Mila Summers

Irresistible Desire

 

 

 

Über das Buch:

Das Schicksal hat es mit Ivy bisher nicht besonders gut gemeint. Für ihr einziges Kind, ihren unehelichen Sohn Danny, würde die alleinerziehende Ivy jedoch alles geben. Als dieser plötzlich verschwindet, bricht für sie die Welt zusammen.

Damian ist der typische Einzelgänger, der seinen weichen Kern unter einer harten Schale zu verbergen versucht. Weil er nach einem einschneidenden Erlebnis für seine Kollegen in Chicago untragbar geworden ist, wird der Cop zwangsweise nach New York versetzt. Viel Zeit zum Auspacken bleibt ihm nicht, da er sofort mit dem neuesten Fall betraut wird: Fünf Kinder sind spurlos verschwunden.

Als sich ihre Lebenswege unverhofft kreuzen, glaubt noch keiner der beiden an die Macht der Liebe.

 

Über die Autorin:

Mila Summers, geboren 1984, lebt mit ihrem Mann und der kleinen Tochter in Würzburg. Sie studierte Europäische Ethnologie, Geschichte und Öffentliches Recht. Nach einer plötzlichen Eingebung in der Schwangerschaft schreibt sie nun dramatische und humorvolle Liebesromane mit Happy End und erfreut sich am regen Austausch mit ihren LeserInnen.

Bisher von der Autorin erschienen:

»Manhattan-Love-Stories«

Irresponsible desire (Band 1)

Irrepressible desire (Band 2)

 

»Tales of Chicago«–Reihe

Küss mich wach (Band 1)

Vom Glück geküsst (Band 2)

Ein Frosch zum Küssen (Band 3)

Küsse in luftiger Höhe (Band 4)

Zum Küssen verführt (Band 5)

 

Alle Teile sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Allerdings gibt es ein Wiedersehen mit den Protagonisten der vorhergehenden Bücher.

Weitere Bücher der Autorin:

Vielleicht klappt es ja morgen. Liebe in (wahlweise Hamburg, Leipzig, Wien oder Würzburg)

Rettung für die Liebe

Liebe lieber einzigartig

Schneegestöber (Charity-Buchprojekt für die Stiftung Bärenherz in Wiesbaden)

 

 

 

 

 

 

 

 

MILA

SUMMERS

 

 

Irresistible Desire

Roman

 

Band 3

 

Manhattan Love Stories

 











 


Deutsche Erstauflage Mai 2017

Copyright © Mila Summers

Lektorat und Korrektorat: Dorothea Kenneweg

Covergestaltung: Nadine Kapp

Covermotiv: Fotolia © Drobot Dean, © uliaymiro37046

 

Impressum: D. Hartung

Frankfurter Str. 22

97082 Würzburg

 

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

mila.summers@outlook.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Danksagung

Weitere Bücher der Autorin

 

Kapitel 1

 

Ivy

 

 

Wie ein Einbrecher schleiche ich mich mitten in der Nacht ins Haus. Meine Vermieterin, Mrs. Halligan, hört wie ein Luchs. Vorsichtig lasse ich die Haustür ins Schloss fallen. Sie knarzt und ächzt, als wenn sich das alte Holz über die nächtliche Ruhestörung beschweren würde.

Verstohlen blicke ich zur Wohnungstür von Mrs. Halligan und atme erleichtert auf, als diese noch immer geschlossen ist. Offensichtlich hat sie mich bisher nicht gehört. Könnte allerdings auch daran liegen, dass ich heute um einiges später nach Hause gekommen bin als sonst.

Eine Gruppe Biker hat sich im Diner in die Haare bekommen. Mein Chef Ross hatte alle Hände voll zu tun, die aufgebrachte Menge wieder unter Kontrolle zu bringen. Als nichts mehr ging, mussten wir die Cops rufen, die schließlich einen der Streithähne mit auf die Wache nahmen.

Obwohl ich Männer in Uniformen wirklich sexy finde, haben sich all die Befragungen lange hingezogen. Eigentlich wollte ich schon vor zwei Stunden wieder zu Hause sein, kurz bei Danny im Zimmer vorbeisehen und mich anschließend schlafen legen. Schließlich klingelt mein Wecker in fünf Stunden schon wieder.

Um über die Runden zu kommen, habe ich gleich mehrere Schichten im Diner übernommen. In New York als alleinerziehende Mutter zu überleben, ist schwierig, um nicht zu sagen: aussichtslos. Zumindest wenn man wie ich keine Hilfe zu erwarten hat. Es gibt nur Danny und mich.

Am liebsten würde ich sofort die Treppe hinaufrennen, aber ich kenne Mrs. Halligan nur zu gut. Wenn ich jetzt überhastet reagiere und mit meinen Sandalen auf dem Steinboden dieses laute Klackern verursache, wird sie doch noch ihren Kopf aus der Wohnungstür strecken und nach den letzten beiden Monatsmieten fragen.

Auch wenn ich wie ein Tier arbeite, heißt das noch lange nicht, dass ich im Geld schwimme. Danny ist seit letzten Herbst in der Schule. Er braucht Kleidung, Bücher, nächste Woche steht ein Ausflug an. Mir schwirrt der Kopf bei all den Ausgaben. Die Belastung scheint fast täglich zuzunehmen. Ich arbeite und arbeite und dennoch rinnt mir das Geld nur so durch die Finger.

Wenn ich wenigstens eine anständige Ausbildung hätte, dann könnte ich vielleicht in einem der vielen Büros in der Stadt als Sekretärin anfangen und wäre mittags und abends zu Hause, wenn mein Kleiner aus der Schule kommt und zu Bett geht.

Während ich die Riemchen meiner Schuhe öffne, übermannt mich mal wieder das schlechte Gewissen. Danny muss schon jetzt Dinge tun, die mir in seinem Alter meine Mom abgenommen hat. Der Junge bereitet sich nach der Schule oft selbstständig etwas zu essen zu und macht sich abends meist allein fertig.

Wenn ich an all die Zeit denke, die ich in dem beschissenen Diner hocke, während Danny zu Hause auf mich wartet, steigen mir die Tränen in die Augen. Das hat dieser kleine tapfere Junge wirklich nicht verdient.

Eigentlich müsste er traurig darüber sein, dass ich ihn so oft alleine lasse, müsste sich darüber beschweren. Doch das tut er nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er sich auch nur ein einziges Mal über unser Leben aufgeregt hätte.

Gott, ich weiß gar nicht, womit ich einen so tollen Jungen verdient habe. Vielleicht ist es der fortgeschrittenen Stunde geschuldet, aber nun rinnen mir doch einzelne Tränen über die Wangen. Ich werde sentimental. Für gewöhnlich habe ich mich besser im Griff. Vielleicht arbeite ich mittlerweile auch einfach zu viel. Meine Haut wird dünner. Auch ich bin keine zwanzig mehr.

Endlich sind meine Schuhe geöffnet und ich nehme sie in die Hände. Auf Zehenspitzen laufe ich über den kalten Steinboden und nähere mich der Holztreppe. Aus Angst, entdeckt zu werden, mache ich das Licht nicht an. Nur der über das Oberlicht hereinscheinende Vollmond erhellt den sonst so tristen Eingangsbereich des Hauses.

Der Putz bröckelt und die Kakerlaken und Ratten tummeln sich in jeder Ecke. In solch einem Loch habe ich noch nie gelebt. Aber ich bin dankbar dafür, dass Danny und ich ein Dach über dem Kopf haben. Es gab Zeiten, da habe ich mir nicht einmal das leisten können.

Doch ich will mich nicht beklagen. Es gibt weitaus schlimmere Fälle. Menschen, die auf Pappkartons in irgendeiner Gosse liegen, sich mit billigem Fusel die Welt schön saufen und nur noch vor sich hinvegetieren.

Wenn ich Danny nicht hätte, wäre ich sicher eine von ihnen. Mein Junge gibt mir die Kraft zu kämpfen, schenkt mir den Lebensgeist, den ich ohne ihn sicher längst schon nicht mehr hätte.

Als ich damals von meiner Schwangerschaft erfuhr, hatte ich mich umbringen wollen. Meine Mutter war erst vor einigen Monaten gestorben und ich stand plötzlich mittellos da. Dannys Vater hatte mich bereits verlassen und ich hatte keine Ahnung wie ich meinen Lebensunterhalt bestreiten, geschweige denn wie ich dazu noch ein Kind großziehen sollte.

Vorsichtig setze ich meinen nackten Fuß auf die Stufe, halte kurz inne und setze mein anderes Bein auf die nächste Stufe. Es dauert eine Weile, bis ich auf diese Weise die Treppe hinaufkomme. Aber die Querelen mit Mrs. Halligan ertrage ich um diese Zeit nicht mehr. Die Frau ist schlimmer als eine Grippe und Magen-Darm zur gleichen Zeit.

Ich habe ja nicht vor, meine Miete zu prellen, aber im Moment häufen sich wieder die Mahnungen. Strom, Gas und Telefon müssen bezahlt werden und Dannys kostspielige Arzneimittel reißen wegen der fehlenden Krankenversicherung monatlich ein immenses Loch in unsere Haushaltskasse.

Doch ohne die Medikamente würde es Danny wieder schlechter gehen. Das kann ich nicht verantworten. Nachdem der Lupus ihn bereits im Kleinkindalter mit Narben im Gesicht gezeichnet hat, als ich das nötige Geld nicht aufbringen konnte, habe ich mir geschworen, dass es nie wieder so weit kommen würde. Ich würde alles für mein Kind geben und wenn es mein letztes Hemd wäre. Danny ist mein Ein und Alles. Ohne ihn gäbe es keinen Sinn mehr in meinem Leben.

Als ich den Treppenabsatz beinahe erreiche, bin ich für einen Moment unaufmerksam. Das behäbig knarzende Holz unter meinem Fuß hallt durch das still vor mir liegende Haus.

Ich halte den Atem an und wage es nicht, mich zu bewegen. Gleich wird Mrs. Halligan das Licht anknipsen und mich mit ihren zu Schlitzen zusammengezogenen Augen missmutig beäugen.

Natürlich werde ich mich nicht ewig vor ihr verstecken können, aber irgendwann wird hoffentlich wieder ausreichend Geld da sein, um all die erdrückenden Rechnungen bezahlen zu können. Meine Schufterei muss sich doch irgendwann auszahlen. Noch habe ich die Hoffnung. Noch will ich nicht aufgeben. Für Danny und irgendwie auch für mich.

»Ivy Parker«, hallt es wie ein Donnergrollen durch den Flur, während das grelle Licht der Neonröhre über mir mich für einen Moment nichts sehen lässt.

Bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt haben, dauert es eine gefühlte Ewigkeit. Es behagt mir nicht, den Hausdrachen in meinem Rücken zu haben und hilflos auf mein Schicksal warten zu müssen.

»Mrs. Halligan«, erwidere ich mit wild schlagendem Herzen.

Wenn einen diese Frau in der Mangel hat, dann gibt sie einen nur widerwillig wieder frei. Ich atme einmal tief durch, ehe ich mich auf dem Absatz umdrehe und mich der Situation stelle.

»Die nächste Miete ist fällig und die beiden vorangegangenen Zahlungen sind ebenfalls noch nicht bei mir eingegangen. Wenn du mir jetzt wieder die Story vom verloren gegangenen Scheck auftischen willst, dann spar es dir besser. Es ist viel zu spät, als dass ich mich mit derlei Lügen abfinden würde.«

Als ich die untersetzte ältere Dame in ihrem rosafarbenen Morgenmantel erblicke, schwinden mir alle Kräfte. Ich weiß nicht, was ich ihr noch sagen soll, womit ich sie besänftigen könnte.

Immer dreht sich alles um dieses verdammte Geld. Jeder hält die Hand auf und erwartet von mir, dass ich ihm etwas dort hineinlege. Ich bin müde, wünsche mir endlich etwas Ruhe und Schlaf. In kaum fünf Stunden muss ich wieder aufstehen und zur Arbeit gehen.

Wie eine Verrückte rackere ich mich ab, versuche alle Gläubiger zu bedienen und dennoch finde ich mich an jedem Monatsersten mit der gleichen beschissenen Lage konfrontiert. Egal, was ich mache, ich komme einfach nicht aus diesem verdammten Hamsterrad heraus, in das ich mich selbst sicher nie gesetzt hätte.

»Mrs. Halligan, mein Junge braucht Kleidung und Essen. Ich arbeite mittlerweile in zwei Schichten, um unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Sie bekommen Ihre Miete. Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Ich verspreche Ihnen, dass …«

Ich lege meine letzte Kraft in meine Worte und werde jäh von meiner Vermieterin unterbrochen. »Kindchen, man sollte sich Nachwuchs nur anschaffen, wenn man in der Lage ist, dafür zu sorgen. Dein kranker Junge ist sicher ein Grund dafür, dass es dir heute so schlecht geht. Hättest du ihn nicht, dann …«

Nun bin ich diejenige, die meiner Vermieterin unwirsch ins Wort fällt. »Ich werde mich sicher nicht mit Ihnen darüber unterhalten, was wäre, wenn es mein Kind nicht gäbe. Meine Nacht ist kurz. Ich werde jetzt nach oben gehen, Danny einen Kuss auf die Wange geben und mich hinlegen. Sie kriegen Ihr Geld schon. Bisher haben Sie immer einen Scheck bekommen. In wenigen Tagen sollte mein Gehalt die nächsten Löcher stopfen können und der Punkt Miete steht dabei ganz weit oben. Zufrieden?«

Ich gebe mich tough, doch in Wirklichkeit geht mir der Arsch auf Grundeis. Bisher habe ich Mrs. Halligan noch nie die Stirn geboten. Doch vielleicht ist gerade das mal notwendig.

»Das hört sich doch nach einem vernünftigen Plan an«, höre ich sie plötzlich mildere Töne anschlagen, während ich erleichtert ausatme. Für den Moment bin ich noch mal davongekommen.

Während sie den Gürtel ihres Morgenmantels enger zieht, nicke ich ihr dankend zu. Ohne ein weiteres Wort verschwindet sie wieder in ihrer Wohnung. Das Licht im Hausgang erlischt und ich verharre noch immer an Ort und Stelle. Schließlich setze ich wieder ein Bein vor das andere und kämpfe mich im Dunkeln in das zweite Obergeschoss vor.

Ich knipse das Licht im Flur an und stolpere fast über Dannys Schultasche. Alle Hefte liegen verstreut auf dem Boden. In der Wohnung herrscht Chaos.

Die wahllos umherliegenden Schulsachen machen mich stutzig. Mit wild klopfendem Herzen nähere ich mich seinem Kinderzimmer, lege meine Hand auf die kalte Klinke und drücke sie schließlich hinunter. Der Mond scheint grell in Dannys Zimmer und erhellt das Bett. Es ist leer.

Kapitel 2

 

Prudence

 

 

Hochzeitstorten sind meine absoluten Lieblinge. Ich liebe es, aus Marzipan und Dekormasse kleine Schmetterlinge, Rosen und Tauben zu formen. Während ich mich dieser filigranen Arbeit widme, vergesse ich alles um mich herum und bin wie in einer rosaroten, mintgrünen und eierschalenfarbenen Welt gefangen.

Seit Hope sich dazu entschlossen hat, unser Sortiment um den Klassiker schlechthin zu ergänzen, arbeite ich viel, schlafe wenig und esse selten bis nie. Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Aber ich spüre, dass ich endlich angekommen bin, dass ich das, was ich mache, mit Leidenschaft und Herzblut mache.

Zwei mehrstöckige Torten für ein Wochenende sind dennoch eine Herausforderung. Aber mit etwas Vorarbeit würde es schon irgendwie hinhauen. Während ich mir die Bilder, die ich mit den Brautleuten gezeichnet habe, ein letztes Mal ansehe und meine Vorräte ein weiteres Mal checke, kommt Hope in die Backstube.

»Hey, Schwesterherz, wie sieht es aus? Kannst du noch ein Blech deiner Minizimtschnecken backen und vielleicht zwei bis drei der kleinen Schokocroissants, die nur du so einzigartig schokoladig und knusprig hinbekommst?«

Ich stemme meine Hände in die Hüften und blicke Hope vorwurfsvoll an. »Hope, das hatten wir doch jetzt schon so oft. Ich kann neben den vielen Hochzeitsarrangements, nicht noch das tägliche Geschäft mitbedienen. Was ist denn mit Annie, Roberta und Mr. Wang? Warum hast du ihnen heute früher freigegeben?«

Hope seufzt herzerweichend und meine schroffen Worte tun mir schon wieder leid.

»Die letzten Tage war ab achtzehn Uhr kaum mehr ein Gast im Laden. Ich wollte unseren Mitarbeitern auf diese Weise einfach mal zeigen, wie dankbar ich für ihre Hilfe bin. Sie leisten weit mehr, als man das in einem gewöhnlichen Job tut. Sie schieben Überstunden ohne Ende und beschweren sich nicht, wenn ich sie sogar an ihrem freien Tag anrufe.«

Ich klopfe den Mehlstaub von meiner honigfarbenen Schürze, während ich in Gedanken die Zutaten Revue passieren lasse, die ich eben gesichtet habe.

»Also, wenn es unbedingt sein muss, dann schmeiß’ ich den Ofen halt noch mal an. Aber damit wir uns richtig verstehen: Ich werde das nicht ständig machen, Hope. Ich bin mit den Auftragstorten für Hochzeiten und Geburtstage mehr als ausgelastet und ich liebe meine Feierabende mit Bradley auf der Couch.«

Hope hebt abwehrend ihre Hände. »Bitte keine Details.«

»Hättest du wohl gerne«, gebe ich ihr schnippischer zur Antwort, als ich es eigentlich möchte.

Doch Hope lacht. »Ich weiß gar nicht, was heute los ist. Der Laden ist voll. Kein einziger Platz ist mehr frei. Für gewöhnlich gehen die Leute an einem Freitagabend doch Cocktails trinken und nicht Schokocroissants essen.«

»Tja, seit ich in der Stadt bin, weht ein anderer Wind, Schätzchen. Das Delicious and Refreshing ist mittlerweile ein Trendsetter. Wer in sein will, ist hier und nicht in irgendeiner schäbigen Kneipe. Die Dinge ändern sich eben.«

Hope gluckst jetzt vor Lachen. »Ich hätte es wirklich nie für möglich gehalten, dass du irgendwann so eine selbstbewusste junge Frau werden würdest.«

Ihre Stimme kippt und sie legt sich verlegen eine Hand vor den Mund.

»Hope, du weißt, wie schlecht ich mit Tränen umgehen kann.«

»Wer weint denn hier? Ich habe Heuschnupfen. Dieses Frühjahr fängt es früher an als sonst«, widerspricht mir meine Schwester, während sie sich verstohlen die Tränen aus den Augenwinkeln wischt.

Ich befülle derweil den Blätterteig mit Schokolade und streue ein wenig Zimt darüber, dann wickle ich die Masse in die Croissantform und lege sie auf das gefettete Backblech.

»Ach, bevor ich es vergesse …«

»Was kommt nun? Brauchst du noch einen Chocolate Fudge und einen Carrot Cake bis neunzehn Uhr? Wenn das so sein sollte, dann schicke liebe eine Eule nach Hogwarts, denn zaubern kann ich definitiv nicht.«

Ich streue die kleinen Schokoperlen über meine Croissants und schiebe sie anschließend in den Ofen. Jeder Handgriff sitzt perfekt. Ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man mehr als zehn Stunden täglich in diesem Raum zubringt. Aber ich mache es gerne und Bradley versteht mich.

Auch wenn er der Meinung ist, wir beide müssten dringend mal wieder Urlaub machen und von allem etwas Abstand bekommen, kann er sich gut in mich hineinfühlen und respektiert meinen Wunsch, mich endlich beruflich verwirklichen zu können.

Noch vor einem Jahr hätte ich es mir nicht träumen lassen, je auf eigenen Beinen zu stehen. Mein Vater hat meine Schwester und mich von Kindesbeinen an tyrannisiert und gedemütigt und mich seinen perversen Freunden ausgeliefert. Erst als er wegen seiner korrupten Geschäfte in den Knast musste, konnten wir aufatmen.

»Nein, keine Sorge, ich habe keine weiteren Hiobsbotschaften für dich. Bill hat sich angekündigt. Er wollte kurz mit uns beiden reden, darum habe ich vorgeschlagen, er solle doch im Laden vorbeikommen.«

Ich schiebe das Blech in den Ofen und schaue meine Schwester dann fragend an.

»Hast du eine Idee, worüber Michelles Mann mit uns sprechen möchte? Findest du es nicht eigenartig, dass er dazu extra im Café vorbeikommt?«

Hope zuckt mit den Schultern, während sie zu mir läuft, die Klappe des Backofens öffnet und den Geruch aus Schokolade und Zimt fest in ihre Lungen inhaliert.

»Lass das!«, sage ich, während ich ihr mit einem Küchentuch auf die Finger klopfe.

»Aua. Das tat weh«, jammert meine Schwester.

»Das sollte es auch. Du hast dir schon mehr als einmal die Finger verbrannt, weil du die heißen Croissants aus dem Ofen stibitzt hast.« Mit zusammengekniffenen Augen beäuge ich meine Schwester, während ich abermals meine Hände in die Seiten stemme. »Sag mal, gibt es da draußen überhaupt jemanden, der auf diese Schokocroissants wartet?«

»Erwischt«, kommt es meiner Schwester mit einem verlegenen Lächeln über die Lippen.

»Das ist doch …«

»… die beste Anerkennung, die ein Meister seines Fachs nur bekommen kann. Richtig?«

Jetzt muss auch ich grinsen. »Okay, ich verzeihe dir noch mal. Aber wenn du mir das nächste Mal zwei dreistöckige Hochzeitstorten an einem Wochenende aufs Auge drücken willst, dann erinnere dich an diesen Moment.«

»Wieso denn? Du packst das doch mit links.«

Während Hope mal wieder nicht auf mich hören kann und das viel zu heiße süße Teilchen vom Backblech fischt, jäh aufschreit, es zu Boden fallen lässt und zum Waschbecken eilt, um ihre verbrannten Finger zu kühlen, atme ich mehrmals tief ein und aus.

»Hier seid ihr«, unterbricht uns Bill, dessen Kopf aus heiterem Himmel in der Tür zur Backstube auftaucht.

Unser Gespräch verstummt, als wir beide zu dem Cop schauen, der heute sogar in Uniform bei uns aufmarschiert. Auch wenn es nichts zu bedeuten hat, schleudert mich allein schon der Anblick seiner Kleidung zurück in eine Zeit, die ich seit Längerem aufzuarbeiten versuche.

Nachdem die Therapiestunden bei den renommiertesten Psychologen dieser Stadt erfolglos waren, habe ich mich nun dazu entschlossen, mit etwas Hypnose Licht in das Dunkel in meinem Inneren zu bringen. Noch immer fehlt mir die Erinnerung daran, wie ich als Kind verschleppt und missbraucht worden bin.

Auch wenn ich es nicht will und Bill mittlerweile gut kenne, zucke ich zusammen und weiche einen Schritt zurück. Er scheint es zu bemerken und erhebt abwehrend die Hände in die Höhe.

»Wenn ich ungelegen komme, dann sagt es ruhig.«

»Nein, du kommst doch nicht ungelegen«, meint Hope neben mir, schnappt sich noch eines der Schokocroissants und eilt zu Bill. »Bist du direkt von der Wache zu uns gekommen?«, fragt sie schließlich, als sie den Schaft seiner Pistole in der Halterung entdeckt.

»Ja, es bot sich an, gleich vorbeizukommen. Außerdem duldet die Sache keinen Aufschub.«

Dankbar nimmt er das süße Teilchen entgegen, beißt herzhaft hinein, sodass der flüssige Kern der Schokolade seitlich an seinem Bart hinuntertropft. »Prudence, diese Croissants sind wirklich unglaublich. Ich wusste gar nicht, dass ihr so spät abends noch aufbackt.«

Mit hochgezogener Augenbraue schaut Bill mich an, während er den Rest des Hörnchens in einem Bissen hinunterschluckt. Eigentlich sollte man meine Backwaren nicht so herunterschlingen, sondern sie genießen. Ich halte Bill zugute, dass er hungrig von der Arbeit kommt. Auch über den Schokoladenfilm in seinen graumelierten Bartstoppeln verliere ich kein Wort.

»Ich auch nicht«, antworte ich zähneknirschend, während mein Blick auf Hope fällt.

Diese lenkt ab. »Bill, du hast da noch Schokolade im Gesicht hängen. Hier nimm das Tuch.« Sie tränkt ein Küchentuch mit Wasser und reicht es ihm.

»Oh, danke dir. Nun, ich bin ja nicht zum Essen gekommen, sondern weil ich euch etwas Wichtiges mitteilen muss.«

Hope und ich sehen uns irritiert an. Bills Stimme klingt plötzlich so dienstlich. Ganz so, als hätte sein Anliegen etwas mit seinem Job zu tun. Mir stockt der Atem bei der Vorstellung. Auf neue Erkenntnisse zu meinem Fall bin ich nicht vorbereitet. Ich spüre, wie mein Herz immer lauter schlägt und ein dröhnendes Rauschen in meinen Ohren einsetzt.

»Willst du dich nicht hinsetzen?«, bietet Hope Bill an und schiebt ihm einen der ausrangierten Barhocker hin, die wir im Café aussortiert haben.

»Nein, danke. Ich werde nicht lange brauchen.« Bills Stimme klingt fest und dennoch spüre ich, dass auch er aufgeregt ist. Er blickt von Hope zu mir, ehe er sich schließlich ein Herz fasst. »Ich mache es kurz: Euer Vater liegt im Sterben und bittet darum, euch noch ein letztes Mal sehen zu dürfen.«

Bei Bills Worten werden meine Beine ganz weich. Ich stütze mich an der Kante des Tisches vor mir ab, um nicht umzukippen.

»Er will, dass wir ihn besuchen?« Hope findet von uns beiden als Erste zurück zu ihrer Sprache. Im Gegensatz zu mir wirkt sie jedoch gefasst, während alles in ihrer Haltung von ihrem Widerwillen zeugt, auf diese Bitte einzugehen.

»Ja, so ist es«, bestätigt Bill seine Aussage.

»Eher gefriert die Hölle«, erwidert Hope nun gänzlich angewidert, während ihr Gesicht den Ekel widerspiegelt, den allein die Vorstellung auch in mir hervorruft.

»Das dachte ich mir schon«, sagt Bill, während er wieder zwischen uns beiden hin und her sieht. »Ich wäre auch nicht gekommen, wenn er nicht gesagt hätte, dass er euch noch etwas Wichtiges sagen wolle. Wenn ein Mensch spürt, dass es mit ihm zu Ende geht, dann hat er oft das Bedürfnis, sein Gewissen zu erleichtern.«

Hope verzieht ihre Stirn in Falten und scheint zu überlegen, was das sein könnte. Die Gedanken in meinem Kopf fahren derweil Achterbahn, überschlagen sich immer wieder und finden doch keine Erklärung für das Verhalten unseres Erzeugers.

»Wenn er sich für unsere beschissene Kindheit entschuldigen und uns um Verzeihung bitten möchte, dann ist er bei uns an der falschen Adresse«, wettert Hope mit vor der Brust verschränkten Armen.

Ihre Augen entsenden ganze Feuersbrünste, während ich noch immer geschockt über Bills Nachricht bin. Was will unser Vater nur von uns? Warum will er uns sehen? Was hat er vor?

»Die Entscheidung liegt natürlich ganz bei euch. Wenn ihr ihn nicht mehr sehen wollt, dann werde ich ihm das über meine Kollegen ausrichten lassen. Allerdings würde ich mich an eurer Stelle wohl immer fragen, was er denn noch hatte sagen wollen.« Er hält kurz inne, schaut uns tief in die Augen. »Versteht mich bitte nicht falsch. Ich möchte euch keine Vorschriften machen, was ihr zu tun oder zu lassen habt. Ich möchte euch nur darauf hinweisen, dass unter Umständen eine Zeit kommt, in der ihr eure Entscheidung von heute bereuen werdet.«

Hopes Gesichtszüge werden milder, während ich noch immer nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Ich lege meine Hand an die Stirn, wie um meine darin durcheinandergeratenen Gedanken zu ordnen.

»Wahrscheinlich hast du recht«, höre ich Hope plötzlich ganz ruhig sagen. »Wir sollten uns anhören, was er zu sagen hat«, meint sie schließlich in meine Richtung.

»Aber ich weiß überhaupt nicht, ob ich das schaffe. Ich versuche gerade etwas Gras über die Vergangenheit wachsen zu lassen und mich auf die Zukunft zu konzentrieren. Bisher sind nur einige zarte Grashalme aus diesem Vorhaben erwachsen, doch ich bin zuversichtlich, dass es mehr werden. Wenn ich mich allerdings wieder diesem Dämon gegenüberstehen sehe, dann weiß ich nicht, wie gut mir das bekommen wird. Ich kann einfach nicht …«

Als mir die ersten Tränen über die Wange laufen, beginnen auch meine Hände zu zittern. Mein Körper reagiert seit einiger Zeit viel intensiver auf die Bilder aus meiner Kindheit. Die Psychologen meinten, es fehlte nicht viel, bis alles an die Oberfläche käme. Aber will ich das überhaupt? Will ich neben den Erinnerungen, die mich ohnehin schon peinigen, auch noch neue ansammeln, die sich irgendwo in meinem Inneren gut verstecken und gegen das grelle Tageslicht abschirmen?

Hope sieht mich mitleidig an, während Bill sich ein Loch im Boden wünscht, durch das er ungesehen verschwinden kann. Ihm ist deutlich anzusehen, dass ihm die Situation nicht behagt.

»Prudence, ich werde nichts gegen deinen Willen tun und wenn du mich nicht ins Gefängnis begleiten möchtest, dann ist das auch vollkommen in Ordnung für mich. Aber ich finde, Bill hat recht. Ich möchte mich nicht irgendwann fragen müssen, welches Geheimnis Richard Cavanaugh mit ins Grab genommen hat.«

Ich hadere mit mir und weiß doch, dass ich mich der Sache stellen muss. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es schaffen soll.

Kapitel 3

 

Ivy

 

 

Schweißgebadet wache ich auf, als das unnachgiebige Dröhnen des Weckers kein Erbarmen mit mir hat. Ich blinzle gegen die zaghaft ins Zimmer scheinenden Sonnenstrahlen an und wische mir über die tropfnasse Stirn.

Die gestrige Nacht ist mit nichts zu vergleichen, was ich bisher im Leben durchstehen musste. Danny lag nicht, wie sonst immer, in seinem Bett, als ich nach Hause kam. Panik kam in mir auf, als ich ihn auch im Rest der Wohnung einfach nicht finden konnte.

Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit bin ich schreiend durch unsere Wohnung gerannt, habe immer wieder nach ihm gerufen. Doch leider ohne Erfolg. Danny war nicht da. Er spielte mir keinen Kleinejungenstreich, versteckte sich auch nicht im Bettkasten des ausziehbaren Sofas, auf dem ich für gewöhnlich im Wohnzimmer schlief. Danny blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Während die Angst mich bereits zu übermannen drohte, versuchte ich mich zu konzentrieren. Wo konnte Danny nur sein? Er würde nie einfach so das Haus verlassen. Schon gar nicht über Nacht. So kannte ich mein Kind nicht. Ob er wohl einem Verbrechen zum Opfer gefallen war? Ich schlug mir schluchzend die Hand vor den Mund, während mir die Tränen wie Gebirgsbäche über die Wangen liefen.

In meiner Fantasie sah ich ihn irgendwo im Straßengraben liegen, überfahren von einem angetrunkenen Autofahrer oder erschossen von einem der Jungs aus den vielen Gangs, die in unserem Viertel hausieren. Aber Danny weiß doch, dass er gleich nach der Schule auf direktem Weg nach Hause gehen muss. Wie oft habe ich ihm eingebläut, wie wichtig das ist?

Wie eine Furie bin ich umhergeirrt, bis ich mir schließlich die Autoschlüssel meines alten Fords geschnappt habe, um zurück auf die Straße zu gehen. Verwandte haben wir keine mehr und Dannys Freunde kenne ich zu meinem Leidwesen nicht wirklich. Ich habe nicht mal die Telefonnummern der Eltern für den Ernstfall. Für den Ernstfall, der nun so unverhofft über mich hereingebrochen war.

Hastig zog ich mir den dünnen Mantel über. Die Nächte waren noch immer recht kalt. Kopflos stürmte ich zur Tür, riss sie auf, nur um im letzten Augenblick zu bemerken, dass ich meinen Hausschlüssel nicht mitgenommen hatte. Außerdem stand ich barfuß da.

Ich griff nach dem Schälchen, angelte mir den Schlüssel und schlüpfte in die alten Sneakers, deren beste Tage bereits lange vorbei waren. Die Wohnungstür stand derweil sperrangelweit offen und ragte weit in den beleuchteten, kleinen Flur. Da fiel mir etwas ins Auge.

Es war ein kleiner Zettel, der mir bei meiner Ankunft gar nicht aufgefallen war. Dabei hob sich das leuchtend gelbe Post-it eindeutig von der weißen Tür ab. Vorhin war ich wohl zu müde oder zu erleichtert darüber gewesen, Mrs. Halligan noch einmal davon gekommen zu sein, dass ich es nicht bemerkt hatte.

Eilig stürmte ich auf den Hoffnungsschimmer zu, der sich mir in Gestalt eines kleinen quadratischen Heftzettels präsentierte. Immer und immer wieder überflog ich die wenigen Zeilen und bei jedem weiteren Mal fielen mir zentnerschwere Steine vom Herzen.

Danny war bei Joseph, unserem Nachbarn. Für gewöhnlich verbringt mein Junge bei dem älteren Mann, der für ihn schnell eine Art Opaersatz geworden ist, ab und an seine Nachmittage, doch übernachtet hat er bisher noch nie bei ihm. Trotz der vorangeschrittenen Uhrzeit klopfte ich nebenan bei Joseph, um mein Kind zurückzuholen.

Anfangs berührten meine Fingerkuppen nur ganz zaghaft die Tür zu Josephs Wohnung. Als ich auch auf mein zweites Klopfen keine Antwort erhielt, hämmerte ich irgendwann regelrecht dagegen. Joseph hat ein Hörgerät, das er über Nacht offensichtlich ausschaltet. Während ich bereits mit mir haderte, ob ich die Tür einschlagen oder einfach wieder zurück in meine Wohnung gehen sollte, öffnete sich diese unverhofft einen Spaltbreit.

»Ivy?«, rief Joseph verschlafen, wie wenn er einen Geist vor sich stehen sehen würde. Verlegen umschloss er die beiden Hälften des Morgenmantels, zu dem er offenbar auf die Schnelle den Gürtel nicht hatte finden können.

»Hey, Joseph, ist Danny bei dir?«, fragte ich ihn unumwunden, während ich den kleinen Zettel wie als Beweis ein Stück nach oben hielt.

Joseph sah zurück in die Wohnung, trat dann schließlich einen Schritt nach draußen und lehnte die Tür an. »Danny kam gegen einundzwanzig Uhr ganz verstört zu mir rüber gerannt. Als ich ihn fragte, was denn los sei, meinte er, in seinem Schrank wohne ein Ungeheuer.«

Mein Herz wurde mir bei Josephs Worten plötzlich wieder unglaublich schwer. Gerade hatte ich mich noch darüber gefreut, dass es meinem Jungen gut ging, und nun musste ich mich wieder unverwandt der Realität stellen: Danny hätte mich gebraucht, doch ich hatte mal wieder bis in die Nacht arbeiten müssen, anstatt mich um ihn zu kümmern. Mein schlechtes Gewissen schwoll allmählich dermaßen an, dass ich es auch bei der Arbeit kaum schaffte, das fröhliche Lächeln einer unbeschwerten Kellnerin aufzusetzen, die immer einen coolen Spruch auf den Lippen hatte und sich besonders angeregt mit den Stammgästen unterhielt.

Ich ließ die Hände resigniert zu Boden gleiten, während sich einzelne Tränen in meinen Augenwinkeln bildeten. Doch ich schluckte sie hinunter. »Kann ich ihn sehen? Ich möchte ihn nach Hause holen«, bat ich schließlich.

»Ivy, du weißt, wie sehr ich den Kleinen liebe und wie sehr ich das, was du tust anerkenne. Ich verstehe gut, dass du bis in die Nacht schuften musst, um für euch beide den Lebensunterhalt zu verdienen, und ich kümmere mich wirklich gerne um Danny. Er ist so ein liebenswürdiges Kind. Nicht so ein Holzkopf wie die meisten in seinem Alter. Wenn Danny die Schule durchzieht, dann könnte ich mir durchaus vorstellen, dass er aufs College geht und Karriere macht. Aber …« Gerade noch hatte Josephs Gesicht gestrahlt, als er von Danny erzählte. Nun lag ein dunkler Schatten darauf. Es fiel ihm offenkundig sehr schwer, das auszusprechen, was ihm auf dem Herzen lag.

»Was wolltest du mir sagen?«, griff ich beherzt ein, um ihn zu ermuntern weiterzusprechen.

»Ich bin gerne für Danny da. Du weißt ja, ich bin Kriegsveteran, meines Lebens müde und freue mich über jedwede Abwechslung, seit meine Frau Emma gestorben ist. Aber all die Zeit, die ich mit dem Kleinen verbringe, wird nie die fehlende Zeit mit dir kompensieren können. Er braucht seine Mom, Ivy.«

Mit diesen Worten im Kopf wache ich an diesem Morgen auf. Er braucht seine Mom, hallt es immer wieder wie ein Mantra durch meine Gehirnwindungen. Ich gebe Joseph ja recht, allerdings fehlen mir die Alternativen. Wenn man in diesem Land auf ehrliche Weise sein Geld verdienen möchte und keinen Collegeabschluss hat, dann muss man sehen, wo man bleibt.

Ich habe kein besonderes Talent, bin nicht besonders groß oder außergewöhnlich schön. Gut, die dunklen Ringe unter meinen Augen und der fahle Teint wären sicher schnell verschwunden, wenn ich nicht mehr so viel arbeiten würde. Früher war ich eigentlich ganz ansehnlich gewesen. Mit meinen schulterlangen braunen Haaren und den braunen Rehaugen hab ich bisher schon einige Männer um den Finger gewickelt.

Aber auch davon kann ich mir nichts kaufen. Zumindest nichts, was sich anschließend in unserem Kühlschrank wiederfindet oder die Miete bezahlt. Auch wenn ich vollends einer Meinung mit Joseph bin, kann ich dennoch nichts an meiner Lage verändern. Es ist wirklich wie verhext. Egal, was ich mache, irgendwas kommt immer zu kurz.

Doch mein Junge soll nicht darunter leiden. Vielleicht finde ich ja doch einen Ausweg. Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann. Ich kneife die Augen fest zusammen, setze mich aufrecht hin und überlege, wie viel Zeit mir noch bleibt, bis ich wieder zur Arbeit muss.

Auf leisen Sohlen schleiche ich mich in die Küche und backe für Danny ein paar Pancakes. Leider bin ich schon einige Tage nicht mehr dazu gekommen, einkaufen zu gehen. In Ermangelung der Blaubeeren, die er so sehr liebt, übergieße ich den Stapel anschließend mit ausreichend Ahornsirup, schließlich ist das seine zweitliebste Beigabe zu Pancakes.

»Mom?«, ruft Danny aus seinem Zimmer und ich eile zu ihm.

»Ja, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?«, frage ich, während ich die Vorhänge zur Seite schiebe und etwas Licht in sein kleines Zimmer lasse. Seine Hefte, die gestern unordentlich im Flur lagen, habe ich ihm auf den Schreibtisch gelegt. Offensichtlich ist er gestern bei seiner überstürzten Flucht vor dem Monster gegen die Tasche gestoßen.

»Ja, das habe ich.« Ich eile zu Danny, setze mich auf seinen Bettrand und streiche ihm über das dunkle satte Haar.

Plötzlich schaut er betrübt zu Boden. »Entschuldige, Mom, dass ich gestern Abend zu Joseph gegangen bin. Vielleicht bin ich ja doch nicht der tapfere Mann im Haus, für den du mich immer hältst.«

Mein Herz wird mir schwer, als ich erkenne, wie diese so harmlose und lieb gemeinte Phrase zur Bürde mutiert. Auch wenn sich Danny bei vielem, was er tut, viel reifer zeigt, heißt das noch lange nicht, dass er kein Kind sein darf. Kinder haben Angst vor Monstern, die unter dem Bett lungern oder in den Schränken ein- und ausgehen. Das ist etwas ganz Natürliches.

Voller Wehmut denke ich an meine eigene Kindheit zurück. Wie oft bin ich damals zu Mom unter die Bettdecke gekrochen? Besonders schlimm sind für mich die Gewitter gewesen. Ein Donnergrollen und ich wetzte, so schnell mich meine Beine tragen konnten, zu meiner Mutter ins Schlafzimmer. Sie hat mir dann immer etwas Platz im Bett gemacht, mich eng an sich gezogen und mir versichert, dass alles wieder gut werden würde.

Warum kann ich das nicht auch für Danny tun? »Schatz, es gibt überhaupt nichts, wofür du dich schämen müsstest. Ich wache heute noch manchmal mitten in der Nacht auf und bilde mir ein, etwas in meinem Schrank zu hören. Und ich bin um einiges älter als du.« Ich versuche mich in einem Lächeln, auch wenn mir eigentlich zum Heulen zumute ist.

Abermals streiche ich Danny über das Haar. Mein kleiner Junge ist so tapfer, dabei merkt er es nicht einmal. »Dann bist du mir also nicht böse?«, fragt er mich mit weit aufgerissenen Augen.

»Warum sollte ich? Du bist und bleibst das Beste auf der Welt für mich. Und weil ich dich so lieb hab, wartet in der Küche eine kleine Überraschung auf dich.«

Danny schlägt die Bettdecke hastig zur Seite und rennt barfuß in die Küche. »Wow, Mom, sind die alle für mich?«

Ich muss lachen. »Meinst du denn, du schaffst es, sie alle alleine aufzuessen?«

»Sücher, Mom«, höre ich Danny schmatzend aus der Küche sagen.

Kapitel 4

 

Prudence

 

 

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als wir uns dem staatlichen Gefängnis Sing Sing in Ossining, knapp fünfzig Kilometer von New York entfernt, nähern. Ich habe mich vorab mit dieser Einrichtung beschäftigt und dabei unter anderem erfahren, dass es sich bei dieser Anstalt um ein Hochsicherheitsgefängnis handelt. Es wurde im 19. Jahrhundert von den Insassen selbst errichtet und sein umgangssprachlicher Name Sing Sing leitet sich von dem indianischen Begriff Sint Sinks, was Stein auf Stein bedeutet, ab.

Während ich in Gedanken weitere Informationen zu Sing Sing aufzähle, werde ich allmählich etwas ruhiger. Es hilft mir, mich mit den nüchternen Fakten der Entstehungsgeschichte des Gefängnisses abzulenken. So muss ich nicht länger daran denken, was mich in wenigen Minuten im Inneren dieses Gebäudes erwarten wird.

Hope fährt den Wagen gleichmäßig und ruhig. Sie scheint völlig gelassen zu sein. Beneidenswert! Am liebsten wäre ich auch so tough wie sie. Das würde mir das Leben um einiges erleichtern.

Lange habe ich mit mir gehadert, ob ich überhaupt bei diesem Treffen dabei sein will. Schließlich werde ich mich heute dem Peiniger stellen müssen, der für mein verkorkstes Leben verantwortlich ist. Wobei das noch zu milde ausgedrückt ist.

Wenn einen der eigene Vater in einem winzig kleinen Bretterverschlag unter der Treppe stundenlang einsperrt und einen anschließend noch nötigt in der vollgepissten Unterwäsche zu schlafen, dann ist das Ganze nicht mehr nur als schwere Kindheit zu betiteln. Hope und mir wurde das Urvertrauen genommen. Jenes Vertrauen, das man als Kind durch seine Eltern erfährt.

Dieses sogenannte Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit haben Hope und ich nie kennengelernt. Neben unserem gewalttätigen und korrupten Vater ist unsere Mutter durch seine Unterjochung kaum in der Lage gewesen, sich um uns zu kümmern. Letzten Endes war sie in den langen Jahren ihrer Ehehölle nur noch eine fahle Hülle, die versuchte zu überleben.

Ich kneife meine Augen fest zusammen und konzentriere mich wieder auf die geschichtlichen Fakten zu Sing Sing. Doch es mag mir nicht mehr so recht gelingen. Meine Hände, die ich auf meinen Schoß gelegt habe, beginnen zu zittern. Sie sind kalt und schwitzen zugleich.

Es war eine Scheißidee, mich mit Hope gemeinsam auf den Weg zu machen. Das Aufeinandertreffen mit meinem Erzeuger würde mich in meiner Therapie um Lichtjahre zurückwerfen. Gerade jetzt, wo ich doch mit der Hypnose erste Erfolge erziele und manche Nächte sogar wieder durchschlafen kann.

»Worüber denkst du nach?«, will Hope von mir wissen.

»Worüber werde ich schon nachdenken«, gebe ich patziger zurück, als ich es eigentlich will. Doch Hope ist nicht so zartbesaitet.

»Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich bin die ganze Zeit bei dir. Wenn etwas sein sollte oder du dich unwohl fühlst, dann drück meine Hand ganz fest und wir verlassen das Gefängnis wieder. Okay?«

Ich nicke ihr dankbar zu. »Wieso lässt dich das alles so kalt? Wie kannst du so ruhig bleiben, während du genau weißt, was uns gleich erwarten wird?«

Hope lacht heiser auf. »Glaub mir, auch ich wäre gerade lieber an einem anderen Ort. Aber irgendwas sagt mir, dass wir der Sache auf den Grund gehen müssen. Es muss unseren Vater große Überwindung gekostet haben, um ein Treffen mit uns zu bitten. Schließlich hat er sich von uns – seiner undankbaren Brut – unmittelbar nach der Urteilsverkündung des Gerichts losgesagt. Du weißt, wie selbstgefällig er ist. An seiner Einstellung wird sich sicher nichts verändert haben. Solche Typen bleiben sich bis in den Tod treu. Gerade deshalb bin ich so neugierig darauf, was er uns auf dem Sterbebett mitzuteilen hat.«

Ich kann den Einwand meiner Schwester gut nachempfinden. Im Grunde wüsste ich auch zu gerne, worum es in seinen letzten Worten an uns gehen wird. Aber dennoch habe ich Angst davor, den guten Weg, den ich mittlerweile eingeschlagen habe, gegen einen holprigen Trampelpfad einzutauschen, der mich nicht weiter voran, sondern meilenweit zurückführen wird.

Was hilft es denn, sich ständig mit dem Vergangenen herumzuquälen? Wer immer nach hinten blickt, wird gar keine neuen Wege entdecken können.

»Mir wäre es lieber gewesen, er hätte uns einfach einen Brief geschrieben, den wir nach seinem Tod erhalten hätten. Wozu dieses letzte Aufeinandertreffen? Das ist doch total unnötig und so verlogen. Er hängt schließlich nicht an uns und wir nicht an ihm. Im Prinzip verbindet uns nichts.«

Hope sieht mich von der Seite an, nachdem sie ihren Wagen auf dem Besucherparkplatz des Gefängnisses abgestellt hat. »Du musst das nicht machen. Wenn du möchtest, kannst du auch im Auto auf mich warten. Ich werde da reingehen, mir anhören, was er zu sagen hat, und in Nullkommanichts wieder bei dir sein. Wollen wir es so machen?«

Ich beiße mir nervös auf die Unterlippe, während ich mir Hopes Vorschlag durch den Kopf gehen lasse. Eigentlich gibt es keine Notwendigkeit dafür, dass wir uns beide diesem Horrorszenario stellen. Am liebsten würde ich den Vorschlag annehmen und hier im Wagen mit lauter Musik darauf warten, dass sie zurückkommt.

Doch etwas hält mich davon ab. »Auch wenn sich alles in mir gegen diesen Besuch sträubt, muss ich mit dir da reingehen. Ich muss mich dieser Bestie ein letztes Mal stellen. Dann kann ich hoffentlich meinen Frieden finden und mit der Sache abschließen.«

Hope streichelt mir einfühlsam mit der Hand über den Arm. Sie versucht sich in einem Lächeln. Jetzt erst sehe ich ihre angespannte Miene und die leicht zitternden Hände, die sich nicht mehr an dem Lenkrad festkrallen können.

»Wir sollten uns nach diesem Termin etwas Schönes gönnen. Was meinst du? Mädelsnachmittag mit Shopping, leckerem Abendessen und anschließend Kino?«

Ich zögere für einen Moment. Schließlich würden wir gleich auf einen Menschen treffen, der im Sterben liegt. Egal, wie schlecht uns unser Erzeuger Zeit seines Lebens behandelt hat, nach einem solchen Besuch feiern zu gehen, klingt in meinen Ohren einfach nur falsch.