Axel Melzener

Kurzfilm-Drehbücher schreiben

Die ersten Schritte zum ersten Film

image

Copyright © 2010 Sieben Verlag, Ober-Ramstadt

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einführung

Das Drehbuch – die DNS des Films

Unterschiede zwischen Kurz- und Langform

Häufig gemachte Fehler

Die richtige Perspektive

2. Inhaltliche Ausformung

Den richtigen Ansatz finden

„Die Illustration“

„Das Psychogramm“

„Der verfilmte Witz“

„Am Scheideweg“

„Das unerwartete Abenteuer“

„Die Parabel“

Fazit

Dinge, wie wir nicht mehr sehen können

Alleinstellungsmerkmal

Filmtitel

Genre

Charaktere

Die antagonistische Kraft

Thema und Aussage

Form dient Inhalt

These, Antithese, Synthese

Anfänge und Enden

Inhaltliche Analyse populärer Kurzfilme

„Partly Cloudy“

„Bara Prata Lite“

„Presto“

3. Handlungsaufbau und Struktur

Narrative Zwänge der Kurzform

Wirtschaftlichkeit

Schnelle und deutliche Exposition

Knappes und eindruckvolles Ende

Dramaturgiemodelle im Vergleich

Die „Poetik“ des Aristoteles

Das 3-Akt-Paradigma nach Syd Field

Das 4-Akt-Modell

Das 5-Akt-Modell nach Gustav Freytag

Die 8-Sequenzen-Methode nach Frank Daniel

Die Heldenreise nach Christopher Vogler

John Trubys „Blockbuster“-Methode

Geeignete Theorien unter der Lupe

Aristoteles und die emotionale Manipulation

Narrative Mechanismen nach Aristoteles

Akte und Wendepunkte verstehen

Strukturelle Analyse populärer Kurzfilme

„Valgaften“

„Copy Shop“

„Fridge“

4. Story-Planung

Die Log Line

Das Exposé

5. Drehbuchformat

Ursprung, Sinn und Zweck

Layout des amerikanischen Drehbuchformates

6. Das Drehbuch

Szenengestaltung

Wie viele Szenen sind zu viele?

Was eine gute Szene ausmacht

Erzählzeit und erzählte Zeit

Der Zukunft zugewandt

Kontrastierung

Die emotionale Straßenkarte

Visuelles Erzählen

Dialoge schreiben

Lern- und Sprechbarkeit

Im Charakter bleiben

Keine Wiederholungen

Selbstgespräche, Voice Overs und die vierte Wand

Anreicherung mit Aktivität

Subtext

Zusammenfassung

Anhang: Beispiele

Vorwort

Mein erstes Kurzfilmdrehbuch, das ich 1996 im Rahmen meines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg auch selbst als Regisseur umsetzte, trug den Titel „Seitenwechsel“ und erzählte eine auf Tatsachen beruhende, historische Story. Sie bestand aus einer einzigen zehnminütigen Szene, in der unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges der Raketenforscher Wernher von Braun von einem amerikanischen Armeeoffizier verhört und zugleich zum Übersiedeln in die USA „überredet“ wird. Ein kammerspielartiger, auf Figuren und Dialog fokussierter Ansatz – vor allem aus Gründen der Realisierbarkeit.

Die Entstehung des Films war abenteuerlich, vor allem, weil alles neu für mich war: Schauspieler, Kameras, Scheinwerfer, Klappen, Mollton, Schnittplätze (damals noch analog auf S-VHS). Gerade einmal seit drei Wochen war ich frischgebackener Filmstudent, schon stand ich am Set und versuchte, aus den paar Scriptseiten, die ich unter Zeitdruck in ein, zwei Nächten geschrieben hatte, mit der Hilfe geduldiger Darsteller und eines motivierten Teams einen kohärenten Film auf die Beine zu stellen. Das erhebende Gefühl, als „Seitenwechsel“ dann Ende des Semesters Kommilitonen, Professoren und Eltern im Kino vorgeführt wurde, werde ich nie vergessen.

Das wohl größte Problem der Drehbuchausbildungen, die an Filmhochschulen angeboten werden, ist, dass der Unterricht sich auf Langfilmstoffe konzentriert, aber während des Studiums ausschließlich Kurzfilme gedreht werden.

Ich saß also in meinen Vorlesungen, schaute Klassiker der Filmgeschichte und lernte brav Dramaturgiemodelle wie die gute alte „Heldenreise“, aber unmittelbar anwendbar auf die Projekte, die an der Filmakademie tatsächlich realisiert wurden, war dieses Wissen nur bedingt.

Als ich mein Studium beendete und als Drehbuchschreiber zu arbeiten begann, erwartete mich eine ganz andere Welt – eine Industrie, in der Kurzfilme mangels Auswertungsmöglichkeiten keine kommerzielle Perspektive haben, sondern allein das Langformat gefragt ist. Da stand ich nun als Autor, der zwar ein gutes Dutzend Kurzfilmdrehbücher verfasst hatte, von denen die meisten auch realisiert worden waren, der aber nun ein 120 Seiten umfassendes Spielfilmscript zu schreiben hatte.

Eine glückliche Fügung bewirkte, dass ich kurz nach Abschluss meines Studiums (wohl unbewusst dem Titel meines ersten Films folgend) die „Seiten wechselte“ und mich plötzlich als Seminarleiter wiederfand, dem ein Dutzend neugieriger Studenten gegenübersaß. Seitdem hat mich die Arbeit als Drehbuchdozent an zahlreiche Film-und Medienhochschulen im In- und Ausland geführt.

Einerseits hatte ich dabei mit Nachwuchsautoren zu tun, die ausschließlich Langfilme schreiben wollten, andererseits begegnete ich jungen Filmstudenten, die sich – wie ich selbst einige Jahre zuvor – der Herausforderung stellen mussten, ihren ersten Kurzfilm zu realisieren.

Wie gut konnte ich ihre Verunsicherung nachvollziehen: Alles, was man schon immer sagen wollte, möchte man in zehn Minuten sagen.

Aber wie nutzt man diese begrenzte Erzählzeit sinnvoll? Welche ist die beste, schönste, wichtigste Geschichte, die in einem steckt, und wie bereitet man sie konkret auf?

Kein Wunder, dass ich immer wieder die Frage hörte: „Warum gibt es kein Buch darüber, wie man Kurzfilme schreibt?“ Die Studenten hatten schnell gemerkt, dass die klassische Drehbuchliteratur das Medium Kurzfilm völlig ausblendet.

Die nachfolgenden Seiten sind das Resultat meines Beschlusses, dies zu ändern. Ich habe meine eigenen Erfahrungen als Autor von Kurzfilmen, aber auch die Gespräche mit fast hundert Filmstudenten, deren Projekte ich über die Jahre betreut habe, als Inspiration zur Rate gezogen und hoffe, dass die Ungewissheit, die an den Autoren und Regisseuren der Zukunft nagt, wenn sie ihre erste Viertelstunde auf dem Weg zum Filmolymp planen, damit vielleicht ausgeräumt werden kann.

Axel Melzener

1. Einführung

Das Drehbuch – die DNS des Films

Kurzfilme sind von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung des kreativen Potenzials und der sozialen Fähigkeiten aufstrebender Filmemacher: ein Trainingsgelände für alle größeren Dinge, die noch kommen mögen. Einen Kurzfilm zu drehen, heißt, zu experimentieren, sich auszuprobieren und in vielerlei Hinsicht an die eigenen Grenzen zu gehen. Man bekommt einen Vorgeschmack darauf, wie es sein könnte, an einem „großen“ Filmset zu stehen. Wer die Herausforderung meistert, ist bereit für den nächsten Schritt; wer an ihr scheitert, lernt, was er beim nächsten Mal besser machen muss – oder erkennt, dass er für das Drehen nicht geschaffen ist.

Alle großen Filmemacher haben klein angefangen. Als Türöffner für diejenigen, die heute groß im Geschäft sind, dienten stets Kurzfilmprojekte – egal, ob sie im Rahmen eines Studiums an einer Filmhochschule entstanden oder sich die Autoren und Regisseure dem Medium autodidaktisch näherten. Und in den meisten Fällen waren die inhaltlichen und ästhetischen Vorlieben bereits deutlich zu erkennen: Lars von Triers Faible für Provokation und Bruch mit Konventionen, George Lucas’ Beschäftigung mit philosophischen Themen, Ridley Scotts Sehnsucht, Film als bewegtes Gemälde zu verwirklichen, Steven Spielbergs Händchen für gute Unterhaltung und Krzysztof Kieslowskis sezierend genauer Blick auf menschliches Verhalten ebenso wie Peter Greenaways kryptisches Spiel mit Raum, Zeit und Objekten.

So unterschiedlich die Filmemacher und ihre Filme auch sein mögen, sie alle standen ihrerzeit vor derselben Herausforderung: Mit einem geeigneten Drehbuch einen Grundstein für das jeweilige Kurzfilmprojekt zu legen. Denn das Drehbuch ist der Kern, aus dem alles andere erwächst; die DNS des Films. Wie jedes andere Produkt in jeder anderen Industrie wird ein Film zuallererst als Text konzipiert. Was später zu bewegten Bildern wird, beginnt als schwarze Schrift auf weißem Grund.

Unterschiede zwischen Kurz- und Langform

Die grundsätzliche Intention, die Herstellungsmethoden und Produktionsabläufe sind bei Lang- und Kurzfilm identisch: Es werden Geschichten erzählt und dabei verschiedenste Genres bedient und Themen behandelt. Die Aufgabenverteilung am Set und in der Post-produktion, Kamera, Ton und Licht, Schnitt und Musik, alle diese Komponenten greifen in beiden Medien gleichermaßen ineinander.

Und doch ist der Kurzfilm nicht einfach eine verknappte Variante des Langfilms oder umgekehrt ein Langfilm ein aufgeblasener Kurzfilm: Der wesentliche Unterschied liegt in der Konzeption des Drehbuches begründet, im dramaturgischen Aufbau. Es ist die Erzählweise, die den Unterschied macht.

Davon abgesehen liegen die größten Unterschiede auf der Hand: Zum einen haben Kurzfilme eine kürzere Laufzeit. Während ein TV-Movie 90 Minuten dauert und ein Kinospielfilm im Schnitt 2 Stunden, läuft der typische Kurzfilm 5 bis 15 Minuten, wobei bei Abschlussfilmen an Filmhochschulen auch noch Produktionen bis zu etwa einer Stunde Länge als Kurzprojekte durchgehen.

Kurzfilme haben dementsprechend weniger Szenen, weniger Handlungsorte und ein kleineres Figurenpersonal. Somit sind weniger Drehtage, weniger Darsteller und weniger Technik zur Umsetzung erforderlich, was wiederum in kleineren Budgets resultiert.

Während für einen Langfilmdreh je nach Aufwand des Projektes 3 Wochen bis ein halbes Jahr Drehzeit kalkuliert wird, werden an den meisten Filmhochschulen 2 bis 4 Tage Drehzeit für einen etwa 10-minütigen Kurzfilm oder eine bis eineinhalb Wochen für einen Halbstünder anberaumt.

Häufig gemachte Fehler

Die narrative und produktionstechnische Herausforderung, einen Kurzfilm zu drehen, ist keineswegs geringer als bei einer Langfilmproduktion. Da Geld und Zeit erfahrungsgemäß stark begrenzt sind, ist eine genaue Vorplanung erforderlich, wobei es wichtig ist, den anfallenden Aufwand realistisch einzuschätzen. Ein ungeübtes Team von Nachwuchsfilmern kann froh sein, wenn es an einem Drehtag verwertbares Material für 2 bis 3 spätere Filmminuten zustande bringt – was schlimmstenfalls nur durch gnadenlose Selbstausbeutung, sprich 20-Stunden-Drehs, möglich ist.

Traurigste Konsequenzen eines zu knapp kalkulierten Drehs sind entweder a) ungenügende Qualität, oder b) unvollständig abgedrehte Projekte, bei denen eine oder mehrere Szenen gar nicht erst realisiert werden können.

Im ersten Fall hat man ein zwar komplettes, aber handwerklich schlampig gefertigtes Produkt, dem man die Eile, in der es hingeworfen wurde, deutlich anmerkt; im zweiten Fall ein inszenatorisch möglicherweise hochwertiges Fragment, das aber unvollständig und somit nicht vorzeigbar ist.

Häufigste Gründe für ein solches Scheitern sind schlechte Planung seitens der Produktion und überraschende Katastrophen am Set (Unwetter, nicht aufgetauchte Darsteller, fehlende Ausstattungsgegenstände, plötzlich ausbrechende Grippeepidemien oder Magengeschwür der Produzentin, persönliche Fehden) – oder schlimmstenfalls eine Kombination aus alledem.

Ob ein Kurzfilm überhaupt realisierbar ist, lässt sich schon am Drehbuch ablesen, denn es ist seine Blaupause und nimmt die meisten seiner Elemente in schriftlicher Form vorweg. Eben auch diejenigen, die materiell greifbar sind (sprich alles, was beim Dreh vor und hinter der Kamera steht).

Das Drehbuch ist auch für einen möglichen dritten Grund für das Scheitern eines Kurzfilmprojektes verantwortlich: nämlich dass es erzählerisch schlicht und einfach nicht tragfähig ist. Nur, weil man den Film in time and on budget abgedreht hat, heißt das nicht automatisch, dass er auch gut wird. Wie bei einem Langfilm wird von den späteren Zuschauern auch hier das Kriterium der narrativen Effizienz angelegt werden: Mag ich die Figuren, packen mich die Wendungen, verstehe ich das Thema, ergibt das Ende einen Sinn? Wenn die Story nichts taugt, sind auch die realistischsten Drehpläne und das eingespielteste Team wertlos.

Eben dieses Problem ist mir während meines Studiums ebenso wie in meiner Rolle als Drehbuchdozent immer wieder begegnet: dass junge Filmemacher einen gewaltigen Enthusiasmus an den Tag legen, um eine Geschichte zu erzählen, die gar nicht funktioniert. Sie sind so trunken von Glück, überhaupt einen Film drehen zu können und vor allem so besessen von den technischen Möglichkeiten, dass das Storytelling unter den Tisch fällt und ihnen tunnelgroße Plotlöcher und unlogisch handelnde Figuren gar nicht auffallen.

Ich habe mehr als einmal erlebt, dass Studenten mit fertigen Storyboards und gecasteten Darstellern stolz zu mir kamen, um sprudelnd und durchaus überzeugend davon zu berichten, wie sie diese oder jene Szene drehen würden – aber als ich sie fragte, worum es in ihrem Film eigentlich gehen solle, was sein Thema sei und warum sie ihn überhaupt drehen wollten, war das Schweigen groß. Sie konnten ihre eigene Story nicht nacherzählen und kannten teilweise nicht einmal die Namen ihrer Charaktere. Die Faszination des Filmemachens an sich hatte jegliche narrativen Erwägungen überwältigt und ausgeschaltet.

Bevor man sich einen Dolly und einen Kran besorgt, sollte man sich eine Story besorgen.

Die richtige Perspektive

Viele junge Filmemacher gehen mit falschen Vorstellungen an ihr erstes Kurzfilmprojekt heran. Die Annahme, dass das Drehbuch eigentlich gar nicht so wichtig sei, ist dabei nur eine von mehreren, wenn auch eine besonders Fatale.

Zuallererst sollte man sich im Bezug auf die Auswertungsform darüber klar werden, dass für Kurzfilme kein Markt besteht; es lässt sich mit ihnen kein Geld verdienen. In früheren Zeiten liefen zwar häufig Kurzfilme im Vorprogramm von Langfilmen, aber diese Tradition existiert in der modernen Kinolandschaft schon längst nicht mehr.

Die Frage, die sich jeder Nachwuchsfilmer stellen muss, ist also, ob und wenn ja, wo, sein Werk überhaupt jemals ein Publikum findet. Das Internet hat hier in den letzten Jahren eine kleine Revolution in Gang gesetzt, denn es ermöglicht jungen Talenten auf einfache und kostenlose Weise, ihre Filme der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vor allem die Webseite YouTube hat sich diesbezüglich zu einer populären Plattform gemausert. Für Schlagzeilen sorgte im Dezember 2009 die Erfolgsgeschichte des aus Uruguay stammenden Regisseurs Fede Alvarez, der von einem Hollywoodstudio einen 30-Millionen-Dollar-Vertrag angeboten bekam, nachdem sein Science-Fiction-Kurzfilm „Ataque de Panico“, in dem die Hauptstadt des Landes Montevideo von gigantischen Robotern zerstört wird, dem bekannten Regisseur und Produzenten Sam Raimi ins Auge gestochen war. Allerdings ist dieser traumhafte Karrieresprung die Ausnahme, nicht die Regel. Und wie so viele junge Filmemacher hatte Fede Alvarez für diesen Triumph hart gearbeitet, denn die Herstellung seines aufwendigen Kurzfilmprojektes hatte ihn viel Geld, Zeit und Nerven gekostet. Obwohl sich solche Märchen nicht jeden Tag wiederholen, inspirieren sie doch zahlreiche Nachwuchsfilmer, in dieselbe Kerbe zu schlagen.

Der traditionelle Internetversandhandel leistete in den letzten Jahren ebenfalls einen Beitrag dazu, Kurzfilme einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Virtuelle Kaufhäuser, die DVDs im Angebot haben, bieten die Möglichkeit, Filme im Eigenvertrieb herauszubringen, und nachdem vor allem an den Filmhochschulen der Bedarf gewachsen ist, im Unterricht mehr Anschauungsmaterial aus aller Welt zu zeigen, haben sich Kurzfilmkompilationen wie die Reihe „Cinema 16“, die eine regional sortierte Auswahl von Kurzfilmen bekannter Filmemacher anbietet, etabliert. Viele der Filmbeispiele, die in diesem Buch angeführt werden, sind auf der „Cinema 16“-Kollektion enthalten; es lohnt sich, einen Blick auf sie zu werfen.

Die ansonsten nach wie vor wichtigste Gelegenheit, eigene Kurzfilme vorzuführen und dabei gleich mit dem Publikum in Kontakt zu kommen, sind Filmfestivals. Die meisten verfügen über umfassende Kurzfilmsektionen und viele sind sogar ausschließlich auf Kurzfilme ausgelegt. Die teilweise ansehnlichen Preisgelder sind Ansporn für viele junge Filmemacher, ihre Projekte einzureichen, doch oft reicht der Gewinn nur, um die Kosten des preisgekrönten Films zu decken und vielleicht das nächste Projekt anzuschieben.

Wer einen Kurzfilm dreht, muss der Wahrheit ins Auge blicken – und die lautet: Kurzfilme sind eine brotlose Kunst. Mit Langfilmen werden Milliarden umgesetzt, aber für den eigenen Kurzfilm zahlt der Filmemacher in der Regel drauf. Es ist falsch, einen Kurzfilm als kommerziell auswertbares Produkt zu begreifen.

Vielmehr erfüllt ein 15-Minüter den Zweck einer sehr großen, sehr teuren Visitenkarte. Die bringt kein Geld, aber im besten Falle Aufmerksamkeit. Jene kann zu guten Kontakten – dem A und O der Filmbranche – führen und diese Kontakte zu bezahlter Arbeit an einem Langfilm (oder an Musikvideos oder Werbeclips, übrigens auch ein Weg, den viele heute berühmte Regisseure gewählt haben). Ein Kurzfilm ist die beste Möglichkeit für einen Filmemacher, sich und seine Fähigkeiten zu präsentieren.

2. Inhaltliche Ausformung

Den richtigen Ansatz finden

„Die Illustration“

Der illustrative Kurzfilm stellt die Bebilderung eines Tondokumentes dar. Das akustische Element dient als Grundlage, auf der die Story aufbaut. Populärste Form dürfte das narrativ orientierte Musikvideo sein, das einen Song mit einer visuellen Darbietung anreichert (etwa „Wake Me Up When September Ends“ von Green Day, das einen U.S.-Soldaten im Irakkrieg und seine schwangere Frau, die zu Hause auf ihn wartet, zeigt). Hollywood-Starregisseur und Ex-Disney-Animator Tim Burton startete seine Karriere mit einem solchen Projekt: „Vincent“ (1982). Der Puppentrickfilm ist die Illustration eines an Edgar Allen Poes Werke angelehnten, augenzwinkernden Gruselgedichtes, das Burton selbst verfasste. Als Sprecher konnte Vincent Price – an den der gesamte Film eine Hommage ist – gewonnen werden. Ähnlich verfuhr Filmemacher Phil Hunt, der sich in „Ah Pook is Here“ (1994) eines Gedichtes von William S. Burroughs annahm und den Versuch wagte, Burroughs’ Poesie in Bilder zu kleiden. Als Sprecher fungierte der legendäre Dichter selbst; handwerklich umgesetzt wurde der Film, wie „Vincent“, im Stop-Motion-Verfahren.

image

„Ah Pook is Here“ – © Phil Hunt

image Experimentell

image Arbeiten mit Vorlage

image Häufig Animationsfilm

image Visuelle Ebene ist wichtiger als Handlung

image Ästhetisch-atmosphärisches Ordnungsprinzip

image Freies Spiel mit Raum und Zeit

image Viele Szenen

„Das Psychogramm“

Unter einem Psychogramm verstehen wir einen Film, der den inneren Zustand einer Figur veräußerlicht und uns Einblicke in das Seelen- und Gefühlsleben oder die spezifische Denkweise einer Person gewährt. Das Geschehen wird dabei entweder aus der Perspektive des Protagonisten geschildert oder – wie in einem beobachtenden Dokumentarfilm – neutral von der Kamera wiedergegeben.

Dies ist in „Bara Prata Lite“ (1997) von Lukas Moodysson der Fall; dem Psychogramm eines einsamen, arbeitslosen älteren Mannes, der auf der verzweifelten Suche nach menschlichen Kontakten zu drastischen Mitteln greift.

Eine andere Perspektive nimmt Roy Anderssons „Härlig är jorden“ (1991) ein, ein Film über Schuld und Verdrängung. Der Protagonist, ein emotional gestörter Immobilienmakler um die vierzig, ist sich der Gegenwart des Publikums dabei voll bewusst. Er wendet sich direkt an den Zuschauer und erzählt ihm in 15 Bildern sein Leben. Das Psychogramm legt wenig Wert auf Handlung, dafür viel auf facettenreiche Charaktere.

image Dokumentarischer Ansatz

image Character driven, fußt auf (nicht unbedingt sympathischen, aber) komplexen Figuren

image Meistens Spielfilm

image Plotverlauf eher nebensächlich, im Vordergrund steht das Innenleben einer Person

image Inszenatorisch-darstellerisches Ordnungsprinzip

image Genre meist Drama

image Offenes oder tragisches Ende, das Ausweglosigkeit/pessimistische Grundstimmung unterstreicht

„Der verfilmte Witz“

Jeder kennt Witze, die ungefähr so anfangen: „Ein Deutscher, ein Amerikaner und ein Franzose stehen auf dem Eiffelturm …“ – oder urbane Legenden wie die Sache mit der Spinne in der Yuccapalme, die ein Freund eines Freundes angeblich selbst erlebt hat. Derlei Konstellationen eignen sich wunderbar zur Umsetzung im Kurzfilm.

Im Mittelpunkt der Story steht immer eine einzelne, häufig absurde Situation, in der ein Konflikt auf ungewöhnliche Weise aufgelöst wird. Der Ansatz erinnert damit am ehesten an einen Sketch, wie man ihn in Comedy-Shows findet. Zwei Elemente sind von grundlegender Bedeutung für den „verfilmten Witz“: eine originelle Ausgangssituation, die sofort die Aufmerksamkeit des Zuschauers weckt, und eine gepfefferte Pointe, die den Film völlig plausibel, aber zugleich überraschend enden lässt. Diese Überraschung wird meist dadurch erzeugt, dass eine der handelnden Figuren aus dem Rahmen fällt, mit bisherigen Verhaltensmustern bricht oder schlicht und einfach eine irrwitzige, unerwartete Aktion durchführt. Damit der Witz kein oberflächlicher Spaß bleibt, enthält die Auflösung häufig eine moralische Botschaft oder die Situation wird in den Dienst eines drängenden Themas gestellt. Sowohl „Schwarzfahrer“ (1989) als auch „The Lunch Date“ (2000) sind pointenreiche Umsetzungen urbaner Legenden, die etwas über unsere Gesellschaft auszusagen haben. Es hat sich erwiesen, dass die Ausgangssituation umso stärker ist, je alltäglicher sie auf den ersten Blick wirkt – Skurrilität um der Skurrilität willen führt meist zu einem weniger glaubhaften Ergebnis.

„Der verfilmte Witz“ ist meist gemäß einer klassischen Dramaturgie aufgebaut und erfordert dadurch mehr Sorgfalt beim strukturellen Aufbau als andere hier genannte Ansätze.

image Meistens Spielfilm

image Abgerundete Figuren, durchdachte Dramaturgie

image Handlung ist wichtiger als visuelle Ebene

image Äußerer Konflikt wichtiger als innerer Konflikt

image Narratives Ordnungsprinzip

image Benötigt originelle Grundidee und grandiose Pointe

image Genre meistens Komödie

image Raum und Zeit stark verdichtet (eine oder zwei Locations, häufig Echtzeiterzählung)

image Zwei Charaktere bestimmen die Handlung

image Wenige Szenen

image

Pepe Danquarts „Schwarzfahrer“ – © Trans-Film

„Am Scheideweg“

Der Schriftsteller Ernest Hemingway verfasste nicht nur zahlreiche Romane, die zu Klassikern wurden, sondern war auch ein Meister der Kurzgeschichte. Sein Erfolgsrezept beim Entwurf von short stories war, Charaktere in einem Moment zu zeigen, der ihr weiteres Leben für immer verändern würde. Besonders gerne mochte Hemingway Initiationsgeschichten; vor allem Erzählungen über Jungen, die durch ein besonderes Ereignis zum Mann reifen.

Der Kurzfilmansatz des „Scheideweges“ folgt genau diesem Prinzip: Er zwingt die Hauptfigur, eine wichtige Entscheidung zu treffen und sich dadurch zu verändern. Die Story schildert einen Erkenntnisprozess, der aus einer bestimmten Situation erwächst.

Das transformative Element, die Charakterwandlung, ist konstituierender Bestandteil dieses Ansatzes: Die Figur muss nach ein paar Minuten anders aus der Geschichte hervorgehen, als sie hineingegangen ist. Eine grundlegende Wandlung in so begrenzter Zeit zu erzählen, ist nicht einfach. Florian Gallenbergers Oscar preisgekrönter Kurzfilm „Quiero Ser“ lässt sich dazu 35 Minuten Zeit. Er schildert den Überlebenskampf zweier mexikanischer Brüder, die sich als Straßensänger durchs Leben schlagen. Als der ältere, impulsivere Bruder den jüngeren, klügeren Bruder bestiehlt, beschließt Letzterer, vom Vertrauensbruch zutiefst enttäuscht, eigene Wege zu gehen – was dramatische Konsequenzen für beide Charaktere hat.

Im 5-minütigen Pixar-Kurzfilm „Presto“ weitet sich ein Konflikt um eine Mohrrübe zu einer komischen Machtprobe zwischen einem Zauberer und seinem weißen Karnickel aus, der das zukünftige Verhältnis von Requisit und Besitzer verändern wird.

image Character driven, Entwicklung einer einzelnen Figur steht im Mittelpunkt

image Innerer Konflikt ist wichtiger als äußerer Konflikt

image Gleichermaßen als Spiel- und Animationsfilm beliebt

image Narratives Ordnungsprinzip

image Genre häufig Drama oder Komödie

image Starke Geschlossenheit von Raum und Zeit (nur eine Location, Erzählung in Echtzeit)

image Höhepunkt ist die Entscheidung der Figur; das Ende deutet die Konsequenzen der Entscheidung an

image Wenige Szenen

„Das unerwartete Abenteuer“

Die größten Abenteuer beginnen oft ganz unspektakulär – aber wenn der Stein einmal ins Rollen geraten ist, können die unglaublichsten Dinge geschehen. Es ist die berühmte Geschichte vom Mann, der nur mal eben Zigaretten holen will, dabei verschwindet und sich zehn Jahre später aus Südamerika bei seiner Familie mit den Worten „Du glaubst nicht, was mir passiert ist …“ meldet.

Wichtig für einen Kurzfilm, der ein „unerwartetes Abenteuer“ erzählt, ist eine hohe Ereignisfülle; es muss „viel passieren“. Diese Ereignisfülle kann, ja soll, bis an die Grenze des Surrealen überhöht werden, wobei trotzdem eine Szene auf logische Weise der nächsten folgt. Im Gegensatz zum „erzählten Witz“, der zeitlich, vor allem aber räumlich sehr eng gefasst ist und seine Wirkung eher aus einer Alltagssituation bezieht, hat das Abenteuer den Charakter einer Reise, die auf jeden Fall mehr als ein, zwei Handlungsorte umfasst und auch mehr als zwei zentrale Figuren aufbieten kann.

Wichtig für die thematische und emotionale Wirkung ist ein möglichst großer Kontrast zwischen der Identität des Protagonisten und Orten und Personen, mit denen er während des Abenteuers in Berührung kommt: Alltägliches und nie für möglich Gehaltenes kollidieren. Eine Charakterwandlung ist optional; der Protagonist selbst muss sich nicht zwingend durch das Erlebte transformieren.

„Das unerwartete Abenteuer“ ist von allen Kurzfilmansätzen der, der einem Langfilm am nächsten kommt, und viele Filme, die dieses Prinzip verfolgen, „fühlen“ sich eher wie Langfilme an, was aus den soeben genannten narrativen Prioritäten resultiert. Kurzfilme, die diesen Ansatz aufgreifen, sind etwa der Puppentrickfilm „Endstation Paradies“, in dem sich eine Bande Ratten auf eine weite (und sehr gefährliche) Reise in eine vermeintlich bessere Welt macht, oder „Mensch, Jesus!“, der die Rückkehr des Gottessohnes auf die Erde und sein Ringen mit den Tücken der Moderne zeigt (wobei er den Teufel besiegt und sich verliebt – alles in 23 Minuten). Auch „Valgaften“ mit seiner Taxiodyssee ist ein „unerwartetes Abenteuer“.

image

Jan Thürings „Endstation Paradies“ – © Filmakademie Baden-Württemberg

image Plot driven, verwurzelt in spannenden Wendungen und sich verschärfenden Situationen

image Narratives Ordnungsprinzip

image Äußerer Konflikt ist wichtiger als innerer Konflikt

image Temporeich, schneller Rhythmus

image Gleichermaßen als Spiel- und Animationsfilm beliebt

image Verhältnismäßig viele Darsteller und Locations

image Genre häufig Komödie, oft Einschläge von Abenteuerfilm, Krimi oder Thriller

image Breite räumliche Aufstellung (mehrere Locations), komprimierte Zeit

image Häufig innere Geschlossenheit durch Kreisförmigkeit: Geschichte endet, wie sie begann

„Der Trip“

Ein „Trip“ muss nicht unbedingt Sinn ergeben, aber auf jeden Fall eine ungewöhnliche Erfahrung bieten. Sein Ziel ist, den Zuschauer in einen anderen Bewusstseinszustand zu versetzen – so, als hätte er LSD eingeworfen oder psychoaktive Pilze verspeist. Eine stringente, nach allen Regeln der Erzählkunst konzipierte Handlung ist dabei nicht notwendig; ja, möglicherweise sogar hinderlich. Was zählt, ist einzig und allein die Wirkung. Urvater des Kurzfilm-„Trips“ ist Luis Buñuels 16-minütiges surrealistisches Meisterwerk „Der andalusische Hund“ (1929), der keine durchgängige Geschichte erzählt, sondern verschiedene – teilweise verstörende – Bilder assoziativ aneinanderreiht und dadurch eine große suggestive Kraft entfaltet, die sich jeglicher rationaler Analyse entzieht. Ebenfalls aus Spanien stammt Javier Fessers „El secdleto de la Tlompeta“ (1995), eine wilde 17-minütige Komödie, die komisch-überdrehte Szenen aneinanderreiht, welche aber nur sehr marginal in Bezug zueinander stehen. Chris Morris’ „My Wrongs #8245 – 8249 & 117“ (2002) nähert sich Franz Kafka an, indem er einen Mann, der mit einem Dobermann Gassi geht, mit einem bevorstehenden Gerichtsprozess konfrontiert, bei dem ausgerechnet der Hund als Rechtsanwalt aufzutreten gedenkt.

„Der Trip“ zeichnet sich meist durch starke ästhetische Verformungs- und Überhöhungsmomente aus, etwa Schauspieler, die wie Cartoonfiguren agieren oder grimassieren; grelle Licht- und Farbgestaltung, Einsatz von Unschärfen oder veränderten Proportionen, extremen Schnitten, ungewöhnlicher Musik oder verfremdeten Soundeffekten. „Der Trip“ behandelt Film nicht als narratives, sondern als rein sinnlich erfahrbares Medium.

image Experimentell

image Schwerpunkt auf Stimmungen

image Häufig surreal, Logik ignorierend

image Figurenzeichnung eher Nebensache

image Bewusste Brechung dramaturgischer Regeln

image Visuals driven, abgedrehte Bilder und Inszenierungseinfälle schaffen Faszination

image Gleichermaßen als Spiel- und Animationsfilm beliebt

image Ästhetisch-atmosphärisches Ordnungsprinzip

image Genre häufig Komödie (Satire, Farce, Groteske), aber auch Horror oder Thriller

image Freies Spiel mit Raum und Zeit, viele Szenen

image

Luis Buñuels „Der andalusische Hund“

„Die Parabel“

Eine Parabel ist eine gleichnishafte Erzählung mit lehrreichem Charakter, die ein ethisches Dilemma beleuchtet. Sowohl das Personal als auch der Handlungsort haben symbolischen Charakter; alles, was gezeigt wird, hat eine zweite Ebene oder tiefere Bedeutung.

Als Kurzfilm kommt die Parabel meist ohne Worte aus, die Geschichte sollte allein durch das Agieren der Figuren verstanden werden können. Im Mittelpunkt steht die (meist) unethische Verhaltensweise einer oder mehrerer Figuren, die (meist) tragische Konsequenzen nach sich zieht. Durch dieses Negativbeispiel soll die Nützlichkeit moralischen Handelns unterstrichen werden.