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Jutta Teubert

GEMEINSAM
BESSER

Die Generationenchance

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INHALT

Über den Autor

Einleitung

Teil 1 Ich und du – Generationensensibel werden mit Kopf und Herz

1 | An einem Tisch

2 | Wir sind viele

Im Gespräch mit Sara Wiens

3 | Ich und wir

4 | Angst – Mut – Hoffnung

5 | Die jungen Hüpfer und die alten Hasen

6 | Miteinander – voneinander – übereinander

Im Gespäch mit Dr. Andrea Klimt

Teil 2 Wir – Generationenübergreifend handeln mit Herz und Hand

1 | Step by step

2 | Stolperstein Kommunikation

3 | Vorhang auf

Thekla Neumann erzählt von ihrem generationenübergreifenden Theaterprojekt

4 | Staffellauf

Familie Hering-Giesler: eine Dreigenerationenfamilie mit Familienbetrieb

Statement von Pastor Tom Schönknecht: »Partizipation verstärkt alles!«

5 | Türen öffnen

6 | Begegnungen ermöglichen – Erlebnisse schaffen

Mona Kuntze erzählt: »Aus einem alten Schuh wächst Neues«

Teil 3 Gemeinsam – Generationenverbindend leben hat Hand und Fuß

1 | Nähe und Distanz erleben

Im Gespräch mit Dagmar Lohan

2 | Auf Augenhöhe

3 | Brücken bauen

Im Gespräch mit Gustav Kannwischer über Mehrgenerationen-Wohnanlagen

4 | Authentisch – verlässlich – ganzheitlich

Im Gespräch mit Pastor Friedrich Schneider

5 | Spuren entdecken – Spuren hinterlassen

Annika Hering erzählt von Spuren aus ihrer Großfamilie

6 | Weiter sehen

Schlusswort und Dank

Verwendete Literatur

Anmerkungen

Für meine Familie

ÜBER DEN AUTOR

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Jutta Teubert (Jahrgang 1951) arbeitet als Coach und war viele Jahre als Lehrerin tätig. Als Leitungskreismitglied im Fachbereich Familie und Generationen des BEFG und in ihrer Familie mit Ehemann, zwei Kindern und drei Enkeltöchtern lebt sie das Potenzial im Miteinander von Jung und Alt. Sie hält Seminare und Vorträge.

EINLEITUNG

Wir! Das ist für mich das schönste Pronomen. Es passt so gut zum Miteinander der Generationen. Wir gehören zusammen. Als ich und als du, als ihr und sie, als Einzelne und als Gruppen. Gemeinsam möchten wir Leben gestalten, einander fordern und fördern – gleichwertig und mit Achtung voreinander. Darin liegt die Chance. Das ist meine Perspektive zum Miteinander der Generationen.

Dabei ist das Wir facettenreich. Schon sprachlich ist es eine Besonderheit. Es ist zwar der Plural von »ich«, aber zugleich viel mehr als nur die Mehrzahl davon. Das Wir der Generationen bildet eine bunte Palette: von Krabbelkindern bis Hochbetagten. In ihren unterschiedlichen Entwicklungsprozessen und Lebensbezügen. Mit ihren Prägungen, Wünschen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten. In ihrem ganzen Geflecht von Beziehungen, zwischen eigenständig und gemeinsam.

Ich und du mit ihm und ihr und ihnen und euch, so wird daraus ein Wir.

Am treffendsten beschreibt wohl das Wort »Zusammenhalt«, was eine gelingende Generationengemeinschaft ausmacht. Denn Zusammenhalt kann niemand allein erleben. Zusammenhalt braucht Gemeinschaft, nicht nur äußere, sondern auch aus dem Herzen heraus.

Mir gefällt dieses Wort, das nicht unbedingt zu unserem alltäglichen Wortschatz gehört. Aber das, was es meint, ist bedeutsam: innere Verbundenheit, aus der dann auch Taten folgen. Zusammenhalt ist insofern mehr als ein Wort. Es ist eine Haltung, eine Lebenseinstellung, die das Bewusstsein beschreibt: Die eigene Persönlichkeit und die Gemeinschaft, zu der wir gehören, sind eng miteinander verwoben. Wenn die Generationen zusammenhalten, dann geht es ihnen gut.

Oft werden Konflikte und Widerstände zwischen den Generationen in den Vordergrund gestellt und die demografischen Veränderungen mit Problemen in Zusammenhang gebracht. Dass mit der zunehmenden Vielfalt der Generationen auch Chancen verbunden sein können, wird weniger gesehen.

Die Chancen müssen allerdings auch genutzt werden. Wer nur einteilt in »die einen« und »die anderen«, »die Jungen« und »die Alten«, beraubt sich dieser Chance. Es kommt also auf den Blickwinkel an. Und auf Neugier und Offenheit, darauf, mehr wissen zu wollen von den anderen Generationen. So lässt sich oft Überraschendes entdecken.

Dafür gilt es aber auch genauer hinzuschauen. Auf Unterschiede, Stolpersteine oder Ängste. Gerade sie brauchen einen tieferen Blick, damit Hoffnung wachsen kann. Dies setzt dann auch Kräfte frei für kreative Ideen und gemeinsame Aktionen. Und das Miteinander der Generationen kann richtig Spaß machen! Darauf möchte ich aufmerksam machen und dafür möchte ich werben.

          

Im ersten Teil geht es darum, generationensensibel zu werden.

»Am Du werden wir zum Ich.« Diese sprichwörtlich gewordene Weisheit des Religionsphilosophen Martin Buber macht deutlich: Die Begegnung mit anderen macht uns zu denen, die wir sind. Als soziale Wesen können wir nicht gut Einsamkeit ertragen. Sie belastet uns und macht uns sogar körperlich krank. Wenn schon die Beziehung zu nur einem anderen Menschen für unser Sein von so tiefer Bedeutung ist, wie viel mehr formt und prägt uns dann die Gemeinschaft mit mehreren verschiedenen Generationen!

Eine gelingende Generationengemeinschaft stärkt also den einzelnen Menschen und ist gut für alle. Dafür ist es wichtig, viel voneinander zu wissen. Was unterscheidet die Generationen? Und gibt es überhaupt klare Grenzen? Was sind die gegenseitigen Erwartungen? Die Befürchtungen, Vorurteile. Wie sehen Hoffnungsschimmer aus?

Generationensensibel zu werden, hilft, einander nicht loszulassen.

Der zweite Teil zeigt einige praktische Möglichkeiten auf, generationenübergreifend zu handeln.

»Das Glück ist das Einzige, das sich verdoppelt, wenn man es teilt.« Was Albert Schweitzer im umfassenden Sinne gesagt hat, kann auch ganz konkret im Miteinander der Generationen erlebt und praktiziert werden.

Wie können die Generationen erfahren, dass es gemeinsam besser geht? Wie können sie Schritte aufeinander zugehen? Stolpersteine beseitigen, Türen öffnen und gemeinsame Ziele anstreben? Welche kreativen, erlebnis- und handlungsorientierten Möglichkeiten helfen, Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu fördern?

Generationenübergreifend zu handeln, hilft, gemeinsame Erlebnishorizonte zu entdecken.

Im dritten Teil geht es darum, wie wichtig es ist, generationenverbindend zu leben.

Was macht Verbundenheit letztlich aus?, werden wir uns fragen. »Ein Boot kommt nicht voran, wenn jeder auf seine Art rudert.« Dieses afrikanische Sprichwort ist quasi eine antonyme Formulierung für »Besser gemeinsam«.

Was aber führt dazu, dass alle an einem Strang ziehen? Wie wird Verbundenheit erlebt? Welche Bedeutung kommt dabei Gleichwertigkeit zu? Und die Bereitschaft, einander etwas zuzutrauen? Und was kann eine gute Balance von Nähe und Distanz dabei bewirken?

Generationenverbindend zu leben, macht das Leben reich und bunt.

          

Das Ziel verbindet, nicht der Stil! Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch alle Inhalte. Teil einer verlässlichen Generationengemeinschaft zu sein und dabei alle Entfaltungsmöglichkeiten zu haben, gibt Rückhalt und schenkt Weite.

Es kommt darauf an, über den Zaun der eigenen Generation hinauszublicken und nicht nur Gemeinschaft mit Gleichaltrigen zu suchen, sondern auch Begegnungen mit anderen Generationen zu haben. Miteinander etwas unternehmen, gemeinsam spielen, lachen, weinen, etwas gestalten und dabei voneinander lernen – darin liegen große Chancen. Und es kann sich dabei das Bedürfnis entwickeln: Nicht ohne die anderen Generationen!

Persönlich erlebe ich das in mehreren Lebensbezügen. Aufgewachsen in einer Großfamilie, war ich als Kind umgeben von Eltern, Großeltern, Tante und Onkel und erlebte durch sie Geborgenheit, Verlässlichkeit und dass die Generationengemeinschaft etwas Selbstverständliches ist. Als Heranwachsende nahm ich dann auch wahr, wie wichtig eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz ist. Inzwischen selbst Mutter und Großmutter, ist es mir ein Anliegen, die anderen Generationen zu begleiten und zu fördern, und ich möchte auch von ihnen lernen und manchmal selbst herausgefordert werden. Dass wir einander unterstützen, akzeptieren und uns gegenseitig Raum zur eigenen Entfaltung geben, ist mir wichtig.

Auch im beruflichen Kontext als Lehrerin waren es immer mehrere Generationen, mit denen ich zu tun hatte. Bezugspersonen waren natürlich hauptsächlich die Kinder, aber daneben auch immer die Eltern und manchmal sogar Großeltern. Es gibt manche Coachingprozesse, die – oft eher verdeckt – Generationenkonflikte beinhalten. Immer wieder führen sie mir ebenfalls die Bedeutung eines gelingenden Miteinanders der Generationen vor Augen.

Und schließlich war und ist es mein Bezug zur Kirchengemeinde, der mich ein buntes Generationengefüge erleben lässt. Zum einen durch meine Teilhabe am Leben einer Gemeinde mit allen Generationen, von Krabbelkindern bis über 90-Jährigen, zum anderen durch meine ehrenamtliche, überregionale Tätigkeit in einem Arbeitsbereich meiner Kirche, der sich spezifisch der Gemeindearbeit für Familien und Generationen widmet.

          

In allen meinen Lebensbezügen habe ich interessante Menschen getroffen, die mir dankenswerterweise Einblicke gewährt haben, wie sie die Vielfalt der Generationen erleben und sehen. Ich habe dabei eine 12-Jährige und eine 95-Jährige befragt und noch viele andere dazwischen: Mitglieder von Mehrgenerationenfamilien sowie Menschen, die sich beruflich mit dem Miteinander der Generationen beschäftigen, im kirchlichen und auch im kommunalen Bereich.

Ihre Beiträge ergänzen und bereichern dieses Buch, und es wird immer wieder deutlich: Gemeinsam geht’s besser! Eine gelingende Generationengemeinschaft eröffnet Chancen für alle. Das unterstreichen persönliche Erlebnisse, Geschichten und praxisbezogene Anregungen. Anschaulich und manchmal auch augenzwinkernd. So werden die sachorientierten Ausführungen lebensnah!

Dabei soll es keinen Generationen-Einheitsbrei geben. Authentisch sein und bleiben, aufeinander zugehen und miteinander Leben gestalten – auf diese Weise können wir den Weg für ein gutes Miteinander der Generationen ebnen.

Einander annehmen, wertschätzen, ermuntern und Gutes tun – das sind Werte, die uns Jesus Christus vorgelebt und weitergegeben hat. Sie wirken weiter. Auch durch diejenigen, die sich dafür einsetzen, Trennungen zu überwinden und zusammenzufügen, was zusammengehört.

Ich lade Sie ein, generationensensibel auf generationenübergreifende Möglichkeiten zu schauen und sich auf die Chance einzulassen, generationenverbindend zu leben.

Viel Spaß beim Lesen!

TEIL 1

ICH UND DU

Generationensensibel
werden mit Kopf und Herz

»AM DU
WERDEN
WIR ZUM
ICH«

MARTIN BUBER

1AN EINEM TISCH
Generationensensibel werden, bedeutet:
Wahrnehmen, wer da ist. Den Blick weiten und die Vielfalt der Generationen erkennen. Auf das Ganze und auf Details schauen. Sortieren und zusammenfügen. Und dabei neugierig und einander zugewandt bleiben!

Generationenmix oder Generationengruppen?

Mit vier Generationen saßen wir bei Kaffee und Kuchen zusammen, als der Onkel aus Amerika angereist war. Das ist kein Scherz. Ich habe tatsächlich einen Onkel in Amerika, genauer gesagt, in Kanada. Und als er mal wieder auf Deutschlandbesuch war, gab es ein Familientreffen.

Da saßen wir nun alle zusammen an einem Tisch: der hochbetagte Onkel, seine zwanzig Jahre jüngere Frau, deren Sohn – mein Cousin, der jünger ist als meine Tochter –, meine zehn Jahre jüngere Schwester mit ihrer Familie, mein Mann, unsere Kinder und Enkeltöchter. Sie lernten ihren Urgroßonkel kennen, dessen Enkelkinder wiederum im gleichen Alter sind wie seine Urgroßnichten. Was für ein Mix der Generationen! Verwirrend? Oder eher normal?

Wenn ich mich umhöre, nehme ich wahr: Viele Menschen schätzen klare Grenzen zwischen den Generationen. Gern wird eingeteilt in »die Alten« und »die Jungen« und »na ja, halt alle irgendwie dazwischen!«. Die Kinder-, die Eltern- und die Großelterngeneration. Das ist eindeutig. Scheinbar!

Wer dann aber nicht sofort die Schublade schließt, merkt schnell: Die Realität sieht anders aus. Nicht nur in meiner Familie! Wer sind überhaupt »die Alten« und »die Jungen« und »die dazwischen«?

Babys, Krabbel-, Kindergarten-, Schulkinder, Teenies, Jugendliche – all das sind wohl »die Jungen«. Aber schon eine Erstklässlerin möchte nicht mit einem Kindergartenkind gleichgesetzt werden. »Ich bin doch kein Kleinkind mehr!«, kommt sofort ihr Protest.

Und genauso wenig fühlt sich der fitte Mittsechziger angesprochen, wenn es um die Senioren geht. Er schmiedet lieber Pläne: »Was kann ich in der nachberuflichen Lebensphase noch alles entdecken und erleben? Warum nicht noch mal studieren? Oder die Welt bereisen?« Bei der Vergünstigung für den Museumsbesuch macht er dann gern mal eine Ausnahme. Zur Seniorengruppe zum Kaffeetrinken zu gehen, erscheint ihm aber weniger reizvoll.

Und wie geht es all denen dazwischen? Verallgemeinernd als »das Mittelalter« möchten die meisten nicht so gern bezeichnet werden. Eine Enddreißigjährige meint nicht unbedingt, dass sie mit einer Fünfzigjährigen in einem Atemzug genannt werden müsste, weil sie beide anscheinend zum »Mittelalter« gehören.

Entdecken und sortieren

So einfach ist das Sortieren also nicht. Zum besseren Verständnis braucht es wohl verschiedene Blickwinkel. Und dafür ist es gut, generationensensibel zu werden. Die Schubladen zu öffnen, zu schauen, was sie enthalten und was brauchbar und hilfreich ist.

Da gibt es viel zu entdecken! Denn es geht ja immer auch um die Wünsche und Erwartungen einzelner Menschen innerhalb der vielschichtigen Gemengelage der Generationen. Jeder Mensch hat Hoffnungen und Ängste. Manchmal sind die Sehnsüchte und Befürchtungen sehr ähnlich und manchmal unterscheiden sie sich ziemlich voneinander. Dabei spielen Prägungen, Herkünfte und Sozialisationen eine wesentliche Rolle.

Was macht uns aus? Als Jüngere, als Ältere, als Menschen in einer bestimmten Lebenssituation und Umgebung? Um diese Frage zu beantworten, braucht es schon einen zweiten Blick aufeinander.

Den brauchten wir auch in unserer bunten Familienrunde mit dem Onkel aus Amerika. Gemeinsamkeiten und Unterschiede traten zutage – längs und quer durch die Generationen. Damit überraschten wir einander und stimmten uns gegenseitig froh oder auch nachdenklich.

Der Onkel aus Amerika

Mein Onkel war Mitte zwanzig, als er Ende der 1950er-Jahre nach Kanada ausgewandert ist. Ich war damals ein kleines Mädchen und erinnere mich ungenau an Gespräche, die er mit seinem großen Bruder, meinem Vater, führte. Chancen und Risiken wurden hin und her bewegt. Gemeinsam mit sechs Freunden erhoffte sich mein Onkel in Kanada bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Er ließ sich dann in der Industriestadt Hamilton nieder und fand dort Arbeit. Bald kamen die ersten Fotos, die ihn vor einem schicken Auto zeigten.

Mit seinen Freunden blieb er eng verbunden. Sie hielten zusammen und gründeten dort mit anderen deutschen Auswanderern eine christliche Gemeinde. Mitgenommen hatten sie ihre Sichtweisen des Lebens, ihre Gewohnheiten und Gepflogenheiten und ihre Art von Frömmigkeit. Das gab ihnen in der neuen Welt Halt und Stütze.

Und wenn mein Onkel in Abständen von ungefähr sieben Jahren »nach Hause« kam, wie er es immer noch nennt, wunderte er sich jedes Mal mehr über die Veränderungen. Nicht nur die Straßenführungen in seiner Heimatstadt Dortmund waren andere geworden. Auch an uns, seinen Verwandten, nahm er Veränderungen wahr: Wir lebten, redeten und kleideten uns anders, als wir in seiner Erinnerung präsent waren.

Beispielsweise beklagte er unseren aus seiner Sicht so laxen Umgang mit der deutschen Sprache. Warum nur benutzten wir so viele Anglizismen? Sprachen über Jobs und Meetings, freuten uns über Backstage-Karten und ärgerten uns über gecancelte Flüge! Auch unsere für ihn zu weite Sicht der »neuen« Familienformen teilte er nicht. Und dass es in den Kirchen und Gemeinden kaum noch Männerchöre gibt, fand er einfach nur traurig. Das alles und vieles mehr schwang am Kaffeetisch in der Viergenerationenrunde mit.

Und wir, seine Verwandten, zu unterschiedlichen Zeiten in Deutschland aufgewachsen, sind ja auch nicht alle gleich. Wir begegneten ihm eben so, wie wir waren. Mit dem, was uns ausmacht. Einige Ältere von uns können und wollen nicht verleugnen, dass der Geist der »68er« sie geprägt hat. Auch die beruflichen Wege, geistes- und naturwissenschaftliche Einflüsse und anderes mehr haben zu unserem Gewordensein beigetragen. Und die ganz Jungen präsentierten sich als die, die dabei sind, sich auszuprobieren, ihre Fähigkeiten und Vorlieben einzuschätzen und wechselnde Berufswünsche zu favorisieren.

Sosehr er sich über uns wunderte, so hat uns auch seine Person zum Nachdenken angeregt: Den größten Teil seines Lebens hat mein Onkel in dem riesigen Land mit den ausgedehnten Wäldern, Bergen und Seen, den großen, verkehrsreichen Metropolen verbracht. Er hat dort viele verschiedene Menschen kennengelernt, die ihren Ursprung in unterschiedlichen Teilen der Welt haben. Inzwischen wohnt er auf dem Land, nahe an einem See, und schaut auf sein Leben zurück. Er lebt gern in Kanada, und doch hängt er an seiner »alten Heimat« und trauert ein wenig den vergangenen Zeiten nach.

Manchen Wertvorstellungen, die er vor Jahrzehnten von Deutschland mit nach Kanada genommen hat, ist er treu geblieben und hat sie an seine Nachkommen weitergegeben. Und so nahmen wir ein wenig erstaunt Unterschiede wahr, die durch die verschiedenen kulturellen Einflüsse das Leben geprägt haben. Der Onkel aus Kanada wunderte sich über unsere tolerante Haltung Andersdenkenden gegenüber, und wir fragten uns zunächst etwas verblüfft, warum man sich in einem Land mit so viel Weite selbst enge innere Grenzen setzt.

Aber dass Halt und Stütze wichtig sind, darin waren wir uns einig. Und allmählich wurde auch klar, dass gerade da, wo es viel Unterschiedlichkeit und Vielfalt gibt, Gemeinsamkeiten das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Insgesamt hat der Wunsch überwogen, einander interessiert wahrzunehmen und aneinander Anteil zu nehmen.

Dabei half es auch, manches mit Humor zu betrachten, offen zu erzählen und aufmerksam zuzuhören. Wir haben viel gelacht an diesem Nachmittag – es lag Leichtigkeit ohne Oberflächlichkeit in der Luft. Und wir waren uns einig: Mit Humor fällt vieles leichter.

Verbunden hat uns auch die Erinnerung an Menschen, mit denen wir Besonderes erlebt haben. Die uns geprägt haben und die zu unserem Wurzelwerk gehören. Verbunden haben uns außerdem natürlich ähnliche Fähigkeiten und Interessen. Die Jüngeren sind diesseits und jenseits des Atlantiks mit den neuen Technologien aufgewachsen und kennen kein Leben ohne sie.

Schmunzelnd stellte ich fest, dass die Ersten, die über die digitalen Kommunikationswege die Kontakte gefestigt haben, meine älteste Enkeltochter und mein Cousin waren. Eigentlich trennten die beiden zwei Generationen und doch waren sie sich auf diesem Gebiet schnell sehr nah.

Und so stellt sich die Frage: Was ist denn überhaupt unter »Generation« zu verstehen?

Mögliche Definitionen für »Generation«

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem weiten Themenfeld der Generationen wird gerne in Kategorien eingeteilt, es wird gegliedert und aufgeteilt, hinterfragt und immer wieder Neues entdeckt. Das ist spannend und führt zu etlichen nicht immer deckungsgleichen Erklärungen.

Bei uns im Regal steht noch der dicke Brockhaus. Ihm ist zu entnehmen, dass vor Jahrzehnten vergleichsweise wenig zum Generationenbegriff festgehalten und weitergegeben wurde. Knapp zusammengefasst, geht es dort nur um die drei Stichwörter Geschlechterfolge, Altersgenossen und das Zeitmaß der Geschlechterfolge.

Dabei meint Geschlechterfolge lediglich die Abfolge der Vor- oder Nachfahren. Bei den »Altersgenossen«, wie es da heißt, geht es um die, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums geboren wurden. Und das »Zeitmaß« gibt die Spanne von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren für die Geschlechterfolge an. So steht es im Brockhaus aus den 1970er-Jahren.

Heute dagegen gibt es eine Fülle von Ansätzen, die erforschen, was Generation meint, wie sich die Generationen unterscheiden und warum das Miteinander der Generationen so komplex ist.

Im Laufe der Zeit hat sich immer wieder verändert, worauf der Schwerpunkt in den Diskursen gelegt wurde und wird. Mal stand die genealogische Perspektive, bei der Generationen als Abstammungsgruppen verstanden werden, im Vordergrund. Mal ging es stärker um die Perspektive, dass Generationen historisch einmalige Phänomene sind, weil Menschen durch eine spezifische historische Situation oder auch durch die technische Weiterentwicklung geprägt werden. Ein Beispiel für einen derartigen zeithistorischen Bezug ist unter anderen die Bezeichnung »Nachkriegsgeneration«.

Andere Ansätze legen eine ähnliche soziale Orientierung und Lebensauffassung zugrunde, was zum Beispiel mit Begriffspaaren wie »Generation @« oder »Generation Y« ausgedrückt wird. Auch die Identität einer spezifischen Gruppe zu beschreiben, gewann an Bedeutung, und ebenso die Beschreibung der Differenz zwischen verschiedenen Gruppen.

Interessant ist die Bedeutung des Wortes Generation in seinem ursprünglichen Sinn: Es geht auf das lateinische Verb generare zurück, das »erzeugen, erschaffen, hervorbringen« bedeutet. Insofern ist es mit »Genesis«, Schöpfung, verwandt. Es wohnt ihm also etwas Kreatives, Dynamisches inne. Bewegung – ein Merkmal für die Generationen! Das finde ich gut! So soll es sein.

Und dieser ursprüngliche Sinn ist es letztlich, der alle Ansätze verbindet.

Zusammenfügen und verstehen

Mehr zu wissen, ist hilfreich, um etwas verstehen zu können. Insofern macht es Sinn, erst einmal einzuteilen, zu sortieren, nach Details zu suchen. Wie bei einem Puzzle: vom Detail zum Überblick. Sortieren, ordnen und zusammenfügen, was zusammengehört. Das mag am Anfang verwirrend sein, aber allmählich stellen sich Aha-Erlebnisse ein. Eines fügt sich zum anderen, und am Gesamtbild können sich alle, die daran mitgewirkt haben, erfreuen.

Im Hinblick auf die Generationen ist die Auseinandersetzung mit verschiedenen Kategorien schon sehr sinnvoll, wie das Betrachten der Puzzleteile, aber sie ist kein Selbstzweck. Sie soll lediglich helfen, ein stimmiges Bild entstehen zu lassen. Ein buntes, vielschichtiges Bild, das bei mehrmaligem Betrachten immer wieder Neues entdecken lässt.

Auch der Generationenmix meiner eigenen Familie mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen. Doch die Älteren wussten, wie die Puzzleteile zusammengehörten. Und den Jüngeren erschloss sich dann das Bild mit etwas Hilfe schnell. Das Beispiel meiner Familie lässt erkennen, wie vielfältig das Generationengefüge ist: Unterschiedliche Sozialisationen, Prägungen und Einstellungen zeigen Wirkung und haben Einfluss auf Begegnungen.

Insofern spiegelt unser familiärer Generationenmix durchaus auch die gesellschaftliche Realität. Vier bis fünf Generationen leben heute gleichzeitig. Das ist der sogenannte demografische Wandel, der nicht nur eine Vielzahl der Generationen mit sich bringt, sondern auch eine beeindruckende Vielfalt.

Basis: Wertschätzung und Gemeinschaft

Aus welchem Blickwinkel betrachten wir diese vielschichtige Gemengelage der Generationen? Was ist die Basis unseres persönlichen Standpunktes? Ein Spruch, den ich auf einem Plakat zum Reformationsjubiläum 2017 entdeckt habe, veranschaulicht meine persönliche Sichtweise und mein Anliegen: »Wenn einer ständig schwarzmalt, sollten wir ihm dann nicht Buntstifte schenken?« Ich finde, das ist ein gelungenes Statement gegen Pessimismus.

Wer stets negative Folgen betont, selbst wenn sie wahrscheinlich gar nicht eintreten werden, schürt Ängste und Ressentiments. Wer dagegen offen, neugierig und anderen zugewandt ist, malt mit am bunten Bild eines gelingenden Miteinanders der Generationen. Wertvoll wird dieses Bild durch die Haltung der Mitwirkenden.

Das Miteinander der Generationen gelingt, wenn wir einander Wert und Bedeutung geben. Wenn wir einander ernst nehmen, akzeptieren und uns gegenseitig etwas zutrauen, egal, ob das Gegenüber ein Kind oder ein Hochbetagter ist. Wertschätzung ist der Schlüssel für ein gelingendes Miteinander der Generationen. Das hat mit Herz und mit Kopf zu tun. Den größeren Anteil hat dabei wohl das Herz. Denn verordnet werden kann die Gemeinschaft der Generationen nicht.

Aber sie ereignet sich. Wie bei unserem Familientreffen und überall dort, wo Begegnung ermöglicht wird.

          

Wie wichtig Wertschätzung und Gemeinschaft im Generationengefüge sind, führt schon die vertraute Welt der Märchen, Sagen und Fabeln vor Augen. Eine Erzählung, die die Gebrüder Grimm in ihre Sammlung »Kinder- und Hausmärchen« aufgenommen haben, schildert das eindrücklich. Drei Generationen kommen in der Geschichte vom alten Großvater und seinem Enkel vor. Es ist also eine echte Generationengeschichte.

Der Großvater wird darin als sehr alter Mann beschrieben, der gebrechlich geworden ist, nicht mehr gut hören, sehen und laufen kann. Und weil er so zittrig geworden ist, kleckert und sabbert er. Das möchten sein Sohn und seine Schwiegertochter nicht mit ansehen, und so schließen sie ihn vom gemeinsamen Mahl aus. Sie verbannen ihn in eine Ecke und er bekommt nur das Nötigste. Da der Großvater auch seinen Teller zerbrochen hat, muss er nun aus einem Holznapf essen. Traurig sitzt er da.

Bald darauf beschäftigt sich der kleine Enkel damit, aus Holzresten einen kleinen Trog herzustellen. Auf die Frage seiner Eltern, was er da mache, antwortete er, er wolle einen Trog machen, aus dem seine Eltern dann essen sollen, wenn er groß ist und sie alt sind. Das bringt die Eltern zum Weinen und sie holen den Großvater wieder an den Esstisch.

Missachtung und Wertschätzung, Ausgrenzung und Gemeinschaft, Unüberlegtheit und Einsicht schildert die Erzählung. Der Blick wird hier darauf gelenkt, dass dem Alter Wertschätzung nicht versagt werden soll.

          

In anderen Geschichten sind es die Jungen, denen besondere Beachtung und Bedeutung zugemessen wird, wie in der biblischen Geschichte von der Segnung der Kinder. An dieser Geschichte wird deutlich: Jesus Christus hat sich bewusst denen zugewandt, die nach den Wertmaßstäben seiner Zeit nicht viel galten. Kindern, wie auch den Frauen, die sie zu Jesus brachten, wurde nur geringe Bedeutung beigemessen. Die Kinder leisteten nichts, man musste sich um sie kümmern, sie versorgen, und oft wurden sie als störend empfunden.

Dem ist Jesus – oft sogar sehr energisch – entgegengetreten. Und die, die ihn hindern wollten, hat er zurechtgewiesen. Beispielsweise waren seine Jünger der Ansicht, dass die Frauen und Kinder Jesus in Ruhe lassen sollten.

Aber Jesus hat sich Zeit genommen, sich für die vermeintlich Unbedeutenden eingesetzt, sie ernst genommen, ihnen Nähe geschenkt und sie gesegnet. Und so hat er klar gezeigt, worauf es ankommt: Zuwendung zu schenken, indem man andere annimmt, sich für andere einzusetzen und ihnen Gutes zu wünschen und zu sagen! Denn das meint das Wort »segnen«.

Dass die Kinder hier besonders hervorgehoben werden, ist sicher kein Zufall. Kinder sind unbefangen, neugierig und zunächst noch frei von Vorurteilen. Und dem soll mehr Bedeutung zukommen. Aber die Geschichte sollte uns dazu anregen, auch über die Kinder hinaus alle diejenigen in den Blick zu nehmen, die von anderen abgeschrieben werden. Und das sind heutzutage leider oft die Alten und die, die mit Handicaps leben müssen.

Einander Gutes wünschen, einander segnen, einander etwas zutrauen – all das kann unabhängig vom Alter und der Lebenssituation geschehen. So, wie wir Menschen von Gott für wertvoll erachtet werden, können auch wir unsere Mitmenschen wertschätzen, sie unterstützen und fördern, statt sie zu ignorieren oder gar zu demontieren. Einander Gutes zu erweisen, bedeutet jedoch manchmal auch, einander auf etwas aufmerksam zu machen und uns gegenseitig herauszufordern.

Der Blick soll weit werden. So können die Generationen Neues miteinander erleben und Leben teilen. Und miteinander an einem Tisch sitzen, wie am Schluss des Märchens und wie bei unseren Familientreffen, wörtlich und im übertragenen Sinne.

2WIR SIND VIELE
Generationensensibel werden, bedeutet:
In der Vielfalt der Generationen Reichtum entdecken. Den Wert der anderen Generationen für das eigene Leben schätzen lernen. Auf Geben und Nehmen achten.

Die Bohnenstangenfamilie

»Wisst ihr, was eine Bohnenstangenfamilie ist?«, frage ich gern in Seminaren, die ich zur Förderung der Generationengemeinschaft in Kirchengemeinden durchführe. Und dann darf erst mal spekuliert werden.

Nein, es geht dabei nicht um eine weitere neue Familienform. Es handelt sich auch nicht um Familien, in denen alle sehr groß und sehr schlank sind, wie Bohnenstangen eben. Und auch Familien, in denen nur vegetarisch gegessen wird, sind natürlich nicht gemeint.

Der Begriff »Bohnenstangenfamilie« beschreibt vielmehr den demografischen Wandel und steht für die Form eines Stammbaums: groß, dünn, mit wenigen Menschen in jeder Generation, nach oben wachsend!

So wird der demografische Wandel anschaulich: Vier Generationen leben gleichzeitig und teilen sich eine längere gemeinsame Lebensspanne. Und manchmal kommt sogar schon die fünfte Generation dazu. Eine solche Generationenvielzahl gab es in der Menschheitsgeschichte noch nie. Einige Demografen nennen dieses Phänomen auch Vertikalisierung.

Früher sahen die Stammbäume wie Pyramiden aus: Die Kinder hatten normalerweise viele Cousins und Cousinen und etliche Onkel und Tanten, weil Mama und Papa ebenfalls mehrere Geschwister hatten. Allerdings waren im Allgemeinen weniger Großeltern präsent, denn durch die insgesamt kürzere Lebensspanne oder auch kriegsbedingt waren der eine Opa oder die andere Oma schon verstorben. Selten lernten Kinder ihre Urgroßeltern kennen, die meisten kannten sie allenfalls aus Erzählungen.

Das hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert und ist vor allem in der westlichen Welt spürbar. Die Zahl der Kinder pro Generation hat sich stetig verringert und die Lebensdauer der einzelnen Menschen hat sich durch den medizinischen Fortschritt erhöht. Diese Entwicklung hat zur Form des Stammbaumes geführt, der mit einer Bohnenstange verglichen wird: Wenige Kinder haben wenige Tanten und Onkel, aber dafür sind in ihrem Leben oft beide Großeltern präsent, nicht selten auch Urgroßeltern und bisweilen sogar noch Ururgroßeltern.

Die stets aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamtes belegen den demografischen Wandel mit differenzierten Statistiken.1

Ein überraschender Blick auf fünf Generationen

Auf fünf Generationen zu blicken, ist schon etwas Besonderes! Mich hat das in einer unerwarteten Situation sehr berührt und nachdenklich gestimmt. Es war bei einer Jubiläumsfeier in einem gottesdienstlichen Rahmen. Da entdeckte ich drei Reihen vor mir eine hochbetagte Dame, in der ich eine Freundin meiner Großmutter erkannte. Ich, selbst schon Großmutter, saß mit der Freundin meiner Großmutter zur selben Zeit im selben Raum. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft lagen auf einmal für mich ganz nah beieinander.

Kennengelernt hatte ich sie in der Küche meiner Oma, als ich ein kleines Mädchen war. Schon damals war sie für mich eine alte Dame. Meine Oma war ein paar Jahre älter als sie. Gemeinsam engagierten sich die beiden für die Gemeindearbeit mit Frauen in unserer Kirche, meine Oma vor Ort und ihre Freundin überregional.