich nur ein paar Bissen, weil ihr Mrs. Guerneys derbe Kochkünste mißfallen. Und so kümmert sich Vanessa um das Essen, manchmal auch Ilse. Sie waschen und kochen das Gemüse, decken den Küchentisch und servieren die Mahlzeiten. An den Wochenenden gibt es Salat, Quiche oder kalten Braten und Käse, Apfelkuchen und süße Aufläufe, von Mrs. Guerney zubereitet.

»Die liebe Mrs. Guerney ist wirklich ein Segen für uns«, bemerkt Mutter, wenn die Frau in der Nähe ist und alles hört. Genau das findet auch Vanessa, wenn sie die nette, dicke Mrs. Guerney in ihren uralten, abgetretenen Pantoffeln betrachtet. Ohne Mrs. Guerney wäre das Leben noch schlimmer, und sie würden sich deutlicher von anderen Familien unterscheiden. Obwohl sie Vanessa »hochnäsig« nennt, behandelt sie alle fünf immer noch wie Kinder.

»Mutters Perücke ist verrutscht. Man sollte sie runternehmen. Sie ist voller Asche.«

»Weck sie nicht! Bitte, bitte, bitte, weck sie nicht!«

Vanessa kniet auf dem Teppich vor dem Kamin und blickt zu Amber auf. Das verzweifelte Kind hüpft von einem Bein aufs andere und zupft nervös an der Unterlippe. »Mutter wird nicht aufwachen. Ich glaube, sie schläft bis zum Nachmittag.« Will sie denn, daß Mutter jemals wieder aufwacht?

Nur zu gut weiß Vanessa, daß Gott ihre Gedanken hört – Mutter ist verdorben und vergiftet alles. Mutter treibt sie zu bösartigen Überlegungen – viel zu ungeheuerlich, um gebeichtet zu werden. Wenn man jemandem den Tod wünscht, so ist das genauso schlimm, als würde man ihn tatsächlich umbringen. Heimlich liest Vanessa Märchen wie »Dornröschen«, »Die kleine Meerjungfrau«. Sie kämpft gegen die Bestseller an, die beängstigenden Bücher, die sie sich zu lesen zwingt, weil sie es tun sollte. Könnte doch ihr Atem für alle Zeiten unschuldig riechen – nach Reispudding und Bird's-Senf, das Haus müßte nach frischgebackenem Brot duften, nach Gartenwicken in blauen Porzellanvasen ...

»Beinahe hätte sie sich den Kopf am Feuerbock angeschlagen. Dann wäre vielleicht ihr Schädel gebrochen. Oder sie hätte ins Feuer fallen können.«

»Aber das ist nicht passiert, Dom. Und jetzt müssen wir sie irgendwohin bringen, wo sie's bequemer hat.«

In diesem Augenblick faßt Vanessa ihren Entschluß. Es grenzt fast an ein Wunder, denn eben noch ist ihr Gehirn wie tot gewesen, und jetzt entscheidet sie, was zu tun ist – eine brillante Idee, eher eine Vision. Und so einfach! Alles wird klappen, und in gewisser Weise wird es auch für Mutter besser sein. Sie muß Weihnachten nicht ertragen, keine weiteren Leidenswege mit Bart gehen. Sie braucht sich nicht zu sorgen, was sie anziehen soll, nicht mehr zu qualvollen Vorsprech-Terminen zu gehen, nach denen sie immer noch ein bißchen häßlicher ist, etwas boshafter, ein wenig zorniger. Ständig gibt sie den Kindern die Schuld und dem armen Daddy – die Schuld an der Zerstörung ihres Talents, ihrer Schönheit, ihrer geistigen Fähigkeiten, und sie versinkt in schwarzen Depressionen, die allen Dingen den letzten Zauber rauben.

Okay, dann werde ich's tun.