image

image

Er hatte gesagt, er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Sie wartete lange, setzte sich ans Klavier, doch sein Schreibheft verwaiste auf dem Tisch.

Er, von dem sie immer noch ein Foto in der Tasche trägt. Er, den sie auf einer Seinebrücke kennengelernt hat, wo er Musik machte. Er, der sich mit Leib und Seele der Literatur verschrieben hatte, der erst keinen Verlag fand und dann international gefeiert wurde, mit dem sie zusammenlebte und Reisen in die USA unternahm, er fehlt. Für immer.

Wenig später ist Valentine mit einer Gruppe von Schauspielern auf Theatertournee. Abend für Abend spricht sie ihre paar Verse auf den Bühnen von Lausanne, Hamburg, Zürich, Wien, Bochum, München und anderswo. Das Leben in hundert Hotelzimmern befördert sie in einen Tunnel der Erinnerungen, wirft sie zurück in eine Zeit verrückten Glücks, das ihr unter den Händen zerbrach.

Marie Modiano verwebt in diesem autofiktionalen Roman das unbehauste Dasein einer jungen Künstlerin, die erstmals die Härten des Theaterbetriebs zu spüren bekommt, mit dem Widerhall einer frühen, tiefen Liebe. Aus Spiel, Traum und Wirklichkeit kristallisiert sich eine feinsinnige, nostalgiefreie Erzählung heraus – ein Abschied in jener Art, wie man einem Kometen hinterhersieht.

Marie Modiano

Ende der Spielzeit

Roman

Aus dem Französischen
von Gabriela Zehnder

image

Die Übersetzung dieses Buchs wurde von Pro Helvetia gefördert.

image

Die Übersetzerin und der Verlag bedanken sich dafür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur

mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel Lointain

bei den Editions Gallimard erschienen.

© 2017 Editions Gallimard, Paris

© 2018 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich

(für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

www.editionblau.ch

Lektorat: Daniela Koch

Umschlaggestaltung: Patrizia Grab

eISBN 978-3-85869-803-2

1. Auflage 2018

Ihr Dome ungesehn,
ihr Ströme unbelauscht,
ihr Uhren tief in uns.

PAUL CELAN
»Köln, Am Hof«
Sprachgitter, 1959

Inhalt

Lausanne

Oslo

Wien

Weimar

Bochum

Hamburg

München

Zürich

Paris

Rennes

Annecy

Edinburgh

Sie wusste nicht, wo der Ausgang war. Schon eine ganze Weile, eine halbe Stunde vielleicht, versuchte sie vergeblich, nach draußen zu gelangen. Der Kinokomplex erwies sich als riesiges Labyrinth, in seinen langen Korridoren hing Popcorngeruch. Es gab über vierzig Säle aller Größen, sie kam aus Saal 23, lange bevor der Film zu Ende war, ein amerikanischer Thriller, den sie brutal und langweilig gefunden hatte. Als sie auf der Rolltreppe nach unten fuhr, stellte sie sich plötzlich vor, sie stecke für immer an diesem seltsamen, seelenlosen Ort fest, sie könnte von einem Film zum anderen spazieren, und das Leben würde auf diese Weise ganz angenehm vergehen.

Sie wühlte in ihren Taschen und zog ein kleines Automatenfoto heraus, das war wohl sie selbst, und an ihrer Seite ein junger Mann, den sie nicht kannte oder dem sie zumindest noch nie begegnet zu sein glaubte. Seine Züge kamen ihr dennoch vertraut vor, auch wenn ihr kein Name dazu einfiel. Sie erinnerte sich undeutlich an etwas, ein Anklang an eine andere Zeit, die zweifellos unbeschwerter gewesen war als die jetzige. Das entlockte ihr ein Lächeln. Sie betrachtete ihr Gesicht auf dem Foto und fand, es habe etwas Kindliches: Die Aufnahme war vermutlich mehrere Jahre alt, und sie konnte sich nicht belügen und musste sich eingestehen, dass sie ganz schön gealtert war. Die beiden, die ihr weit entfernt, wie in einem Film erschienen, lachten und hatten eine übertriebene Pose eingenommen, als wollten sie ausdrücken, dass sie sich nicht ernst nahmen. Dieser Gedanke gefiel ihr, und sie steckte das Foto wieder in die Tasche, wobei sie sich sagte, dass sie gut aufpassen musste, es nicht zu verlieren.

Endlich war sie draußen, auf dem Gehsteig der Avenue des neuen, futuristischen Stadtviertels, das in ihr eher die Vorstellung von einer lateinamerikanischen Metropole auslöste. Es dämmerte schon, obwohl es erst fünf Uhr nachmittags war, doch bald kam der Winter, und sie trug jeden der kurzen Tage dieses Novembers wie eine schwere Last. In der Ferne hörte sie eine Polizeisirene, und noch eine … Wann würde dies endlich aufhören? Die Stadt befand sich wieder einmal im Alarmzustand, und die Luft war von einem beklemmenden, anhaltenden Echo erfüllt, von dem sie in der Nacht häufig geweckt wurde. Dann fuhr sie aus dem Schlaf hoch mit dem Gefühl, etwas Schlimmes getan zu haben, und wartete mit Grauen, dass man käme, sie zur Rechenschaft zu ziehen.

Sie ging schnell in der Kälte. Sie hatte jetzt das moderne Viertel hinter sich gelassen und näherte sich dem Zentrum. Am Seineufer zog sie wieder das winzige Foto aus der Tasche. Sie glaubte sich an die beiden Figuren zu erinnern, ohne jedoch überzeugt zu sein. Bruchstücke des Films, den sie eben gesehen hatte, gingen ihr durch den Kopf, sie versuchte sie zu vertreiben. »Was für ein idiotischer Film«, sagte sie sich, während sie dem Fluss folgte, das Gesicht im Wind. Sie blickte zum Himmel hinauf, der mit jeder Minute dunkler wurde, und fürchtete, es nicht vor dem Regen bis nach Hause zu schaffen. Er hatte ihr ins Ohr gemurmelt, er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, doch sie hatte noch im Halbschlaf gelegen und wusste nicht mehr, ob sie die Worte wirklich gehört oder nur geträumt hatte.

Er verschwand bisweilen für mehrere Wochen und tauchte dann plötzlich, ohne Ankündigung, wieder auf. Das versetzte sie beinahe ständig in einen seltsamen Zustand, eine Art banges Hoffen, das ihr nie wirklich Ruhe ließ. Das große sandfarbene Heft blieb offen auf dem Tisch des Zimmers liegen, er schrieb fast nie etwas hinein, nur gerade ein Wort oder einen Satz ab und zu, dann legte er den Füller hin, stand auf und ging einer anderen Beschäftigung nach, als wäre nichts gewesen. Sie hätte es nie gewagt, einen Blick auf die Seiten des großen Hefts zu werfen, und übrigens nicht einmal, es zu berühren.

Während sie Richtung Zentrum ging, dachte sie daran, wie sie damals an jenem Ort in den Bergen einen ganzen Tag lang zusammen auf den Zug gewartet hatten … Am Morgen war eine Lawine niedergegangen, und weiter unten im Tal waren die Schienen beschädigt. Um sich die Zeit zu vertreiben, dachten sie sich verschiedene Spiele aus, sie brachte ihm bei, wie man ein Cadavre Exquis zeichnete, und der Tag kam ihnen trotz der endlosen Wartezeit heiter und unterhaltsam vor. Es war schon dunkel, als sie in den Zug stiegen, und er machte sie auf den in diesem Moment leicht grünlich leuchtenden Mond aufmerksam. Sie sah ihn zum ersten Mal in dieser Farbe. Er riet ihr, ihn nicht zu lange zu fixieren, denn sie könnte davon Migräne bekommen. Sie waren im Morgengrauen am Bahnhof des Dorfs angekommen, wo man eine Sprache sprach, von der sie kein Wort verstand. Wo war es gewesen? Unmöglich, sich genau zu erinnern. Sie könnte ihn nachher fragen, doch sie war überzeugt, dass auch er es nicht mehr wusste. Er hatte gewöhnlich kein sehr gutes Gedächtnis und begnügte sich damit, höflich den Kopf zu schütteln, wenn sie versuchte, ihn an einen bestimmten gemeinsam verbrachten Moment zu erinnern.

Sie war jetzt nur noch ein paar Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt und wunderte sich über die Ruhe, die in den normalerweise so belebten Straßen herrschte. Plötzlich war sie überzeugt, dass er nicht nach Hause kommen würde, und sie sagte sich, dass sie wieder einmal allein wäre, um die Nacht zu betrachten. Sie nahm sich vor, Klavier zu spielen, denn sie hatte bemerkt, dass die Zeit nicht so lang erschien, wenn man sie mit einer Melodie ausfüllte.

Ja, sie würde Musik machen, während sie auf ihn wartete, und diese Vorstellung erleichterte sie, nahm eine Last von ihr, die sie nicht benennen und nicht einmal in ihren Gedanken ausmachen konnte. Sie fühlte sich plötzlich leichter, ohne wirklich zu begreifen warum.

Er kam nicht zurück an jenem Abend, und auch nicht an den folgenden Abenden. Das sandfarbene Heft lag immer noch offen auf dem Tisch, doch sie wandte jedes Mal den Blick ab, wenn sie daran vorbeiging. Die Abende waren einsam, sie legte sich oft auf das kleine Bett, starrte an die Decke und ließ die Gedanken über die Wände des Zimmers hinausschweifen. Oder sie setzte sich an den alten Bechstein und spielte mehrere Stunden hintereinander. Sie sagte sich: »Was soll’s, er kommt, wann er kommt. Vielleicht ist er ja irgendwo auf der Suche nach Inspiration? In den dubiosen Bars außerhalb der Stadt oder im großen Wald, wo man allerhand sonderbaren, exzentrischen und rastlosen Gestalten begegnet …« Sie hörte die eigenen Wörter in ihrem Inneren widerhallen und hatte Mühe, wirklich zu glauben, was sie gesagt hatte, ein wenig so, als versuchte sie beruhigend auf ein Kind einzureden, um die eigene Angst abzuwehren. Jede Nacht erwachte sie zur genau gleichen Zeit (um 4.37 Uhr) mit den folgenden Zeilen im Kopf:

Rot ist das Vergessen

Die Morgendämmerung hörte drei Schläge

Und der Vogel ist davongeflogen

Sie verstand die Bedeutung nicht. Sie zitterte beim Gedanken, dass sie die Sätze unabsichtlich im sandfarbenen Heft gelesen haben könnte. Doch sie beruhigte sich rasch wieder, denn sie achtete stets darauf, Abstand zu dem Tisch zu halten. An manchen Tagen ging sie gar nicht aus dem Haus, sie hatte nicht die Kraft, der Kälte zu trotzen, und sagte sich, es sei besser, sie bliebe daheim, falls er überraschend zurückkehren sollte. War es nicht freundlicher, sein Zuhause bewohnt statt verlassen anzutreffen? Sie öffnete den Schreibtisch und nahm die Briefe wieder hervor, die er ihr vor langer Zeit geschrieben hatte. Sie kannte sie alle auswendig und vergnügte sich damit, sie laut zu lesen, als würde sie einen Monolog oder ein Gedicht sprechen. Dann steckte sie die Blätter wieder sorgfältig in die Umschläge und legte alles zurück in die Schubladen.

Er hatte schon immer Schriftsteller werden wollen. Ganz jung schon hatte er sich dazu berufen gefühlt. Mit elf Jahren nahm er zum ersten Mal an einem Schreibwettbewerb teil, dem viele weitere folgten. Er ging häufig als Gewinner hervor. Sein Vater hatte sich einen Namen als Journalist gemacht, auch wenn er eigentlich lieber Romanschriftsteller hätte werden wollen, ein Traum, den Drogen und Alkohol vereitelt hatten. Er war 1987 tot im Zimmer eines Motels aufgefunden worden, mit einer Spritze im Arm. Jedes Mal, wenn er ihr das tragische Ende seines Vaters erzählte, erwähnte er, dass die Polizei hinten in seinem Auto ein Köfferchen mit Zeichnungen von ihm und seiner Schwester gefunden hatte, von denen er sich nie trennte. Er fürchtete sich so sehr, wie sein Vater zu enden, dass er nur einen Gedanken im Kopf hatte: so schnell wie möglich ein Buch zu veröffentlichen und endlich vom Schreiben zu leben.

Sie hatte eben einen Brief gelesen, den er ihr 1997 geschrieben hatte, als sie in London lebten, ein paar Wochen bevor sie erfuhren, dass sein Roman veröffentlicht würde. Da er knapp bei Kasse war, hatte er beschlossen, eine Zeit lang in die Staaten zurückzukehren, um Arbeit zu suchen, denn er besaß nur ein Touristenvisum für England.

Ich weiß, dass es nicht einfach gewesen ist, mit mir zusammenzuleben. Das hat natürlich seine Gründe, doch wie dem auch sei, ich neige dazu, ziemlich schwierig und kompliziert zu sein. Dafür bitte ich um Verzeihung. Du musst einfach verstehen, dass ich bald fünfundzwanzig bin und es ins Auge springt – zumindest in das eines neutralen Beobachters –, dass ich bis jetzt noch nichts zustande gebracht habe. Natürlich habe ich gearbeitet. Natürlich habe ich nun dieses Buch geschrieben. Und ja, ich habe bisher ein Leben geführt, von dem viele Leute ein Leben lang nur träumen können … Trotzdem habe ich das ungeheure Verlangen, etwas zu erreichen, das all die Anstrengungen, die ich unternommen habe, belohnen würde. Etwas Greifbares, Konkretes, das ich mit den Händen fassen könnte und das mir einen Beweis für meine Existenz liefern würde. Das alles war nicht so dramatisch, als ich jünger war. Wer erwartet schon, die Ambitionen seines Lebens mit neunzehn zu verwirklichen! Nein, es war nicht so dramatisch vorher, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, ein paar Jahre, in denen ich mich treiben ließ und in ein Meer von Erfahrungen eintauchte, wobei ich stets die Augen weit offen hielt und alles in »Dossiers« einordnete, um es beim Schreiben zu verwenden, später einmal. Doch irgendwann ist es an der Zeit, sich ernsthaft an die Arbeit zu machen. An der Zeit, seine Präsenz zu markieren, sein eigenes kleines Reich aufzubauen, etwas Solides zu schaffen, auf das man zurückgreifen kann. Und je älter ich werde, desto schlimmer wird es. Wenn mir morgen das Geld ausginge, wäre ich gezwungen, die gleiche miese Arbeit zu machen, die ich vor fünf Jahren gemacht habe. Ich bin vielleicht sensibler, spontaner, gewitzter als viele andere, und trotzdem kann ich fast nichts. Außer schreiben. Ich habe alles dem Schreiben geopfert. An dem Punkt, wo ich jetzt bin, bedeutet das alles oder nichts. Sonst lohnt es sich nicht. Sonst werde ich in die gleiche Lage kommen wie mein Vater, und ich habe nicht die geringste Lust, zu enden wie er. Das ist der Grund, weshalb ich wahrscheinlich ein bisschen verrückt und besessen wirke … zu dem Zeitpunkt, da die Leute meines Alters die Universität absolviert und sich in verschiedenen Gebieten spezialisiert haben, um sich auf das »wirkliche Leben« vorzubereiten (Blitz und Donner!). Ich habe meine ganze Energie daran gesetzt, mich in der gewählten Disziplin zu verbessern, einer vornehmen Disziplin, wie mir scheint. Doch auf der anderen Seite muss man realistisch sein, vorläufig hat mir das noch keinen Centime eingebracht. Ich wünsche mir so sehr, mit meiner Leidenschaft eines Tages mein Brot verdienen zu können … Ich weiß, du verstehst das alles, und ich sage es nur, weil mir klar ist, dass es aussieht, als sei mir der Sinn für Humor völlig abhandengekommen.

Fünfundzwanzig … Sie war jetzt zehn Jahre älter.

Sie rief sich alle Städte in Erinnerung, die sie gemeinsam durchquert hatten, die Billardlokale mit den klebrigen Fußböden, die düsteren Häuser, in denen sie Unterkunft fanden und auf alten Matratzen oder sogar auf dem Boden schliefen. Und Bernie, der es nicht lassen konnte, ihn ständig aufzuziehen: »Du schaffst es nicht, du schaffst es nicht …« Das ärgerte ihn so sehr, dass er die Stiefel auszog und über die Mauer der großen Villa kletterte, und dann gelang es ihm, ihnen von der anderen Seite her die Eingangstür zu öffnen. Alle Freunde von der Straße waren gekommen, sie machten ein Feuer im Marmorkamin des riesigen Salons mit den zahllosen Familienporträts an den Wänden. Bernie hatte seit mehr als einem Jahr nicht mehr unter einem Dach geschlafen und küsste ihm die Füße. Sie lachten, als sie im Schlafzimmer der Besitzer zwischen die pflaumenblauen Satinlaken schlüpften. Erinnerte er sich ebenso deutlich daran wie sie? Bestimmt nicht … Wenn sie heute einander gegenübersaßen, schien ihr, er habe keine Vergangenheit mehr, ja nicht einmal mehr eine Gegenwart, Erinnerungen und Gedächtnis hatten ihn verlassen, und er war zum Schatten seiner selbst geworden.

Das letzte Mal, da sie ihn vor etwa fünfzehn Jahren in den Staaten besuchte, gingen sie an einem eisigen Nachmittag Seite an Seite durch die 3. Straße zwischen der Avenue A und der Avenue B. Es war so kalt, dass sie die bloßen Finger nicht mehr bewegen konnte. Die Sonne ging schon unter, sie hatten seit dem Morgen nicht miteinander gesprochen. 3. Januar 1999. Sie begriff nicht, warum sie immer noch daran festhielten, Zeit miteinander zu verbringen. Sie hätten es ein für alle Male lassen sollen. Sie hätte nie diese lange Reise machen dürfen, nur um ihn auf diese Weise wiederzusehen und im Wind und in der Dunkelheit schweigend neben ihm herzugehen.

Seit ihrer Ankunft klingelte ständig sein Telefon. Er hatte sich mit mehreren Leuten angefreundet, einer hilfloser als der andere, im Viertel gab es genug junge Typen, die sich ziellos herumtrieben, die meisten Alkoholiker. Sie verbrachten fast jeden ihrer Abende damit, von einer Bar zur anderen zu ziehen, bevor sie in der Wohnung von irgendwelchen Leuten landeten, von denen sie nicht einmal den Namen kannte, um bis in die Morgenstunden weiterzutrinken. Da sie weniger Ausdauer hatte als er, langweilte sie sich bald. Er wirkte abwesend, außerhalb des Lebens, er trank zu viel und wiederholte ständig, er sei nicht mehr fähig zu schreiben. Wäre sie ein paar Jahre älter (sie war schließlich erst zwanzig) und etwas erfahrener gewesen, hätte sie vielleicht gewusst, was tun, gewusst, wie sie ihn von diesen Individuen hätte losreißen können, mit denen er nur seine Zeit verlor und sein Talent verschwendete.

Sie erinnerte sich wieder an die endlosen Diskussionen, die sie auf der Dachterrasse führten, wie sie in der Kälte Zigaretten rauchend immer wieder die gleichen Dinge durchgingen, im Hintergrund die Geräusche der Stadt. Sie fanden nie einen Ausweg, bis zum letzten Abend, als sie bei einem Film über die Invasion von Riesenfröschen in Australien, den Cane Toads, diesen denkwürdigen Lachanfall hatten. Am nächsten Tag verließ sie New York trotz der Hölle der letzten Wochen mit einem Stich im Herzen und bedauerte, die Abreise nicht um ein paar Tage verschoben zu haben.

Sie setzte sich ans Klavier, um sich die Zeit zu verkürzen. Sie spielte immer dieselben Stücke und empfand ein gewisses Vergnügen dabei, auch wenn sie an die Nachbarn denken musste, die aus Überdruss, zum x-ten Mal das Gleiche zu hören, die Nerven verlieren könnten. Insgeheim fühlte sie sich wie eine Schlangenbeschwörerin und dachte, er würde sie dort, wo er war, vielleicht spielen hören, und die vertrauten Melodien würden ihn schneller zurückkehren lassen.

Es klopfte an die Tür. Einen Augenblick lang glaubte sie, er sei es, doch als sie öffnete, stand sie dem Briefträger des Viertels gegenüber, der ihr ein ziemlich voluminöses Paket übergab. Sie unterschrieb ein Papier und kehrte mit dem Karton ins Zimmer zurück. Sie fragte sich, wer wohl der Absender sein mochte, sie kannte so wenig Menschen, jedes Jahr ein paar weniger. Sie würde warten, bis er zurück war, um den Karton zu öffnen, man konnte nie wissen, was er enthielt, vielleicht wollte ihr jemand einen Streich spielen, besser, sie war vorsichtig.

Vor langer Zeit, als sie einmal zusammen durch eine von Kastanienbäumen gesäumte Straße gingen, bemerkte sie weit hinter ihnen die Silhouette eines Mannes, der ihnen zu folgen schien. Als sie Richtung Fluss abbogen, schlug der Mann den gleichen Weg ein. Sie wagte ihm nicht zu sagen, was sie beobachtet hatte, da er in den Tagen zuvor ziemlich düsterer Stimmung gewesen war, und beschleunigte nur die Schritte, sodass sie den Mann abgeschüttelt hatten, als sie in die engen Straßen des Zentrums vordrangen. Sie hatte in jenem Moment eine unbestimmte Vorahnung, als ob das Ganze etwas bedeutete, doch sie vergaß den Vorfall rasch und dachte später nie mehr daran.

Nun, da sie die Tür hinter sich schloss, erinnerte sie sich unvermittelt an jenen dunstigen Tag, an dem ihnen jemand gefolgt war, und aus einem unerfindlichen Grund bildete sie sich ein, das Paket stamme von ihrem mysteriösen Verfolger. »Gewisse Vorfälle im Leben sind miteinander verbunden, auch wenn sie sich mit zeitlichem Abstand ereignen«, sagte sie sich, während sie das Paket vorsichtig am Fußende des Betts auf den Boden stellte.

Nachdem sie es lange betrachtet hatte, spürte sie ein merkwürdiges Kribbeln, das sie dazu trieb, das Packpapier mit einem Ruck zu zerreißen. Zum Vorschein kam eine weiße Schachtel, die sie gleich öffnete. Ein großes, in schwarzen Samt gebundenes Album lag darin, auf dem in Goldbuchstaben geschrieben stand: Tournee-Buch. Sie strich mit der Hand über die Seiten, die mit Aufzeichnungen gefüllt waren. Die Schrift war die eines Links-händers und glich der ihren. Städtenamen folgten aufeinander, die sie alle undeutlich an etwas erinnerten: Bilder aus einer Welt, die ihr nah und zugleich fern erschien. Sie hörte in ihrem Kopf plötzlich das Echo dieser Verse:

In Glut, in Tränen hab ich mich verzehrt,

Dies zeigte dir ein einz’ger Blick auf mich,

Wenn du den einz’gen Blick nur wolltest wagen.

Lausanne

Ein Teil der Proben und die ersten Vorstellungen finden in einem modernen Theater in Lausanne statt. Ich bin neunzehn.