Nagel & Kimche E-Book

 

Erling Sandmo

 

Ungeheuerlich

 

Seemonster in Karten und Literatur 1491–1895

 

Aus dem Norwegischen von Sylvia Kall

 

 

Nagel & Kimche

 

 

«Sein Angesicht war ganz menschlich, was Mund und Augen betrifft, doch war die Nase flach und eingedrückt; die Nasenlöcher waren daran am deutlichsten. Die Brust war vom Kopfe nicht sehr unterschieden. Die Arme waren ihm an den Seiten gleichsam durch ein dünnes Fell angeheftet, dadurch sie sich ausstrecken konnten, und die Hände waren, dem Ansehen nach, wie die Tatzen an einem Seehunde.»

 

Aus Erik Pontoppidan, Versuch einer natürlichen Historie von Norwegen, Bd. 2, Kopenhagen 1754

 

 

INHALT

 

 

Die Nachtseite der Normalität

 

Die Sternbilder des Meeres

 

Verlorener Stolz

 

Das Phantombild der Sprache

 

Die Tautrinker

 

Die Eigenliebe des Menschengeschlechts

 

Der rettende Teufel

 

Odysseus auf den Lofoten

 

Daniels Traum

 

Im Bauch des Orients

 

Ein Herz aus Wasser

 

Wohnen im Bauch des Sturms

 

Gottes Bote in der Küche

 

Feuer zwischen den Wellen

 

Der Vielfüsser bei Kristiansand

 

Der Blick auf den Körper

 

Die lebende Insel

 

Der Schwanengesang der Seemonster

 

Zu groß, um gesehen zu werden

 

Ein Freund geht zugrunde

 

Das Meermenschenliebespaar, eingefangen in einem glücklichen Augenblick der Monstergeschichte, stammt aus Abraham Ortelius’ Theatrum orbis terrarum, Antwerpen 1570.

 

 

DIE NACHTSEITE DER NORMALITÄT

 

 

Eine Zusammenkunft von Monstern – die wollte ich in diesem Büchlein über Seemonster arrangieren. Allerdings handelt es sich dabei um ein paradoxes Unterfangen: Es liegt in der Natur von Monstern, Grenzen und Kategorien zu überschreiten sowie Unruhe und Unbehagen in Systeme zu tragen, um dann im Dunkeln zu verschwinden, sobald wir versuchen, sie zu gruppieren und festzuhalten.

Trotzdem ist genau das meine Absicht. Hier sind zwanzig Monster, oder genauer: Seeungeheuer, versammelt. Ich habe sie nach zwei Kriterien ausgewählt: zum einen, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten tatsächlich als Monster betrachtet wurden, zum anderen, dass es sie immer noch gibt – in den Sammlungen der norwegischen Nationalbibliothek.

Das letztgenannte Kriterium lässt sich leicht umsetzen, denn es geht um unsere eigene Zeit. Die Nationalbibliothek besitzt umfangreiche Sammlungen von Büchern, Manuskripten und Karten sowie eine Menge anderer Träger von Wissen, Ideen und Meinungen.

Für dieses Buch habe ich auf Bücher, Karten und Handschriften aus fünf Jahrhunderten zurückgegriffen, vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Das war die Glanzzeit der Monster, was vor dem Hintergrund einiger historischer Umwälzungen zu sehen ist: erstens die großen Entdeckungsreisen und damit ein enormes, neu erwachtes Interesse an der Kartographie, zweitens die Reformation und eine neue Faszination für religiöse Vorzeichen und Omen, drittens die Entstehung einer neuartigen, umfassenden – und durchgehend illustrierten – naturhistorischen Literatur. Eine bedeutende gemeinsame Voraussetzung für diese drei Entwicklungen war der Buchdruck, der die Verbreitung von Bildern und Wissen in Europa ermöglichte. Mit der Zeit schwand das Interesse am Monströsen und auch der Glaube an die Existenz der Monster. Heute gehören sie zumeist in den Bereich der Phantasie und Unterhaltung, aber hier werden sie als durchaus real dargestellt – in unterschiedlicher Weise.

Dennoch hat wenig von dem Material, das meinem Buch zugrunde liegt, Monster oder das Monströse zum Hauptthema: Vielmehr handelt es sich immer um Versuche, Wissen von der Welt und ihren realen Bestandteilen zu präsentieren. Oft geht es um Tiere, aber manchmal auch allgemeiner um Natur, Geographie, menschliche Sitten und Gebräuche sowie Religion – um nur einige Themen zu nennen. Die Grenzen zwischen diesen Wissensgebieten veränderten sich ständig, aber diejenigen, die sich mit ihnen beschäftigten, waren fast immer bestrebt, Wissenssysteme zu konstruieren und Kriterien zu finden, um zwischen wahr und falsch, gewöhnlich und ungewöhnlich, regelmäßig und unregelmäßig zu unterscheiden. Und all diese Versuche haben Wesen zutage gebracht, die Unruhe, Chaos – und Furcht – hervorrufen. Monster sind solche Geschöpfe.

Monster sprengen die Grenzen und Kategorien des Wissens, aber da das Wissen einem kontinuierlichen Wandel unterliegt, verändert sich im Lauf der Zeit und von Kultur zu Kultur die Auffassung, was Monster sind, konkret und praktisch. Die Beispiele hier sind in erster Linie zusammengestellt worden, um die Vielfalt des Monströsen und Ungeheuerlichen zu zeigen, aber an ihnen lassen sich auch leicht einige Hauptlinien in der Geschichte der Monster erkennen.

Eine davon ist die Entwicklung vom Demonstrativen zum Ungewöhnlichen. Mit «demonstrativ» ist gemeint, dass die Monster – beide Worte haben dieselbe Wurzel, das lateinische «monstrum» – einen Sinn oder eine Botschaft in sich tragen, sie zeigen etwas. Dieses «Etwas» kann eine moralische Erkenntnis sein, es kann Gottes Wille sein oder auch das Vorzeichen eines schrecklichen Geschehens. Der Text, den ich für dieses Buch am meisten verwendet habe, ist das imposante Werk des Geistlichen Olaus Magnus, die Historia de gentibus septentrionalibus, die «Beschreibung der Völker des Nordens». Olaus war Katholik und verbrachte den Großteil seines Lebens als Erwachsener im Exil in Mittel- und Südeuropa. In Venedig veröffentlichte er 1539 eine große Karte der Nordsee und der nordischen Länder, das obengenannte Buch gab er 1555 in Rom heraus. Beide Publikationen enthalten eine Menge Beispiele für demonstrative Monster. Meine zweite Hauptquelle, Det første Forsøg på Norges Naturlige Historie (zu Deutsch: «Versuch einer natürlichen Historie von Norwegen», 1753/54) des norwegischen Bischofs Erik Pontoppidan von 1752/53, handelt auch von «gewissen Seeungeheuern», aber dort sind die Monster eher außergewöhnliche Tiere, deren Existenz umstritten ist.

Darüber hinaus ist diese Geschichte eine Sammlung von Erzählungen über phantastische Tiere, die die Leute gesehen oder zu sehen geglaubt haben, von denen sie gehört oder die sie an der Meeresoberfläche erahnt haben oder die auf ihrer Küchenarbeitsplatte gelandet sind. Sie ist auch eine Alltagsgeschichte, teils vom Schrecken, teils vom Staunen und vom Träumen von all dem Unbekannten, das man eines Tages vielleicht gewahr werden wird. Wie Pontoppidan schreibt:

Könnten wir uns vorstellen, die See würde durch einen Ablauf auf einmal auf diese Art ausgeleeret werden, so wie man eine kleine See oder einen Fischteich ablaufen lässet, um ihn zu reinigen; o! welche unglaubliche Verschiedenheit von unbekannten und theils recht gräslichen Seeungeheuern oder ungewöhnlichen Seethieren würden wir auf dem Seegrunde in ausserordentlicher Menge durcheinander erblicken! Alsdann würden wir sogleich im Stande seyn, viele Fragen von den Seethieren abzuthun, deren Wirklichkeit anitzt, als dunkle Aufgaben, bestritten wird.

In meiner Vorstellung waren die Sammlungen der Nationalbibliothek für mich diese trockengelegte Meerestiefe, in der ich die Monster finden konnte, um sie in einem Buch zu versammeln. Durchführbar war das nur mit den verschiedensten Hilfeleistungen und grenzüberschreitenden Ratschlägen meiner Kolleginnen und Kollegen. Ich danke ihnen allen, besonders Benedicte Gamborg Briså, Karen Arup Seip und Bente Lavold.

Oslo, im Juni 2017