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In der Redaktion erarbeitete Enno mit Cordula Sonntag und dem Online-Redakteur
Thomas Apkers den Bericht, den sie auf ihrer Homepage veröffentlichen und zu Facebook verlinken wollten. Als geübte Rechercheurin hatte Cordula schnell die wichtigsten Hintergrundinformationen
zu Botulinumtoxin herausgefunden.
»Schaut euch das mal an. Hier steht, es ist das stärkste Gift der Welt. Und dazu noch eins, das natürlicherweise überall vorkommt. Ein echtes Bio-Gift sozusagen, nichts als reine Natur und natürlich tödlich.« Sie grinste verschmitzt über ihr eigenes Wortspiel. »Ein Bakterium mit dem Namen Clostridium Botulinum produziert es. Es überlebt beinahe unbegrenzt in Form von Sporen im Erdboden oder Schlamm, um dann
bei passender Gelegenheit zum Bakterium zu reifen. Dann bildet es sein überaus tödliches Gift, zum Beispiel in Konserven, die nicht steril genug hergestellt
wurden. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen sich an verdorbenen
Lebensmitteln mit diesem Teufelszeug vergiften.«
»Steht da auch, wie hoch die tödliche Dosis ist?«, wollte Apkers wissen.
»Einen Moment, ich hab’s gleich. Ja, hier.« Cordula zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Die letale Dosis ist … Ich glaub’s ja nicht!« Sie wirkte sichtlich überrascht. »Ein einhunderttausendstel Gramm reicht aus, um einen erwachsenen Menschen
umzubringen. Eine so kleine Menge kann man sich ja gar nicht vorstellen.«
»Und dann hier, guck mal!« Auch Enno wies jetzt mit dem Finger auf den Monitor. »Mit dem Zeug sind sogar schon terroristische Anschläge verübt worden. 1990 und dann noch einmal fünf Jahre später, jedes Mal in Japan von einer obskuren Sekte mit dem Namen Aum Shinrikyo.
Damals mit einem Aerosol, also mit allerfeinsten in der Luft zerstäubten Tröpfchen, was besonders gefährlich ist. Zum Glück war die Konzentration dann doch sehr klein. Und – verdammt, das war ja zu erwarten – es wird auch als Biowaffe eingesetzt und zwar schon seit dem Zweiten Weltkrieg,
auch wenn es damals nicht zum Einsatz kam. Bei Saddam Hussein und in Syrien
aber womöglich doch. Eins dieser Nervengase. Letzte Beweise fehlen allerdings.«
»Komm, lass es«, fiel Apkers ihm ins Wort. »Das können wir unmöglich alles schreiben. Wir wollen doch keine Panik auslösen. Wie sieht das mit dem Gegenmittel aus?«
»Das Serum«, mischte sich wieder Cordula Sonntag ein, »wird von Pferden gewonnen. Muss aber möglichst frühzeitig gespritzt werden, da es nur auf noch frei im Blut befindliche Moleküle wirkt. Wenn sie erst an den Nerven angedockt haben, wirkt das Mittel nicht
mehr. Das Tückische: Man bemerkt die Wirkung lange nicht und dann ist es meist zu spät.«
»Okay, das reicht. Ich fahr jetzt zu Katharina Brodersen. Mal sehen, ob sie mir
erzählt, wie das genau bei unserem Chef abgelaufen ist.«
Enno Jaspers machte sich mit einem Wagen des Verlages auf den Weg zu Brodersens
Wohnhaus draußen an der Harle. Es stellte sich heraus, dass es in der Nähe des Kanuclubs lag, in dem Enno selbst immer noch Mitglied war, auch wenn er
schon längere Zeit nicht mehr am Vereinsleben teilgenommen hatte. Immer wieder gern
berichtete er jedoch von dessen Aktivitäten. Genaugenommen lag das Anwesen des Chefredakteurs auf der dem Bootshaus
gegenüberliegenden rechten Flussseite. Und die war nur auf einem kleinen Umweg über Funnix zu erreichen.
Als er das Haus sah, war er begeistert. Schöner kann man kaum wohnen, dachte er. Ein altes Bauernhaus, stilvoll restauriert,
umgeben von Wiesen und Feldern idyllisch direkt am Flüsschen Harle gelegen. Von hier aus konnte man bis nach Harlesiel paddeln, wo es
durch ein Siel hindurch in die Nordsee mündete.
Aber idyllisch war nach Brodersens Tod hier nichts mehr. Er mochte sich kaum
vorstellen, wie es in Katharina Brodersen aussah. Beinahe noch am Tag der
Hochzeit schon zur Witwe geworden. Nun, zumindest finanziell wird sie keine
Sorgen haben, dachte Enno, als er das Anwesen sah. Und dann war da auch noch
das Ferienhaus auf Langeoog.
Er fuhr auf den gepflasterten Hof und parkte unter alten Eschen, die äußeren zum angrenzenden Feld hin vom Wind gebeugt. Rechter Hand gab es eine
langgestreckte Scheune mit drei großen Toren. Wahrscheinlich standen jetzt Autos, wo früher Traktor und Pflug untergestellt waren. Die Ländereien waren, so vermutete Enno, an andere Landwirte der Umgebung verpachtet
oder sogar verkauft worden. Wie groß das Grundstück war, das nun noch zum Haus gehörte, war nicht genau zu erkennen. Heckenartig war es umgeben von einem Ring aus
Sträuchern und Bäumen, die es vor dem ständig von der Nordsee her wehenden Wind schützten. Auch heute bei dem deutlichen Ostwind war es innerhalb dieser Einfriedung
erstaunlich ruhig. Vor allem bei den oft starken Herbst- und Winterstürmen waren solche Einfriedungen auch ohne Belaubung ein großer Vorteil.
Die Bauweise des Hauses war typisch für diesen vom Meer geprägten Landstrich. Ein tief heruntergezogenes und nach Westen abgeflachtes
Walmdach stemmte sich gegen den Wind. Auch zur windabgewandten Seite gab es
eine nur vergleichsweise niedrige Giebelfront. Geduckt hinter den schützenden Bäumen war das Haus hervorragend an die vorherrschende Witterung angepasst. Eine
effektive und sichere Bauweise, die sich über Jahrhunderte hinweg bewährt hatte.
Enno ging auf den Eingang zu, der seitlich lag. Er klingelte und nach kurzer
Zeit wurde ihm geöffnet. Carsten Rehling, Katharina Brodersens Bruder begrüßte ihn, allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung.
»Ach, Sie sind es. Herr Jaspers. Das ist doch Ihr Name? Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, meine Schwester heute zu behelligen. Ich nehme doch
an, Sie sind als Journalist gekommen.«
»Carsten, wer ist es denn«, rief eine Frau von innen. Enno erkannte Katharina Brodersens Stimme. Sie klang
ein wenig gequält, was ihn nicht überraschte.
»Es ist dieser Journalist von gestern, der von der Feier für die Zeitung berichten sollte«, rief Carsten zurück, aber seine Schwester stand schon hinter ihm. Alle Fröhlichkeit, alle Zuversicht, aller Glanz des gestrigen Tages waren aus ihrem
Gesicht gewichen. Die Haare schlecht geordnet, mit dunklen Rändern unter den Augen und in einem lieblosen, grauen Jogginganzug stand sie da.
Sie hatte Ennos tiefes Mitgefühl.
»Frau Brodersen, es tut mir so unendlich leid, was passiert ist. Ich kann Ihnen
kaum sagen, wie sehr mich und uns alle in der Redaktion die Nachricht vom Tod
Ihres Mannes erschüttert hat.«
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete sie matt. »Aber kommen Sie doch herein. Wir müssen schließlich nicht in der Tür stehen.«
Mit einer Handbewegung ließ Rehling den Reporter ins Haus treten und Katharina Brodersen wies Enno den Weg
ins Wohnzimmer. Dort trafen sie auch auf Carstens Frau Conny, die ihn
allerdings ebenfalls eher kühl begrüßte, während er sich im Raum umsah. Ein großes Fenster, das sicher nicht zum ursprünglichen Bestand des Hauses gehört hatte, gab den Blick frei auf einen parkähnlichen Garten und den schützenden Ring aus Bäumen und Sträuchern. Im Hintergrund schimmerte die Harle, und Enno glaubte sogar, weiter weg
das Bootshaus des Kanuclubs zu erahnen.
»Bitte setzen Sie sich doch«, forderte die Hausherrin ihn mit einer einladenden Geste auf. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie dann noch. »Einen Tee vielleicht oder ein Wasser?«
»Gern ein Wasser«, antwortete Enno.
Mit einem Blick bat sie ihre Schwägerin, das Gewünschte aus der Küche zu holen.
»Frau Brodersen, Sie sollten wissen, dass wir morgen in großer Aufmachung vom tragischen Tod Ihres Mannes berichten werden. Das sind wir
unserem Chefredakteur schuldig. Im Übrigen hat die Polizei eine Pressekonferenz angesetzt, auf der über den Todesfall berichtet worden ist und auch über die, sagen wir, ungewöhnlichen Umstände. Die verantwortliche Hauptkommissarin ist nach dem Obduktionsergebnis zu dem
Schluss gekommen, dass Raimund ermordet wurde.«
Ein spitzer Schrei unterbrach Enno. Dieser kam aber von Conny Rehling, die
soeben mit dem Wasser zurückkam. Katharina Brodersen selbst nahm das fast unbeweglich entgegen. Allerdings
hielt sie sich eine Hand vor den Mund. Einen Augenblick später nickte sie, als ob das, was Enno ihr berichtete, nur ihre Ahnung bestätigte.
»Also hat er Recht gehabt, dass er nicht von allein gestürzt ist.«
»Stimmt, er wurde niedergeschlagen. Und dann hat ihm jemand eine sehr große Menge des Botulinum-Giftes gespritzt. Ich weiß das von der ermittelnden Polizistin, und dasselbe wird sicher auch bei der
Pressekonferenz mitgeteilt werden.«
»Wie, ich verstehe nicht.« Katharina Brodersen schien angestrengt zu überlegen. »Auf der Toilette wurde er erst niedergeschlagen und dann, als er benommen war,
hat ihm jemand das Zeug gespritzt?« Sie unterbrach sich, offensichtlich um nachzudenken. Keiner wagte, sie zu
unterbrechen.
»Aber ... aber«, fuhr sie stammelnd fort, »heißt das etwa, dass er das Gift schon in sich hatte, als wir die Feier verließen? Hätte man ihn retten können, wenn wir ...?« Wieder hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Er hat davon nichts gesagt. War er ... dann war er ohne Bewusstsein, als ... als
es geschah.« Ihrer Mimik konnte Enno entnehmen, dass sie diese Erkenntnis hart traf. Erneut
breitete sich Stille im Raum aus, die einen quälend langen Augenblick anhielt. Dann war es Carsten Rehling, der fragte: »Hätte ihn das Gegenmittel gerettet, wenn es ihm rechtzeitig gegeben worden wäre?«
Allen im Zimmer war die Antwort klar, was Enno den Mienen entnehmen konnte.
»Ich habe ihn umgebracht«, platzte es aus Katharina heraus. »Dieser Inseldoktor, wir alle haben ihn auf dem Gewissen. Weil wir nichts getan
haben. Wir hätten das wissen müssen. Warum hat das keiner bemerkt?«
»Frau Brodersen, das dürfen Sie nicht sagen. Ein hinterhältig vorgehender Mörder hat Raimund umgebracht. Der Plan war so bestialisch ausgeheckt, dass Sie
keine Chance hatten. Nicht die geringste.«
»Warum auf diese Weise? So qualvoll? Mit einem teuflischen Gift. Er hätte ihn doch auch ...« Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
»Vielleicht, weil er dadurch unerkannt bleiben und rechtzeitig die Insel
verlassen konnte.« Oder weil er eine solche Stinkwut auf Brodersen hatte, dass ihm kaum eine
Todesart grausam genug war, dachte Enno, sagte aber nichts.
»So ein elendes Schwein«, schluchzte Katharina. »Was ist das nur für ein Mensch?«
Enno nahm einen Schluck Wasser. Er überlegte, wie es ihm gelänge, das Gespräch so weiterzuführen, dass er noch wichtige Informationen über den Ablauf der Ereignisse im Krankenhaus erhalten konnte. Leise und
vorsichtig fragte er: »Sie sprachen von einem Gegenmittel, das Ihren Mann eventuell gerettet hätte. Hat er das noch bekommen? Wir haben in der Redaktion recherchiert. Es gibt
ein Antiserum, das von Pferden gewonnen wird. Aber es hilft tatsächlich nur, wenn es rasch gegeben wird.«
Katharina Brodersen schien gar nicht zuzuhören. Stattdessen antwortete ihr Bruder. »Ja, sie hat erzählt, dass das Mittel extra mit dem Hubschrauber eingeflogen wurde. Aber es war
einfach zu spät und die Menge des Giftes entschieden zu groß. Wenn Sie mich fragen: Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen und«, Carsten musste schlucken, »und er wollte, dass Raimund leiden sollte.«
»Aber das ist doch krank«, brach es aus seiner Frau heraus und Katharina Brodersen begann hemmungslos zu
weinen.
Enno ließ einen Moment verstreichen. »Sagen Sie«, fragte er schließlich, »haben Sie gewusst, dass Ihr Mann vor etwa einer Woche tatsächlich eine Botoxbehandlung gegen Gesichtsfältchen bekommen hat?«
»Ja, das stimmt, das war aber schon am …«, sie überlegte, schien aber zu keinem Ergebnis zu kommen. »Also jedenfalls schon vor mehr als einer Woche«, ergänzte sie am Ende.
Jetzt war Enno neugierig geworden. »Und wissen Sie auch, wo das gemacht wurde? In welcher Arztpraxis. Ich frage aus
echter Neugier. Wenn’s nicht von Bedeutung ist, schreibe ich kein Wort darüber.«
»Nein, bitte schreiben Sie nichts. Das geht doch keinen was an. Aber gemacht
wurde das auf Langeoog, in dieser Schönheitsklinik am östlichen Rand der Inselgemeinde. Haus Dünenwellness. Sie kennen das bestimmt.«
»Ja, das sagt mir was. Am Pirolaweg, aber auf der Seite, die vorher nicht bebaut
war, habe ich Recht? Meine Eltern haben sich gründlich aufgeregt damals.«
»Ja, genau. Pirolaweg Ecke Willrath-Dreesen-Straße. Jeder Urlauber kennt das inzwischen. Es ist schließlich der wichtigste Weg Richtung Meierei. Hat allerhand Aufruhr gegeben
deswegen. Zehn Jahre ist das jetzt her.«
»Sie sagten Schönheitsklinik. Aber Wellnessangebote gibt es doch auch?«
»Ja, beides«, mischte sich Carsten Rehling ein, der seine Schwester damit zu entlasten
suchte. »In dem Haus werden Schönheitsoperationen durchgeführt, natürlich alles privat und für eine sehr exklusive Kundschaft. Aber es gibt auch eine Wellnessabteilung, in
der man es sich einfach für ein paar Tage gutgehen lassen kann. Auch auf hohem Niveau versteht sich.« In seiner Stimme meinte Enno, einen leicht abschätzigen Unterton herauszuhören.
»Und warum hat er sich gerade da die Spritzen geben lassen?«, hakte er nach. »War es das Einfachste, im Ferienhaus Am Wall zu wohnen und von dort aus die
Behandlung im Haus Dünenwellness ambulant machen zu lassen? Ich vermute, diese Injektionen werden
immer ambulant gegeben.«
»Ja überwiegend. Viele Urlauber, nutzen ihre Zeit auf der Insel, um sich spritzen zu
lassen. Aber manche buchen auch extra einen Aufenthalt im Hotelteil. Vor allem
Promis machen das gern. In dem Haus ist Diskretion Ehrensache. Und bei den
Preisen sind sie unter sich, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber für meinen Chef war Diskretion nicht so entscheidend?«
»Nee, natürlich nicht. Warum sollte er diskret sein? Er ging da ja ohnehin ständig ein und aus. Das Haus gehörte ihm doch, jedenfalls zur Hälfte.«
Enno spitzte die Ohren. Was er hier und jetzt beinahe beiläufig erfuhr, ließ ihn aufhorchen. Sein Chef Brodersen, Miteigentümer einer Schönheitsklinik auf Langeoog? Und keiner in der Redaktion hat das gewusst?
Jedenfalls hatte der Flurfunk darüber nie etwas verlauten lassen.
Bevor er jedoch weiter darüber nachdenken konnte, platzte Conny Rehling dazwischen: »Ja, und die andere Hälfte gehört seiner Ex-Frau.«
Enno blieb fast die Sprache weg.
»Und was glauben Sie, wie viel Ärger die gemacht hat«, fuhr sie in Rage fort. »Diese Ex ist …«, sie unterbrach sich, vielleicht, um ein Schimpfwort zu vermeiden. »Sie ist eine ganz unmögliche Person«, sagte sie schließlich, aber ihr Gesichtsausdruck sprach Bände darüber, was sie von Brodersens erster Frau hielt.
Ein Blick auf Katharina Brodersen verriet Enno, dass ihr das alles mehr als
unangenehm war. »Bitte schreiben Sie nichts davon. Es ist so schon alles schlimm genug«, sagte sie schließlich mit leiser Stimme.
»Herr Jaspers, haben Sie das verstanden?«, unterstützte Carsten mit Nachdruck seine Schwester. »Das bleibt unter uns. Eigentlich haben wir uns jetzt schon zu weit aus dem
Fenster gelehnt.« Dabei blickte er seiner Frau ins Gesicht. »Wir wollen davon nichts in der Zeitung lesen. Obwohl, irgendwelche wildfremden
Journalisten werden es vielleicht auf anderen Wegen doch herauskriegen.«
»Das könnte sein, muss es aber nicht. Sie dürfen nur selbst nichts davon verlauten lassen. Ich fürchte nämlich, dass Sie von dem ein oder anderen sogenannten Kollegen, auch aus dem
Fernsehen, bald Besuch bekommen werden. Die stehen mitunter einfach vor der Tür und halten Ihnen sofort ein Mikro unter die Nase. Darauf sollten Sie sich
einstellen.« Enno hielt einen Moment inne. Nun sah er Katharina Brodersen an »Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen? Wo haben Sie sich eigentlich
kennengelernt? Wenn Sie dazu etwas sagen könnten, würde das unsere Leser sicher interessieren.«
»Na ja, genau da, im Haus Dünenwellness. Ich war dort in der Buchhaltung tätig und hatte deswegen mit Raimund zu tun. Natürlich auch mit seiner Ex-Frau, Ute. Aber wenn Sie das schreiben, kommen doch
alle sofort auf die Klinik und zählen eins und eins zusammen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, dass ihm vielleicht da das Zeug gespritzt worden ist, ich meine, in zu
hoher Dosis.«
»Nein, nein. Das kommt zeitlich überhaupt nicht hin. Dann wäre er schon vorher gestorben. Das Botox wurde ihm eindeutig auf der Toilette des
Strandkruges verabreicht. Aber dass er Miteigentümer am Haus Dünenwellness ist, ist natürlich für die Polizei wichtig. In der Zeitung sollten wir dies Detail jedoch im
Augenblick noch zurückhalten. Jedenfalls solange wir nicht wissen, ob die Beteiligung an der Klinik
irgendeine Bedeutung für den Tod Ihres Mannes hat.«
Katharina Brodersen sah Enno unsicher, aber auch zufrieden an. Sie konnte jedoch
nicht mehr antworten. Das Telefon läutete genau in dem Moment. Der Festnetzanschluss. Sie sah zu ihrem Bruder hinüber, der auf den Wink reagierte und das Gespräch entgegennahm. Auf der anderen Seite der Leitung wurde sehr laut gesprochen.
Das konnte Enno hören, eine Frau, aufgebracht, fast keifend. Er verstand allerdings nicht, was sie
sagte.
»Wie bitte?«, reagierte Carsten, »was reden Sie da? Wer sind Sie eigentlich?«
Die Frau ließ sich nicht unterbrechen.
»Wissen Sie was«, ging Rehling energisch dazwischen, »ich schalte jetzt auf laut, damit alle, die hier im Raum sind, mitbekommen, was
Sie für einen Unsinn verbreiten. Drei Zeugen sind außer mir hier.«
Enno, Katharina und Conny gerieten mitten in einen Satz, als Carsten die
Lautsprechertaste betätigte.
»... wird Ihnen noch leidtun!«
»Können sie das bitte noch einmal wiederholen? Wir haben nicht verstanden, was uns
noch leidtun wird.«
»Alles, was er ist und besitzt, hat er durch mich! Die Beteiligung an der Klinik,
mit fünfzig Prozent ist er da eingetragen. Dabei stammt fast das ganze Geld von mir.
Er selbst hat nur einen kleinen Teil mitgebracht. Ich könnte mich heute noch ohrfeigen. Wie bescheuert bin ich gewesen, die Hälfte des Stammkapitals auf ihn übertragen zu lassen. Und das Haus auf Langeoog. Das steht eigentlich auch mir
zu. Wir haben es zusammen gekauft. Aber nach der Scheidung wollte er davon
nichts mehr wissen. Der Mistkerl.«
Starr vor Entsetzen hörte vor allem Katharina, was die Frau ins Telefon schrie. »Ute«, sagte sie mit schwacher Stimme zur Erklärung für die anderen. »Das ist sie. Ute Wolters, Raimunds erste Frau.«
»Frau Wolters, beruhigen Sie sich doch.« Carsten versuchte sich in Stimmlage und Lautstärke so zurückhaltend wie möglich auszudrücken. »Raimund ist doch erst ein paar Stunden tot. Und da haben Sie nichts Besseres zu
tun, als hier wegen des Erbes anzurufen? Woher wissen Sie überhaupt von seinem Tod?«
»Das geht Sie nichts an. Ich weiß, was ich weiß!« Dann legte sie auf.
Für Enno war klar: Auch sein Gespräch mit der Witwe war beendet. Aber er hatte bereits sehr viel erfahren, obwohl
er noch nicht wusste, was er davon veröffentlichen würde und vor allem nicht, wann. Er spürte mehr als deutlich, dass das keineswegs sämtliche Informationen waren, die Katharina Brodersen ihm geben konnte. Um die zu
bekommen, durfte er jedoch mit voreiligen Veröffentlichungen das eben aufgebaute Vertrauen nicht aufs Spiel setzen. Schließlich erhob er sich und wollte sich von den dreien verabschieden, aber an der Tür klingelte es.
Carsten Rehling und Enno sahen sich erschrocken an. Noch jemand? In Katharina
Brodersens Blick lag sogar Angst.
»Ich gehe schon.« Diesmal ging Conny Rehling zur Tür. Augenblicke später kam sie mit Sven Große-Lindemann zurück. Er stutzte, als er Jaspers sah. Dennoch begrüßte er zunächst Katharina Brodersen und sprach ihr sein Beileid aus. Ebenso ihrem Bruder
und dessen Frau, allerdings deutlich kürzer und knapper. Wieder an die junge Witwe gerichtet fragte er dann: »Hat Sie der Journalist da bereits mit Fragen belästigt? Alles, was Sie wissen, sollte zuerst die Polizei erfahren.«
»Nein, Herr Jaspers hat uns nicht belästigt.« Sie bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. »Im Gegenteil, er war gestern schließlich dabei und eine große Hilfe für mich. Ich glaube, ich kann ihm vertrauen.«
»Trotzdem würde ich es vorziehen, wenn Sie jetzt gingen, Herr Jaspers. Dies ist schließlich ein dienstlicher Besuch, der dem Ermitteln des Täters gilt.« Dann wandte er sich wieder an die junge Frau Brodersen. »Es ist wichtig, dass Sie sich an alles zu erinnern versuchen, was gestern
geschehen ist.«
»Aber Herr Jaspers hat Raimund doch gefunden, nicht ich.«
»Das wissen wir. Er hat uns schon davon berichtet. Aber jetzt geht es um Ihre
Wahrnehmungen.«
Das Letzte hörte Enno nur noch aus dem Hintergrund. Mit einem kurzen Nicken war er zur Tür gegangen. Umgehend machte er sich auf den Weg zurück in die Redaktion. Die Artikel für den nächsten Tag mussten geschrieben werden. Erst danach hätte er wieder Zeit, sich weiter seinen Recherchen in diesem Mordfall zu widmen.
Er konnte es nicht leugnen, sein Mitgefühl galt zunehmend Katharina Brodersen. Sie war wirklich heftig vom Schicksal
gebeutelt. So etwas wünscht man nicht einmal seinen ärgsten Feinden. Oder doch, dachte er. Einer hat es ihr und ihrem Mann gewünscht. Der Mörder nämlich. Enno fühlte sich mehr und mehr verpflichtet, ihn zu finden. Wegen Katharina Brodersen,
aber auch aus eigenem journalistischem Interesse.