Mami – 1935 – Entschädigt für so viele Tränen ...

Mami
– 1935–

Entschädigt für so viele Tränen ...

Mit Benjamin kam das Glück zurück

Gisela Reutling

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-315-9

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Vor einem der beiden Schaufenster, rechts und links neben der bereits verschlossenen Tür, blieb Elke stehen. Hier konnte sie hindurchspähen, denn nur die ihr wohlbekannte Aufschrift KLINGLER – IHR PARTNER FÜR INDIVIDUELLES REISEN – zog sich in großen, schwungvollen Lettern darüber hin. Das andere Schaufenster war mit bunten Plakaten voll lockender ferner Ferienziele verhängt.

In dem weiträumigen Büro war die Nachtbeleuchtung schon eingeschaltet, die Plätze der Angestellten, mit ihren Computern und Telefonen verlassen. Aber weiter hinten fiel doch noch ein heller Lichtschein aus einem Raum, und dieser kam aus dem Zimmer des Juniorchefs.

Ein zufriedenes Lächeln huschte um Elkes Mund. Hatte sie es sich doch gedacht, daß Martin noch da wäre!

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und tippte seine Nummer. Er meldete sich auch sofort.

»Hallo«, sagte sie mit munterer Stimme, »du wirst mich nicht in Kälte und Dunkelheit vor der Tür stehen lassen, oder?«

»Elke!« kam es überrascht zurück. »Wo bist du?«

»Genau vor deinem Büro. Gedenkt der Herr noch lange zu arbeiten?«

Martin Klingler lachte ein wenig. »Nein, nein, ich wollte auch gerade Schluß machen. Komm hinten herum, du kennst ja den anderen Ausgang.«

Elke umrundete das mehrstöckige Geschäftshaus. Hinten erwartete Martin sie an der Tür. Er begrüßte die Freundin mit einem hingehauchten Kuß rechts und links auf die Wange.

»Waren wir heute verabredet? Habe ich das vor lauter Arbeit vergessen?« fragte er.

»Hmhm.« Elke schüttelte den Kopf. »Mich überkam nur auf einmal die Lust, dich zum Essen einzuladen!«

»Du – mich? Gibt es einen besonderen Anlaß dafür?«

Unbekümmert hob sie die Schultern. »Eigentlich nicht. Es muß ja nicht immer ein besonderer Anlaß sein. Oder vielleicht, weil heute mittag so schön die Sonne schien und schon ein Frühlingsahnen in der Luft lag. So was beschwingt mich, weißt du.«

»Frühlingsahnen, du bist gut.« Martin zog seinen Schal fester um den Hals. »Wer redete denn vorhin von Kälte und Dunkelheit?«

»Na ja, abends«, machte Elke gedehnt. »Es ist immerhin erst Ende Februar. Gehen wir zum Chinesen?«

»Einverstanden. Komm.« Er schob leicht seine Hand unter ihren Arm, und sie gingen über den Parkplatz zu seinem Wagen.

Elke hatte die U-Bahn genommen. Das tat sie öfter, um sich nicht durch den Verkehr der Großstadt quälen zu müssen. Im Sommer fuhr sie auch mit dem Fahrrad, sie war ein sportlicher Typ.

Wenig später saßen sie in dem exotisch dekorierten Restaurant. Der Besitzer, er hieß Wang, hatte ihnen unter vielen Verbeugungen persönlich den Tisch angewiesen. Das junge Paar gehörte zu seinen bevorzugten Gästen. Sie paßten so gut zusammen, der hochgewachsene Mann mit dem gutgeschnittenen Gesicht und die schlanke blonde Frau, ebenfalls über mittelgroß und von einer Gestalt, daß der kleine Chinese ihr stets mit diskret bewundernden Blicken nachsehen mußte.

Sie tranken duftenden Tee aus dünnen Schalen, in denen Blütenblätter schwammen. »Wie läuft das Geschäft?« erkundigte sich Martin.

»Gut«, antwortete Elke vergnügt. »Ich soll die Hochzeitsfotos für die Bellheims machen, mit allem Drumherum. Ist das etwa nichts?«

Martin nickte anerkennend. Die Bellheims waren eine der ersten Familien dieser Stadt. Wenn die junge Tochter heiratete – und damit kam Geld zu Geld – gab das natürlich eine Pomphochzeit.

»Das Foto-Studio Elke Reinhardt ist eben dabei, sich einen Namen zu machen«, bemerkte sie lächelnd, während sein Blick auf ihr ruhte.

Sie hatte sich noch nicht seit langem selbständig gemacht. Anfangsschwierigkeiten mußten erst überwunden werden. Aber sie hatte ihren Beruf von der Pike auf gelernt, und daß ihre Fotos ungewöhnlich gut und von hohem künstlerischen Anspruch waren, blieb nicht unbeachtet.

Die Speisen wurden ihnen serviert, sie waren leicht und vorzüglich zubereitet. O ja, sie wußten schon, warum sie gern hin und wieder dieses Lokal aufsuchten.

»Aber mit Stäbchen zu essen haben wir immer noch nicht gelernt«, meinte Elke, nach einem kurzen Blick auf das Paar am Nebentisch, das diese Kunst vortrefflich beherrschte.

»Dabei würde ich glatt verhungern«, scherzte Martin.

Erst beim Nachtisch, der aus eingelegten Licci-Früchten bestand, erzählte er, daß er bald nach Marokko fliegen mußte, um diverse Hotels zu besichtigen. Von jenen, die bereits im Klingler-Katalog aufgenommen waren, mußte man sich von Zeit zu Zeit überzeugen, daß der angebotene Qualitätsstandard erhalten blieb. Ein, zwei neue sollten hinzukommen, denn die Nachfrage nach Reisen in dieses Land stieg.

»Wie lange wirst du bleiben?« erkundigte sich Elke.

»Etwa acht Tage. Länger werde ich wohl nicht dazu brauchen«, antwortete Martin. – Sie hatten nun ihre Mahlzeit beendet. Er verlangte die Rechnung.

»Ich hatte dich eingeladen«, betonte Elke mit einem schalkhaften Lächeln und griff nach ihrer Schultertasche. Seinen heiteren Protest ließ sie nicht gelten. Sie bezahlte und gab ein gutes Trinkgeld dazu.

Mit drolliger Miene legte Martin die Hand gegen seine Brust und verbeugte sich leicht zum Dank. »Rührt dieser Leichtsinn von dem Auftrag, der dir winkt, oder von deinem Frühlingsahnen?«

»Beides«, lachte Elke.

Martin fuhr sie nach Hause. Sie hatte eine Zweizimmer-Wohnung in einer modernen Wohnanlage, nicht sehr weit von ihrem Atelier. Im Auto neigten sie sich einander zu und gaben sich einen Abschiedskuß auf den Mund. Es war ein Kuß unter Freunden, denn Liebende waren sie nicht – noch nicht?

»War reizend von dir, daß du mich heute abgeholt hast, Elke«, sagte Martin. »Ich melde mich wieder bei dir, wenn ich von meiner Reise zurück bin.«

Elke summte ein paar Takte vor sich hin, als sie in ihrer Wohnung noch ein bißchen aufräumte. Sie hatte diese um halb neun am Morgen verlassen, wie an allen Wochentagen. Nicht immer fuhr sie in der Mittagspause nach Hause, öfter arbeitete sie durch, in der Dunkelkammer oder erledigte Schriftliches. Fleißig mußte sie schon sein, denn noch waren ihre teuren Apparate nicht abbezahlt. Aber sie bereute ihren mutigen Schritt in die Selbständigkeit nicht.

Als sie sich für die Nacht fertig gemacht hatte, schob sie noch eine CD mit leiser Musik ein. Sie hatte einfach noch keine Lust, zu Bett zu gehen. Mit ihrem flauschigen Bademantel angetan, kuschelte sie sich in den Sessel und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Es war ein guter Tag gewesen, der Abend mit Martin ein hübscher Abschluß. Ihre Freundschaft bedeutete ihnen viel. Sie konnten miteinander froh sein. Sie hatten sich gegenseitig geholfen, die Verletzungen zu überwinden, die das Leben ihnen schon angetan hatte.

Bei gemeinsamen Bekannten hatten sie sich vor mehr als einem Jahr kennengelernt. Es war Silvester. Sie waren die einzigen, denen nach fröhlichem Feiern nicht zumute war.

Sie war frisch geschieden, nach einer Ehe, die sie zu jung und zu rasch geschlossen hatte. Was wußte man schon mit zweiundzwanzig Jahren, noch himmelhochjauchzend verliebt, vom ernüchternden Alltag eines Zusammenlebens. Drei Jahre hatten sie es immerhin miteinander ausgehalten, aber dann waren alle Illusionen endgültig zerstoben. Nach dem vom Gesetz vorgeschriebenen Trennungsjahr hatte ein Federstrich den Schlußpunkt gesetzt.

Erleichterung einerseits, ganz klar. Und dennoch blieb eine leise Traurigkeit, ein Bodensatz von Bitterkeit, daß man gescheitert war. Phil war es wohl nicht anders ergangen, wenn sie an den Blick dachte, mit dem er sie beim Auseinandergehen angesehen hatte.

»Wollen wir woandershin gehen, wo es ruhiger ist?« hatte der junge Mann sie gefragt, der ihr nur zwanglos als Martin vorgestellt worden war. Das war eine halbe Stunde vor Mitternacht gewesen. Er hatte laut sprechen müssen, bei all dem Reden und Lachen und Gläserklingen unter den Gästen, fünfzehn Personen etwa, und es kamen wirklich immer noch mehr dazu.

Als sie ihn nur verdutzt ansah, fügte er hinzu: »Ich habe Sie beobachtet. Sie sehen auch nicht gerade aus, als wollten Sie vor Übermut an die Decke springen.«

»Nein.« Er schien ihr sympathisch, er hatte offene, feste Gesichtszüge. »Aber es wird nirgendwo ruhiger sein. In allen anderen Lokalen wird auch gefeiert. Warum wollen Sie denn nicht mittun?«

»Lassen Sie uns unsere Mäntel holen«, sagte der Mann, der Martin hieß.

»Aber wir können doch nicht einfach hier verschwinden«, protestierte sie, und fast mußte sie lachen, weil dieser ihr ganz fremde Mensch über sie bestimmen wollte. Doch er ging ihr schon voraus, zum Vorraum hin, wo in ziemlichem Durcheinander Jacken und Mäntel hingen und lagen. Sie fanden endlich die ihrigen, schlüpften hinein und verließen das Haus mit seinem Lärm und Lichterglanz. Wahrscheinlich würde es kaum jemand bemerken, daß sie schon gegangen waren.

Tief atmeten sie die kalte, klare Luft ein. Der Himmel war schwarz und ohne Sterne. Die Straßen verlassen. Die Menschen feierten drinnen, oder sie saßen vor ihren Fernsehern. Manchmal waren Böllerschüsse zu vernehmen, verfrühte Grüße an das neue Jahr, das in einer Viertelstunde emporsteigen würde. »Und was nun?« fragte Elke.

»Nichts. Wir gehen einfach so durch die nächtlichen Straßen.« Er warf einen flüchtigen Blick auf ihre Füße. »Oder haben Sie Stöckelabsätze an?«

»Nein.« Sie trug flache Schuhe zu langen Hosen.

»Das würde auch nicht zu Ihnen passen.«

Dies war so ziemlich das einzige, was er in den nächsten Minuten von sich gab. Die Hände in den Taschen, gingen sie nebeneinander her, im gleichen Rhythmus. Einmal legte Elke den Kopf zurück, weil etwas Kaltes, Nasses ihre Wangen berührt hatte.

»Wie schön, es fängt an zu schneien«, sagte sie.

Und dann blieben sie stehen, weil, schwingend und langsam ausholend, zwölf Glockenklänge vom Kirchturm erklangen. Sie warteten, bis sie verhallt waren, sie gaben sich die Hand.

»Ein gutes Neues Jahr, Elke!«

»Ein gutes Neues Jahr, Martin!«

Er neigte sich zu ihr und berührte leicht ihren Mund. »Wollen wir es froh angehen?«

»Ja, gehen wir es froh an«, nickte sie und lächelte ein wenig, nicht unbewegt.

Plötzlich wurde es laut in den Straßen, Raketen zischten auf, entfalteten sich in einem bunten Sternenregen und sanken herab. Im tanzenden Flockenwirbel gingen sie weiter. Bis sie ein Taxi fanden und einstiegen.

Martin hatte sie noch höflich über den Plattenweg bis zu dem Haus geleitet, in dem sie wohnte. Ein kurzer Gutenacht-Gruß, und er war weitergefahren. Das war nun freilich ein seltsamer Jahreswechsel gewesen, stattgefunden zwischen zwei Menschen, die so gut wie nichts voneinander wußten.

Sie hatte schon nicht mehr daran gedacht, als gegen Ende Januar dieser Anruf kam. »Hier ist Martin Klingler – Sie erinnern sich?«

»An einen Martin, ja. Nur Ihren Nachnamen höre ich heute zum ersten Mal. Wußten Sie denn den meinigen?«

»Das war nicht schwer herauszufinden. – Wie wäre es, wenn wir das Glas Champagner, das doch eigentlich zu Silvester gehört hätte, noch im nachhinein zusammen trinken würden?«

»Hm... Grundsätzlich hätte ich nichts dagegen«, antwortete sie ihm mit einem Lächeln in der Stimme.

»Wenn Sie morgen nichts anderes vorhaben, hole ich Sie gegen neunzehn Uhr dreißig zu Hause ab und wir gehen in ein nettes Restaurant.«

»Einverstanden. Es muß aber nicht gerade Champagner sein!«

Das war es aber dann doch, ihr Begleiter ließ es sich nicht nehmen. Sie stießen damit noch auf das Jahr an, das sie zusammen bei einem nächtlichen Spaziergang begonnen hatten.

»Zwei, denen gerade nicht nach ausgelassenem Feiern zumute war«, behauptete Martin Klingler.

»Zwei verwundete Seelen, sozusagen«, meinte Elke mit heiterem Spott.

»Das klingt mir zu dramatisch«, wehrte der Mann mit einer leichten Kopfbewegung ab. »Man faßt nur manchmal zusammen, was gelaufen ist, und dafür bieten sich die letzten Stunden eines Jahres an. Auch wenn man mitten unter Menschen ist und nicht gerade zur Sentimentalität neigt.«

Später sollte sie erfahren, daß ihm eine längere Beziehung in die Brüche gegangen war. Mehr oder weniger sang- und klanglos war dies geschehen, weil ihnen das große Gefühl füreinander abhanden gekommen war.

»Mir ging es ähnlich«, bekannte sie nach seinen Worten. »Ich bin seit kurzem geschieden. Nicht, daß ich Tag und Nacht darüber weine, wir lebten ja schon seit einem Jahr getrennt. Aber manchmal steigt es in einem auf, warum es denn schon so viele Scherben geben mußte.«

Mit einem kleinen Lächeln sagte Martin Klingler: »Wir hatten uns um Mitternacht versprochen, das neue Jahr gut anzugehen. Also schauen wir nicht mehr zurück. Darauf!« Und noch einmal klangen die Gläser aneinander. Sie unterhielten sich, hauptsächlich über ihre Berufe, die weder beim einen noch beim anderen uninteressant waren.