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Dem offenen Gesprächskreis in Meerbusch-Büderich für mehr als 25 Jahre Weggemeinschaft

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© 2018 Heribert Fischedick

ISBN  
Paperback: 978-3-7469-3985-8
Hardcover: 978-3-7469-3986-5
e-Book: 978-3-7469-3987-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Es ficht göttliche Wesen nicht an,

dass sie ihr wahres Leben,

ihr einziges Leben

im Gemüt des Menschen haben.“

(Georg Brandes)

Das Reich Gottes

ist nicht hier oder da –

es ist in Euch!

(Der Jesus des Markus-Evangeliums)

Heribert Fischedick

Glaubst Du noch oder
erfährst Du schon?

Das spirituelle Christentum

Inhalt

1. Sucht das Gold des Christentums

2. Der Jesus des Christentums – eine Kunstfigur?

3. Was ist Wahrheit?

4. Der spirituelle Prozess

5. Jesus der Meister

6. Die spirituelle Kernbotschaft

7. Die Grundüberzeugung – Das Vaterunser

8. Die Gnosis – ein west-östlicher Weg

9. Der gnostische Einweihungsweg

10. Das Christentum als Mysterienreligion

11. Das Drama der Transformation

12. Glaubst Du noch oder erfährst Du schon?

AUTOR

1. Sucht das Gold des Christentums

Die religiöse Landschaft der Bundesrepublik hat sich in den letzten 30 Jahren so deutlich verändert, dass wir im Grunde schon von einer nachchristlichen Ära sprechen müssen. Denn zum ersten Mal wird auch der christliche Glaube als eine Angelegenheit ganz persönlicher Entscheidung erlebbar. Niemand muss mehr kirchlich-religiös sein – weder unter dem Druck der Familie noch unter dem Druck des umgebenden sozialen Milieus. So wachsen die Zahl der Kirchenaustritte und auch die Zahl der Nichtgetauften. Zwar können beide Konfessionen immer noch beachtliche Mitgliederzahlen vorweisen, aber für die Lebenserfahrung und die Lebensgestaltung der Menschen bleibt diese Mitgliedschaft weithin ohne Bedeutung. Das zeigt sich auch an der wachsenden Zahl der Unwissenden, die zwar infolge der Praxis der Säuglingstaufe einer Kirche angehören, aber trotz schulisch verordneten Religionsunterrichtes keine wirkliche religiöse Sozialisation erfahren haben. So fehlt ihnen grundlegendes Wissen und vor allem praktische Erfahrung.

Schon lange ist eine dramatische Entfremdung zwischen den Kirchen und den Menschen im Gange. Die Kirchen sind –im Gegensatz zu ihrem politischen Einfluss- im Leben der Einzelnen zur Randerscheinung geworden, reduziert auf wenige Brennpunkte des Lebens wie Geburt, Hochzeit und Tod. Von den in der Bundesrepublik existierenden zehn gesellschaftlichen Milieus (Zuordnung von Menschen mit ähnlichen Einstellungen und Lebensorientierungen)1 erreichen sie nur noch drei im Schrumpfen begriffene: die Traditionsverwurzelten, die Konservativen und einen kleinen Teil der bürgerlichen Mitte. Die meisten Milieus haben, wenn überhaupt, allenfalls punktuell eine kundenähnliche Beziehung zu den Kirchen, deren familienstützenden, caritativen oder liturgischen Service sie dann und wann abrufen, ohne sich mit den damit zusammenhängenden Sinndeutungen zu belasten. Die sogenannten „Kerngemeinden“ (Gottesdienstbesucher und in Gremien und Arbeitskreisen Engagierte) weisen eine katastrophale Altersstruktur auf, die sich trotz euphorisierender Weltjugendtage und ähnlicher Events nicht verbessert. An den letzten Pfarrgemeinderatswahlen im Erzbistum Köln beteiligten sich gerade noch 5,7% der wahlberechtigten Katholiken. Und selbst die kirchlich Orientierten garantieren allenfalls noch Teilidentifikationen mit der kirchlichen Lehre und Moral, wie die gerade durch Papst Franziskus gestartete Umfrage zur Realität der Ehe- und Familienpastoral in den europäischen Ländern deutlich zeigt. Heutige Glaubensvorstellungen sind eher zusammengesetzte, eine mehr oder weniger bewusst gewählte Marke Eigenbau. Die aufrechterhaltene Mitgliedschaft sagt demnach mehr über die Zähigkeit von Traditionen, mangelnde Selbstverantwortung und das unterschwellige „man weiß es ja nicht“ aus als über Gläubigkeit im Sinne der Kirchen.

Auf der anderen Seite findet sich heute außerhalb der Kirchen eine wachsende Zahl spirituell Suchender. Esoterische Literatur, Schriften über Buddhismus, Taoismus, Sufismus und Zen finden schon seit Jahren großes Interesse, Gregorianik taucht in den Hitparaden auf, Klöster und andere Orte der Stille sind gefragt, Yoga- und Meditationskurse überfüllt, Symbole anderer Religionen schmücken die Wohnungen. Zieht man die Zahl der „Spirit-light“-Konsumenten ab, die in der Spiritualität lediglich Bestätigung ihrer narzisstischen Selbstbeschäftigung und außergewöhnliche Effekte suchen, bleibt immer noch eine große Zahl derer, die ernsthaft nach Wegen suchen, die ihnen sinnstiftende Erfahrungen mit sich selbst und der sogenannten geistigen oder göttlichen Welt ermöglichen. Wer heute nach einer spirituellen Orientierung sucht, der will weder vorgegebene Dogmen, die er für wahr halten muss, noch ein enges System von Verhaltensanweisungen, die er befolgen muss. Wer heute ernsthaft nach einer spirituellen Orientierung sucht, der will auch nicht mehr von einer Sündenschuld erlöst werde, die er nicht empfindet; der will keine Moral, die ihm Selbstannahme und Lebenslust verleidet, aber auch keine chronisch unterfordernden „seid lieb zueinander“-Plattitüden. Wer heute nach einer spirituellen Orientierung sucht, der möchte Frieden in sich finden, Achtung vor dem Leben in all seinen Erscheinungsformen entwickeln, Sinn erfahren, Klarheit gewinnen, die Liebe lernen und einen individuellen Weg gehen können, der ihn dem Wesentlichen – auch dem eigenen Wesen – nahe bringt. Wer heute nach spiritueller Orientierung sucht, der möchte auch im Glauben erwachsen bleiben können – denkend und selbstverantwortlich, ohne auf ewig infantil („Gottes Kind“) oder dem Feudalismus („Diener“/„Dienerin des Herrn“) verhaftet bleiben zu müssen.

Wer heute unter diesen Voraussetzungen nach spiritueller Orientierung sucht, kann durchaus das Christentum als Weg wählen. Denn es hat mehr zu bieten als das, was üblicherweise im Religionsunterricht oder von den Kanzeln zu vernehmen ist. Das Christentum war nie eine so einheitliche Bewegung, wie es das Papstchristentum gerne gehabt hätte. Es war vielmehr von Anfang an von einem Bruch bestimmt, der sich auch durch andere Religionen zieht: dem Bruch zwischen exoterischem und esoterischem Verständnis. Neben dem konfessionellen und kirchlich-institutionalisiertem Christentum gab es immer auch ein Christentum der Innerlichkeit, in dem sich der Glaube auf unmittelbare Erfahrung und die innere Stimme berief. Von Johannes, Paulus, der Gnosis und vielen Kirchenvätern angefangen über den mittelalterlichen Gralskult, die Templer, Katharer, Mystiker wie Meister Eckhart, Johannes Tauler und Joachim von Fiori bis zu den Rosenkreuzern, Jakob Böhme, Rudolf Steiner und C.G.Jung war diese Bewegung zwar nie massentauglich, aber immer lebendig. Das exoterische Christentum hat im Verbund mit der weltlichen Macht die Oberhand bekommen unter Preisgabe vieler esoterischer Erfahrungen, Erkenntnisse und spiritueller Wege. Die „konstantinische Wende“ im 4. Jhdt., durch die das Christentum 380 n.Chr. zur Staatsreligion des römischen Reiches wurde, markiert diesen Sieg. „Jesus kündigte das Kommen der Gottesherrschaft an – und gekommen ist die Kirche“ bringt es ein populärer Stoßseufzer auf den Punkt. Aber vieles, das der ursprünglichen Jesusbewegung eigen war, ist auch im heutigen Christentum noch gegenwärtig – versteckt wie Goldkörner im Flusssand. Dieses Gold spiritueller Essenz gilt es herauszusieben aus der Masse historisch gewordener Strukturen, römisch-juridischen Denkens, politisch-strategischer Absichten und moralischer Engführung. Wer heute dieses Gold (wieder-) finden will, braucht den Mut, sich von traditionellen Vorstellungen frei zu machen, sich leer zu machen für neue Erfahrungen. Der Mystiker Meister Eckhart spricht vom „ledigen gemüet“ als Voraussetzung. Wer dieses Gold heben will, braucht aber vor allem den Mut, sich auf einen selbstverändernden Prozess einzulassen.

2. Der Jesus des Christentums - eine Kunstfigur?

Das Christentum führt sich zurück auf Jesus von Nazareth. Seine Geschichte, so wie sie die vier Evangelien der kirchlichen Bibel überliefern, ist rasch erzählt: Jesus –die latinisierte Version des jüdischen Namens JeSchUa- wird kurz vor Ende der Regierungszeit Herodes I. (37-4 v.Chr.) als Sohn Gottes und einer jüdischen Jungfrau in Bethlehem in einem Stall geboren; Engelchöre bejubeln seine Geburt, Hirten beten ihn an und aus dem Orient angereiste Sternkundige erkennen in ihm den neugeborenen König der Juden; Herodes versucht in einem groß angelegten Kindermord sich des vermeintlichen Rivalen zu entledigen, das Kind aber kann im Exil in Ägypten überleben; nach Israel in den Ort Nazareth zurückgekehrt, fällt schon früh seine Begabung auf; dann ist es lange Zeit still um ihn; erst um das Jahr 30 n.Chr. taucht er in der Nähe Jerusalems am Jordan auf, um sich durch den jüdischen Bußprediger Johannes einem Tauchbad-Ritual zu unterziehen; nach einem kurzen Wüstenaufenthalt sammelt er eine Schar von Lernenden um sich und zieht mit ihnen als spiritueller Prediger durchs Land, wobei er sich des Öfteren mit den jüdischen Religionsvertretern anlegt; außerdem wirkt er eine Reihe Heilungs- und Naturwunder (Stillung eines Sturmes, Verwandlung von Wasser in Wein, Totenerweckungen); Höhepunkt seiner Wanderung ist seine Verklärung auf einem Berg, bei der er von seinem himmlischen Vater als Sohn und Lehrer bestätigt wird; schließlich wird ihm im Jahre 33 n.Chr. in einer gemeinsamen Aktion von jüdischem Hohem Rat und römischer Besatzungsmacht der Prozess gemacht; Jesus wird zum Tod verurteilt und angepfahlt; in der Gruft eines jüdischen Ratsmitgliedes beigesetzt, steht er nach drei Tagen vom Tode auf; noch eine kurze Zeit unterweist er seine engsten Lernenden und fährt dann in den Himmel auf; seine Lernenden setzen daraufhin seine Predigt fort und feiern zur Erinnerung an ihn ein Heiliges Mahl, in dessen Verlauf sie sein Fleisch und Blut in sich aufnehmen. Soweit so gut, abgesehen davon, dass die vier Evangelien sich in durchaus relevanten Details widersprechen und auch mit historisch gesicherten Daten oft nicht in Übereinstimmung zu bringen sind.

Doch mit dieser Biographie reiht sich Jesus nahtlos in die Reihe mediterraner Vegetations- und Sonnengötter ein, deren Kulte im Mittelmeerraum weit verbreitet waren. Dazu zählen zum Beispiel der babylonische Gott Marduk, der syrische Held Adonis, der sumerische Tammuz, der indo-iranische Mithras, der phrygische Attis, der ägyptische Osiris und der thrakische Dionysos. Sie alle sind Halbgötter mit einem himmlischen Vater und einer irdischen Mutter, die in der Welt ein Schicksal erleiden, getötet werden und binnen kurzem wieder auferstehen. Lange vor Jesus schon wurde der babylonische Gott Marduk gefangengenommen, verhört, zum Tode verurteilt und gemeinsam mit einem Verbrecher hingerichtet, während man einen anderen Verbrecher frei ließ. Wie Jesus stieg er hinab in die Hölle, um die dort Gefangenen mit seiner Auferstehung zu vereinen. Von Osiris und Dionysos heißt es in unterschiedlicher Akzentuierung: er wird am 25. Dezember in einer Höhle bzw. einem einfachen Stall geboren; er wird von 12 Lernenden begleitet, denen er die Möglichkeit der Wiedergeburt durch eine Taufe anbietet; auf wundersame Weise verwandelt er bei einer Hochzeit Wasser in Wein; er ritt auf einem Esel in die Stadt, wo die Menschen ihm zu Ehren mit Palmwedeln winkten; er stirbt im Frühjahr als Opfer für die Sünden der Menschen, steht drei Tage später vom Tod auf und fährt in den Himmel auf; seine Anhänger erwarten seine Wiederkunft als Richter am Ende der Zeit und feiern seinen Tod und seine Auferstehung in einem ritualisierten Mahl mit Brot und Wein, die seinen Körper und sein Blut symbolisieren. Auch die Figur des zu Unrecht angeklagten Gerechten kommt in diesen Zusammenhängen des Öfteren vor. Die Übereinstimmungen zwischen der Jesus-Geschichte und den Biographien anderer getöteter und auferstandener Gottessöhne sind so frappierend, dass sie natürlich auch den Menschen damals schon auffielen. Das ist auch mit ein Grund, warum die Heiden eher bereit waren, den Glauben an Jesus anzunehmen: es war ihrem Denken nicht fremd, dass ein Gott auf der Erde starb und wiederauferstand, im Gegensatz zu den Juden, die dies mit ihrem Glauben an Jahwe keineswegs vereinbaren konnten. Gegen das Argument, dass das Christentum also nicht Neues bringe, kamen die „Gottesgelehrten“ der frühen Kirche in ihrer Rechtfertigung des „einzig wirklich Auferstandenen“ auf die grandiose Idee, die auffallenden Übereinstimmungen damit zu erklären, dass der Teufel diese heidnischen Trugbilder im Vorausblick auf das Lebensschicksal Jesu geschaffen habe, um die Menschen der Jahrtausendwende zu verwirren! Die Jesus-Geschichte also in Wahrheit ein Plagiat? Ein Ausschlachten und Abkupfern vorhandener Erzählungen, um diesen noch eine weitere, im Mittelmeeranrainer Israel angesiedelte Variante hinzuzufügen – ein „Best of“ mit neuen Namen und Orten sozusagen? Das wäre natürlich eine Erklärungsmöglichkeit- aber sie entspräche eher einer ziemlich modernen Hypothese, genährt aus den Erfahrungen schwindender Urheberrechte in Zeiten des Internets.

Eine andere Deutungsmöglichkeit tut sich auf, wenn wir uns klar machen, dass sowohl Individualität als unverwechselbare Bedeutung Einzelner wie auch Historizität im Sinne einer exakten Recherche erst neuzeitliche Konzepte sind, die zur Entstehungszeit des Christentums noch keine Rolle spielten. Bedeutsam war damals die Figur, die Idee und die Erfahrungen, die sie verkörperte – so wie die Bühnenfiguren antiker Dramen, die zur Identifikation einluden, um in ihren Geschichten die Dramen der eigenen Seele wie in einem Spiegel verstehen zu können. Anschauliche Stimmigkeit war das entscheidende Kriterium und nicht die Frage, ob und wenn wann, wo und wie sich das Dargestellte exakt abgespielt hat. Ein guter Roman, ein gutes Drama muss fesseln, man muss mit dem Helden mitfühlen können – und das gelingt am besten, wenn archetypische Themen und Bilder verwandt werden. Sie stellen so etwas wie die emotionale Sprache der Seele dar und spiegeln grundlegende Themen, die über individuelle Belange hinausgehen und von zeitloser Bedeutung sind. „ Bei der Entwicklung eines Verständnisses für Mythos und Mythologie muss man begreifen, dass der Mensch in sich Bilder trägt, Vorstellungen, die ihm ganz tief eingegraben sind und die er gar nicht in sein Bewusstsein zu bekommen braucht, die er aber dann, wenn sie ihm begegnen, als irgendwie zu ihm gehörig erlebt und darauf anspricht. Es entsteht die Empfindung einer Entsprechung zwischen dem auftretenden Bild und dem Inneren des menschlichen Wesens.“2 Der große amerikanische Mythologe Joseph Campbell ist der Meinung, dass da, wo sich ein Mensch über die biographischen, örtlich und zeitlich bedingten Themen hinausgearbeitet und zu einer kollektiv bedeutsamen Erfahrung gefunden hat, wie von selbst die typischen Bilder der Heldenreise angezogen, aufgesogen assimiliert werden, weil anscheinend nur sie geeignet sind, diese Erfahrung zu fassen und emotional berührend weiterzugeben. „Ob Sie nun als Mensch in New York City oder als Mensch in den Höhlen leben, Sie durchlaufen die gleichen Stadien: Kindheit, Geschlechtsreife, Wandlung von der Abhängigkeit der Kindheit zur Verantwortlichkeit des Mann- oder Frauseins, Ehe, dann Verfall des Körpers, allmähliche Einbuße seiner Kräfte und Tod. Sie haben den gleichen Körper, die gleichen körperlichen Erfahrungen, und daher sprechen Sie auf die gleichen Bilder an. Ein gleichbleibendes Bild ist zum Beispiel das vom Konflikt zwischen Adler und Schlange. Die Schlange an den Boden gefesselt, der Adler in geistigem Höhenflug – ist dieser Konflikt nicht etwas, was wir alle erleben? Und wenn sich die zwei dann verbinden, bekommen wir einen wunderbaren Drachen, eine Schlange mit Flügeln. Überall auf der Erde erkennen Menschen diese Bilder wieder. Ob ich polynesische oder irokesische oder ägyptische Mythen lese, die Bilder sind die gleichen, und sie sprechen von den gleichen Problemen.“3

So gesehen ist es natürlich nicht verwunderlich, dass all die mediterranen sterbenden und auferstehenden Gottessöhne in Grundzügen ein ziemlich ähnliches Lebensschicksal aufweisen, weil es den typischen Elementen des mythischen Heldenweges entspricht: die Geburt erfolgt durch eine jungfräuliche Mutter unterwegs in großer Armut und meist unter wunderlichen Umständen; das Überleben des Helden ist von Anfang an durch Widersacher und böse Mächte gefährdet, so dass er zunächst eine Zeit im Exil verbringen muss; schon früh wird seine Begabung erkennbar; eines Tages erlebt er dann seine Berufung und muss aufbrechen; folgt er diesem Ruf, erhält er bald Hilfe durch übernatürliche, beschützende Gestalten, die ihn für seinen bevorstehenden Kampf ausrüsten; damit beginnt für ihn ein Abenteuerweg, auf dem er viele Prüfungen zu bestehen und vieles zu lernen hat; wenn er die Welt in ihren bekannten Dimensionen ausgeschritten hat, überschreitet er schließlich die Schwelle zu einer Zone besonderer Magie und Bedeutung, wo entweder die Hochzeit mit der Mutter/Braut oder die Bestätigung durch den Vater stattfindet; im Kampf gegen die Mächte des Bösen gelingt es ihm so gestärkt, diesen eine wertvolle Erkenntnis oder ein wichtiges Heilmittel abzugewinnen; auf dem Rückweg muss er weitere Prüfungen bestehen; der glückliche Ausgang ist oft gefährdet durch Verrat aus den nächsten Umgebung oder die Anfälligkeit für die Sünde des Stolzes; so endet der Mythos oft mit dem Tod des Helden, einem selbstlosen Opfer zum Wohl der Gemeinschaft, und seiner Wiederbelebung. Auch wenn diese Grundstruktur in den jeweiligen Mythen eine lokale Ausgestaltung und Variation erfährt und der Held je einen anderen Namen trägt, tritt eine mögliche auslösende historische Person vollkommen dahinter zurück zugunsten dieser Bilder, die die entsprechende Erfahrung transportieren können. „Es ist, als ob dasselbe Stück von einem Ort zum anderen getragen würde, und an jedem Ort ziehen die Spieler ihre heimischen Kostüme an und führen dasselbe alte Stück auf.“ 4 Die Frage ist also nicht, was davon ist in einem äußeren Sinne jemals so geschehen und welchen dieser Helden gab es wirklich wann und wo, sondern: welche Erfahrung steckt dahinter, die uns so ortsübergreifend und zeitlos unbedingt angeht, dass sie überall zu den gleichen Bildern führt? Was bedeutet das nun für unser Verständnis der Jesus-Geschichte?

1. So hart (und für manche erschreckend) das klingt: über einen historischen Jesus wissen wir nichts! In der Theologie wird zwar der Frage nach dem historischen Jesus nachgegangen, aber die setzt voraus, dass es ihn gegeben hat. Fragt man dagegen unvoreingenommen historisch nach Jesus, findet man keinen Beleg für seine Existenz, schon gar keine Nachweise über Details seines Lebens und Wirkens. Alles, was wir zu wissen glauben, stammt aus den nicht objektiven Texten der kirchlichen Bibel. Außerbiblische „Beweise“ wie beispielsweise die Erwähnung der Jesus-Geschichte im Werk des jüdischen „Geschichtsschreibers“ Flavius Josephus sind längst als mittelalterliche Einschübe/“Nachbesserungen“ entlarvt. Über den ersten Jesus, der das Christentum begründet haben soll, wissen wir ehrlicherweise nichts, nicht einmal, ob er überhaupt gelebt hat. Wir haben keinen Eintrag in irgendeinem Geburtsregister und auch keine Sterbeurkunde. Wir kennen den Verlauf seines Lebens nicht und es gibt kein einziges Wort, das wir als ein einwandfreies Zitat auf ihn zurückführen können. Seine Vita, geschrieben im Abstand von mindestens zwei Generationen, ist konstruiert, aus bruchstückhaften Einzelteilen und Episoden zusammengesetzt, hinter denen die Konturen, die Persönlichkeit und der Lebenslauf eines im historischen Sinne realen Jesus völlig ungreifbar werden. Alles an dieser Geschichte ist mythologisch, symbolisch, theologisch, mehrdeutig.

2. Rund tausendsechshundert Jahre lang wurde unsere Vorstellung über Jesus fast ausschließlich von den vier biblischen Evangelien bestimmt, ehe Ende des 19. Jahrhunderts und Mitte des letzten Jahrhunderts nahe Oxyrhynchus und Nag Hammadi in Ägypten immer wieder neue Schriften gefunden wurden, die uns eine ungeahnte Fülle, Vielfalt und Verschiedenheit der Jesus-Traditionen in den Anfängen des Christentums vor Augen führten.5 Diese Schriften überliefern keinerlei biographische Angaben oder Wundergeschichten, sondern Worte und Sinnsprüche, aus denen kein apokalyptischer Moralprediger spricht, sondern ein spiritueller Meister mit einer großen Nähe zur östlichen Spiritualität. Keine einzige dieser Schriften hat wohl jemals Anspruch auf weltweite Geltung erhoben. Es waren vielmehr lokale Sammlungen mündlicher Überlieferungen, niedergeschrieben als Erfahrungskonzentrat von und für ganz bestimmte Gemeinden. Die Vielzahl der Quellen darf durchaus als Hinweis darauf gewertet werde, dass dieses Jesus-Bild vom spirituellen Meister in den Anfängen dominierte, ehe durch die sogenannte Kanonbildung zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert die 4 kirchlichen Evangelien als einzige in den Kanon der „Heiligen Schrift“ aufgenommen wurden. Wir haben es in diesen Schriften mit einem „zweiten Jesus“ zu tun, der Figur eines spirituellen Meisters und Lehrers, die also solche bereits vorgibt, wie das ihr Zugeschriebene zu verstehen ist: als Niederschlag einer spirituellen Erfahrung, die auch anderen zugänglich gemacht werden soll; eine Anleitung also zur eigenen Erfahrung, zur Erleuchtung – offen für alle, unabhängig von Geschlecht, Stand und Nationalität.

3. Ein „dritter Jesus“ ist dann der des Mythos des sterbenden und auferstehenden Gottessohnes mit dem diesem Schicksal entsprechendem Heldenweg. Offenbar gab es in der Jesus zugeschriebenen spirituellen Botschaft solche Elemente, die wie von selbst durch den aktivierten Archetyp alle dazu passenden Bilder, die im vorderasiatisch-mediterranen Raum lebendig waren, begierig aufsogen und anpassten. Man kann sich einen Mythos wie einen kollektiven Traum vorstellen. Im nächtlichen Traum der Einzelnen werden Tageseindrücke aufgenommen und mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen zu einer bildhaften Geschichte verknüpft, die in ihren Symbolen erahnen lässt, welche Bedeutung diese Erfahrungen für uns haben. Im Mythos dagegen werden allgemein gültige Erfahrungen einer ganzen Kultur mit zentralen Lebensthemen und –erfahrungen zu einer bildhaften Geschichte verarbeitet, deren Symbole diese Erfahrung für alle bedeutsam machen. Im Ritus werden diese Geschichten dann (psycho-)dramatisch aufgeführt, um die daran Teilnehmenden in diese Erfahrung hinein zu holen. In den Mysterienkulten des Mittelmeerraumes zum Beispiel nehmen sie teil am Schicksal der sterbenden und auferstehenden Götter und bekommen so Anteil an deren Erkenntnis und Sieg. „Wenn wir mit Christus gestorben sind, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden“ heißt es im Römerbrief (Röm 6,8)

4. Der „vierte Jesus“ schließlich, so wie er uns in den kirchlichen Evangelien und der kirchlichen Lehre begegnet, ist eine weitere mit ganz bestimmten Absichten aufgebaute Kunstfigur, bei der jetzt mit Vehemenz darauf bestanden wird, er sei eine reale Person der Geschichte und alles habe sich genauso, wie in den Evangelien beschrieben, an genau den benannten Orten abgespielt. Mit dem Ende des jüdischen Krieges (66-73 n.Chr.), der mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und einer tiefen Demütigung für das nationale und religiöse Selbstverständnis des Judentums einherging, bot sich für einen Teil der Jesusbewegung die Chance eines Neuanfangs, indem sie den universellen Charakter der Jesusbotschaft nicht nur dazu nutzten, eine von der Nationalität unabhängige Religion anzubieten, die allen Völkern offen stand, sondern diese gleichzeitig von der Erfahrung unabhängig zu machen. Jude wurde man durch Geburt von einer jüdischen Mutter (Konvertiten waren eher unerwünscht), Teil der Jesusbewegung wurde man durch entsprechende spirituelle Erfahrung und/oder die Einweihung durch einen Mysterienkult, Mitglied der Kirche wird man, indem man sich zu ihren Lehren bekennt. Nicht mehr die spirituelle Erfahrung ist der eigentliche religiöse Akt, sondern der Glaube tritt an ihre Stelle – „politisch-strategisch“ ein genialer Schachzug! Denn damit konnten die Inhalte des Glaubens vorgegeben und eine deutliche Trennung zwischen Zugehörigen („Rechtgläubigen“) und Nichtdazugehörenden („Ungläubige/Häretiker“) gezogen werden. Das „Katholische“ (allumfassende) bedeutete jetzt nicht mehr eine allen offenstehende Einweihung in ein neues Bewusstsein, sondern eine für alle verbindliche einheitliche Organisationsform mit einer ebenso verbindlichen einheitlichen Form von Gottesdienst und Ritual und einer einheitlichen Lehre, streng gelenkt und kontrolliert von einer hierarchischen Autoritätsstruktur. Mitglied dieser Organisation wird man durch einen formalen Akt (Glaubensbekenntnis) und eine rituelle Eingliederung (Taufe). Dazu musste diese Organisation auf der Historizität der Lebensgeschichte Jesu bestehen und hier vor allem auf der wörtlich zu nehmenden Auferstehung nach seinem gewaltsamen Tod sowie der anschließenden Sonderbelehrung seiner engsten Schüler. Denn „jeder kann behaupten, eine spirituelle Begegnung mit Christus gehabt zu haben, und Lehren legitimieren, indem er sie auf eine solche Begegnung zurückführt. Wenn der auferstandene Christus allerdings ein körperliches Wesen war, das in der vierzig Tage dauernden Periode zwischen Auferstehung und Himmelfahrt den Jüngern erschienen war und mit ihnen gesprochen hatte, dann haben diese Begegnungen und die Lehren, die von ihnen herrühren, mehr Autorität als irgendwelche angeblichen spirituellen oder visionären Begegnungen – man kann sogar den Anspruch erheben, dass nur sie allein diese Autorität haben. Nebenbei bemerkt soll der auferstandene Christus Petrus zu seinem Nachfolger ernannt haben. .. Der Glaube an die tatsächliche körperliche Gegenwart Christi während dieser vierzig Tage war zentral, um die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Ordnung zu bestätigen und sie für alle Zeiten aufrechtzuerhalten.“6 So begann der Umbau des Weisheitslehrers Jesus in einen apokalyptischen Propheten, Religionsgründer und Ethiklehrer. In Ermangelung wirklicher biographischer Angaben wurde ihm eine Biographie nach dem Vorbild anderer Gottessöhne verpasst und mit Worten und Ereignissen verwoben, die seine Bedeutung im Sinne der sich konstituierenden Kirche und die Legitimität ihrer Ansprüche betonten. Gleichzeitig wurde die jüdische Bibel annektiert und in die neue Heilige Schrift einverleibt, weil deren „messianische Prophezeiungen … (den) Lehren über Jesu Identität und die Bedeutung seiner irdischen Laufbahn Glaubwürdigkeit und Autorität verliehen.“7