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Eine steile Karriere

Rom, nach Sonnenuntergang: Fackeln erhellen die Straßen und Plätze. Überall, in den Hauseingängen, auf den Dächern, stehen die Leute, Männer und Frauen, und jubeln den weißgekleideten Männern zu, wie sie sich auf das Forum zu bewegen, es überqueren und langsam die Stufen zum Kapitol hinaufsteigen, um den Göttern zu danken. Voran der Konsul Marcus Tullius Cicero. Er hat Rom vor einem blutigen Putsch gerettet. Vater des Vaterlandes wird er jetzt genannt.

Es folgen Niederlagen, es folgen Triumphe. Schließlich wird er nach zwanzig Jahren von Häschern eines politischen Feindes umgebracht. Sein Kopf und seine Hände, die Werkzeuge seiner Erfolge, werden zum Spott auf der Rednertribüne des Forums ausgestellt.

Junger Mann aus gutem Hause

Zurück auf Anfang: Ciceros Jugend verlief undramatisch. Der junge Mann glänzte wo immer zu glänzen war. Keine Eskapaden, keine erotischen, keine finanziellen, keine politischen, nur scheinbar mühelose, in Wirklichkeit durch Fleiß – den keine Mühe bleichet – errungene Erfolge. Alles schien nach althergebrachter Ordnung abzulaufen. Der hochbegabte junge Mann war 106 v. Chr. in eine wohlhabende ritterständische Familie des Landstädtchens Arpinum bei Rom hineingeboren worden – Ritterstand hieß diese zweitoberste Gesellschaftsschicht traditioneller Weise deshalb, weil ihre Angehörigen früher im Bürgerheer zu Pferde gedient hatten.

Cicero genoss die bestmögliche Ausbildung. Schon in der Schule hatte er Freundschaft mit Titus Pomponius geschlossen, der das ganze Leben hindurch sein Ur- und Erzfreund bleiben sollte; wegen seiner Neigung zu Athen und seiner Einbürgerung dort bekam er den zärtlich-wohlwollenden Zusatznamen Atticus, unter dem er bekannt wurde. Er war ein wahrer Freund, er tadelte an Cicero, was tadelnswert war, und Cicero ließ sich alles von ihm sagen. Viele von Ciceros Briefen an ihn sind erhalten und füllen heute noch einen umfangreichen Band; Atticus’ eigene fehlen leider.

Nach der Schule durfte Cicero bei berühmten Rechtsgelehrten aus der uralten Familie der Mucii Scaevolae Jurisprudenz lernen, zunächst bei Quintus mit dem Zusatznamen Augur, dann bei dessen Verwandtem, ebenfalls Quintus, mit dem Zusatznamen Pontifex – auf diese Weise sind die römischen Namen zusammengesetzt: Der wichtigste Teil ist der Name des Geschlechts, Mucius oder Tullius, gegebenenfalls mit einer Spezifizierung, dem Beinamen – cognomen – Scaevola oder Cicero, dann der Vorname, Quintus oder Marcus, schließlich nicht selten ein individueller Zusatzname – Augur beziehungsweise Pontifex. Die Beinamen, nicht jede Familie hatte einen, hatten oft eine lange Tradition hinter sich. Die Scaevolae leiteten sich von dem Wort für die linke Hand her, die der Gründer des Geschlechts einmal ins Feuer gehalten haben soll, um seine Standhaftigkeit zu beweisen, die Bedeutung von Caesar ist mir nicht sicher, umso deutlicher die von Cicero. Das bedeutet eine Frucht, bei deren Nennung gerne gekichert wird, denn es ist die Kichererbse – allerdings ist es wohl eher umgekehrt: »Kichererbse« leitet sich vom lateinischen Wort cicer ab, das die Familie aus unbekannten Gründen verpasst bekommen hatte, ohne dass ans deutsche Kichern gedacht worden wäre.

Jedenfalls wussten beide Juristen, bei wem sich der Unterricht lohnen werde, bei Cicero gewiss. Man studierte Rechtswissenschaft nicht bei einer Institution, sondern nur bei tüchtigen und gelehrten Männern und auf private Einladung. Die jungen Herren durften zuhören, wenn ihnen ein solcher Jurist erlaubte dabei zu sein, beim Erteilen von Rechtsrat etwa oder bei Gerichtsverhandlungen. »Mein Vater hatte mich dem Augur Quintus Mucius Scaevola zur Unterweisung anvertraut, mit dem Wunsch, dass ich keinen Schritt von der Seite des greisen Lehrers wich. Nach seinem Tod schloss ich mich dem Pontifex Scaevola an. Er ist der Einzige, den ich in unserem Staat als den hervorragendsten Vertreter des Geistes und der Gerechtigkeit zu bezeichnen wage.« Bis ins hohe Alter wirkte diese Ausbildung bei Cicero nach.

Cicero blieb sein Leben lang kenntnisreicher Jurist, mit reichhaltiger Privatbibliothek zum Nachschlagen, wir werden Beispiele kennenlernen. Um jedoch von Beruf Jurist, also Anwalt, zu werden, musste noch etwas hinzukommen: die Praxis des öffentlichen Auftretens. Das lernte man bei Lehrern der Redekunst, der Rhetorik – damals war es eine Wissenschaft, ja eine Kunst, während wir sie heute bisweilen skeptisch als unsolide Schaumschlägerei ansehen. Sie war etwas weit Seriöseres, schon deshalb, weil Cicero nicht müde wurde, für den Rhetorenberuf die höchsten Anforderungen aufzustellen: Nicht nur, natürlich, die manchmal ans Schauspielern grenzende Technik, sondern gründliche Fachkenntnisse in Jurisprudenz, Geschichte, Philosophie. Konnte ein Einzelner das überhaupt in sich vereinen? Cicero selbst schon!

Rhetorik wurde systematisch gelehrt und gelernt, es gab Lehrbücher – Cicero selbst verfasste dann auch eines –, wieder bei einzelnen Lehrern. Das waren Griechen, man lernte auf Griechisch, erst allmählich auf Latein, Cicero zunächst bei politischen Emigranten aus Griechenland in Rom, aber dann auch in Griechenland selbst, in Griechenstädten Kleinasiens (heutige Westtürkei) und auf Rhodos. Geschichte im Sinne einer Wissenschaft gab es nicht. Tatsachen musste man wissen, man musste sie parat haben und richtig einordnen. Schließlich kam die Krone aller Wissenschaften hinzu, die Philosophie. Auch sie lernte Cicero zunächst bei in Rom lebenden Griechen kennen – einer wurde später sein Hausgenosse –, dann erst in Griechenland, gleich in Athen; trotz politischem Abstieg war Athen immer noch oder wieder die Kulturhauptstadt der damaligen Welt. Für die Philosophie nun gab es Lehranstalten, die mit Universitäten verglichen werden können, vor allem die Akademie, wo Platons Philosophie gelehrt wurde, der Cicero sein Leben lang anhing. Vielversprechende – und das Versprechen oft haltende – junge Römer lernten aber auch den Wissenschaftskosmos des Aristoteles und von dessen Nachfolgern kennen, Epikurs Lebensphilosophie fand Adepten, der strenge Stoizismus fand besonderen Anklang bei Jünglingen, die es mit der aristokratischen Senatsherrschaft in Rom ernst meinten. Auch davon wird, in sehr politischem Zusammenhang, noch die Rede sein.

Bei Cicero lief also alles in geregelten Bahnen so, wie es sein sollte. Bei den scharfsinnigsten Juristen Roms und den berühmtesten griechischen Rednern und Philosophen lernte er, wurde ein kenntnisreicher, gewiegter Jurist und genialer Redner, der die Hörer im Gericht und in den politischen Instanzen in seinen Bann schlug. Auch als er Politiker wurde, blieb ihm das Glück gewogen, das der Tüchtige hat. Er gewann alle Wahlen durch die Volksversammlung zu den höchsten Ämtern – vom Quästor über den Ädil und den Prätor bis zum höchsten Amt, dem Konsul – immer im gesetzlich frühestmöglichen Alter und mit der höchstmöglichen Anzahl der Stimmen – und gelangte so in das Leitungsgremium des Staates, den rund 300 Männer umfassenden Senat. Als ehemaliger Ritter war er nun zwar Angehöriger der gesellschaftlich höchsten Schicht, des Senatorenstandes, war aber ein Neuling, ein homo novus, was ihm gelegentlich unter die Nase gerieben wurde. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass der Senatorenstand selbst aus zwei Gruppen bestand, dem Uradel, den Patriziern, und den in die Oberschicht integrierten mächtigen Plebejerfamilien. Gesellschaftlich, in Bildungsstand, im Vermögen und der sozialen Achtung bestand kein Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen mit einem gelegentlich herausgekehrten hochmütigen Adelsbewusstsein; der Unterschied war ein alter Zopf, wurde aber in bestimmten Zusammenhängen immer beachtet. Dennoch: Ob Senatoren oder Ritter, in beiden Gruppen gab es Gebildete und Ungebildete.

Revolution und Reaktion

In scharfem Kontrast zu diesem friedlichen Aufstieg standen die politischen Ereignisse, eine blutige Aufwallung folgte, mit einigen Ruhepausen, auf die andere. Die Anfänge, ein Vierteljahrhundert vor seiner Geburt, kannte Cicero zwar nur aus Berichten und dem Gesprächsstoff der Erwachsenen, sie waren ihm aber ganz gegenwärtig: Gesellschaftliche und politische Missstände gab es zuhauf, und sie entluden sich seit dem Jahr 133 in öffentlichen Gewaltaktionen, mit einigen längeren Ruheperioden dazwischen. Das Volk wurde unruhig, ergriff jedoch nie die Initiative, sie lag immer beim Senatorenstand. Die Gesellschaft wurde durch das Klientelwesen zusammengehalten, also das gegenseitige und vererbte Treue- und Nutzverhältnis zwischen Angehörigen der Oberschicht, den Patronen, und den anderen römischen Bürgern, den Klienten.

Das aber geriet ins Wanken, die Senatsaristokratie begann vor den durch Roms Expansion immer komplexer werdenden Anforderungen von Politik und Krieg zu versagen, war teilweise sogar korrupt geworden, und zudem noch in sich gespalten. Die eine Richtung strebte einige Reformen volksfreundlichen Charakters mit Aufwertung der Volksversammlung an – ihre Anhänger nannten sich Populare, was oft nur Anspruch statt Wirklichkeit war. Die anderen fanden, es sei mit der faktischen Herrschaft des Senats doch alles einigermaßen in Ordnung, sie empfanden sich als der bessere, ja der beste Teil der Gesellschaft und ließen sich daher gerne Optimaten nennen (und das widersprach erst recht den Tatsachen).

Wenn es bei diesen bloßen Divergenzen geblieben wäre! Aber der Populare Tiberius Sempronius Gracchus, aus plebejischem Adel, wurde im Jahr 132, neben anderen, auf dem Forum Romanum erschlagen, zehn Jahre später beging sein Bruder Gaius als Opfer eines von Optimaten erklärten Staatsnotstandes öffentlich Selbstmord. Weitere Eruptionen folgten, und sie nun musste Cicero miterleben. Zunächst schaukelten sich Populare und Optimaten gegenseitig in noch einigermaßen kontrollierter Weise hoch. Aber dann änderte sich das.

Gaius Marius – aus Arpinum und ritterständischer Herkunft wie Cicero –, sah die Chance seines Lebens darin, dass der Senat zunehmend vor außenpolitischen und militärischen Aufgaben versagte, auch aus Gründen der Korruption. Da konnte er, ein Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, einspringen. Gegen die – ungeschriebene – Verfassung und gegen den Willen der hohen Herrschaften wurde er als vom Volk verehrter Populare jahraus, jahrein zum Konsul gewählt, besiegte nordafrikanische Potentaten und in Italien eindringende germanische Stämme, versagte dann aber doch durch eine falsche politische Entscheidung und musste Rom verlassen. Die Siege hatte er unter anderem dadurch erreicht, dass er gar nicht besonders darauf wartete, genügend Wehrpflichtige einziehen zu können. Er stellte einfach aus eigener Machtvollkommenheit Männer ein, gegen das Versprechen, sie nach Ablauf der Dienstzeit mit Land zu versorgen. Denn Bauern waren und blieben sie, und wem sie dafür dankbar waren, das war ihr bisheriger Chef, der nun zum Patron geworden war – und sie waren seine, jetzt allerdings militarisierten Klienten.

Dann liefen die Dinge aus dem Ruder, die entsetzlichen Ereignisse wurden zum lebenslangen Trauma Ciceros und bestimmten seine ganze Politik. Zum einen begehrten die Bundesgenossen in Italien auf. Absurd war es schon: Knapp die Hälfte Italiens gehörte gar nicht zum römischen Staat, sondern es waren vor Zeiten eingegliederte Einzelstädte, die nicht mitzubestimmen hatten, – aber römische Soldaten durften ihre Männer sein, militärisch genauso vorzüglich, rechtlich zweitrangig. Das wollte man sich nicht länger gefallen lassen. Auch sie wollten Römer sein, aber die Römer sahen das anders. Es kam zum inneritalischen Krieg, die Italiker machten schließlich einen eigenen Staat mit Volksversammlung, Senat, Ämtern wie in Rom auf und konnten nur dadurch besiegt werden, dass man sie doch allmählich eingliederte. Das verknotete sich mit den innerrömischen Konflikten der Popularen und Optimaten.

Marius war knorrig, was ja noch anging, aber er war auch rachsüchtig, und viele mit ihm. Nach der Rückkehr aus dem Exil errichteten vor allem er und dann der Populare Lucius Cornelius Cinna – nach früheren, von beiden politischen Richtungen betriebenen Exzessen – mit ihrem jeweiligen Anhang eine Terrorherrschaft, und vor allem sie war es, die Cicero miterlebt hatte. Immer wieder spricht er in seinen Schriften darüber. Straßen und Plätze wurden zum Schauplatz grauenhafter Blutbäder, Konsuln und andere führende Politiker wurden auf offener Straße erschlagen, zum Selbstmord gezwungen oder starben an den Folgen der Unruhen. Zwei Beispiele: Cicero sagt im Buch Über den Redner aus dem Jahr 55: »Der Kopf des Marcus Antonius war auf der Rednerbühne aufgesteckt, nicht weit von ihm lag Gaius Iulius Caesar Strabos Haupt, zusammen mit dem seines Bruders Lucius Iulius Caesar. Publius Licinius Crassus starb von eigener Hand, und das Blut des Quintus Mucius Scaevola Pontifex besprengte das Götterbild der Vesta«, bei der er, Ciceros juristischer Lehrer, im Jahr 82 – Cicero war 24 Jahre alt – Zuflucht gesucht hatte. Noch in den Gesprächen in Tusculum von 45 heißt es, Cinna habe »den Kopf seines Kollegen Gnaeus Octavius abhauen lassen, ebenso dem Publius Licinius Crassus, dem Lucius Iulius Caesar, dem Marcus Antonius, dem redebegabtesten Mann, dem Gaius Iulius Caesar Strabo, einem Muster der Bildung, des Witzes, der Liebenswürdigkeit und der Eleganz«.

Schließlich schuf der unheimliche, weil sowohl blutdürstige als auch kluge Optimat Lucius Cornelius Sulla Ordnung, nun andersherum. In einem ersten Anlauf zur Macht – noch zu Cinnas Zeiten, der später von den eigenen Soldaten erschlagen wurde, – eroberte er die Stadt Rom selbst, führte dann im Osten Krieg gegen den hellenistischen König Mithridates, musste sich ein populares Konkurrenzheer gefallen lassen, kam zurück und eroberte Rom ein zweites Mal. Jetzt ächtete er in dem auf ihn zugeschnittenen Amt des »Diktators zur Wiederherstellung des Staates« – dictator rei publicae constituendae – einerseits durch lange Listen, die Proskriptionen, seine politischen Gegner, die straflos umgebracht werden konnten und deren Vermögen an die Mörder fiel, andererseits reformierte er einigermaßen dauerhaft den Staat zugunsten des Senatorenstandes; vor allem schränkte er die Macht des Volkstribunats ein, also des Amtes, das traditionsgemäß als die Vertretung des einfachen Volkes galt, freilich immer von Männern aus dem Senatorenstand besetzt wurde. Das und anderes wurde später wieder zurückgenommen, geblieben ist das Abschreckende des Vorgehens Sullas, und daher galt in den folgenden Jahrzehnten: Keine Diktatur, keine Proskriptionen! Das waren die zentralen Gesichtspunkte in allen Auseinandersetzungen der Folgezeit, so heftig sie sonst auch waren.

Dennoch: Der junge Mann Cicero begab sich in aller Ruhe auf seine sehr zivile Laufbahn – und fiel auf.

Der Staranwalt in der Politik