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Sven Kramer

Walter Benjamin zur Einführung

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Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2003 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelfoto: Suhrkamp Verlag
E-Book-Ausgabe September 2018
ISBN 978-3-96060-053-4
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-683-5
4., ergänzte Auflage 2013

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1. Einleitung

2. Sprachtheorie

Wort und Name

Übersetzung

Mimetisches Vermögen

Scholem und die Theologie

3. Ästhetik

Kritik

Symbol und Allegorie

Darstellung

4. Medienpraxis, Medientheorie

Essayismus in Bildern

Brecht und die Politisierung

Rundfunkpraxis und Medientheorie

Malerei und Fotografie in der Medienkonkurrenz

Technische Reproduzierbarkeit und Aura

Film

5. Geschichtstheorie

Passagen

Fortschrittskritik und dialektisches Bild

Adorno und die Dialektik

Augenblick der Gefahr

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

1. Einleitung

»Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.« (VII, 393)1 Das notiert in der Berliner Kindheit um 1900 Benjamins Erzähler über Berlin, jene Stadt, die er von klein auf kennt. Die Orientierung auf das rubrizierende Wissen, jene unabdingbare Voraussetzung für das Sich-Zurechtfinden – hier gilt es als Hindernis: der Überblick soll verloren gehen. Erst dann können Erfahrungen freigesetzt werden, die sonst durch den routinierten, instrumentellen Umgang mit den Schauplätzen des Lebens im Abseits bleiben. Und auf genau diese Erfahrungen kommt es dem Erzähler, kommt es auch Benjamin selbst an.2

Dessen Werk gehört mittlerweile zum Grundinventar der geisteswissenschaftlichen Diskurse. Viele Intellektuelle schlugen Lektüre-Schneisen in es hinein, die sich durch die Tradierung in Forschung und Lehre zu Hauptstraßen auswuchsen. Diese kanonisierten Trassen können Benjamin-Unkundige – gleichsam die Ortsfremden – wie Straßenschilder nutzen. Sie werden sich zurechtfinden und einen Überblick gewinnen. Auch Benjamins Erzähler spricht ja, obwohl er sich von ihm lösen möchte, aus einem solchen Wissen heraus. Eine Einführung sollte einige der bekannteren Adressen vorstellen. Nehmen wir aber Benjamins Begriff der Erfahrung ernst, darf es dabei nicht bleiben. Nur muss das Weitere jedem Einzelnen übertragen werden, denn es überschreitet das Kanonisierte und knüpft an die gelebte Wirklichkeit der Individuen an. Vielleicht gelingt ein Rundgang bis an diese Schwelle, an der die Forschung produktiv vergessen werden darf, damit die »Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser« (VII, 393).

Benjamins heutige Popularität steht im genauen Gegensatz zu der Unbekanntheit während seiner letzten Lebensjahre. Im Exil erschienen seine Schriften – wenn überhaupt – nur an entlegener Stelle; vieles blieb zunächst ungedruckt. 1942, zum fünfzigsten Geburtstag, gab Theodor W. Adorno eine hektographierte Zusammenstellung einiger wichtiger Arbeiten Benjamins heraus. Adorno war es auch, der sich nach dem Krieg um die Publikation von Benjamins Schriften in Deutschland bemühte: 1950 setzte er den Druck der Berliner Kindheit bei Suhrkamp durch. 1955 gaben dann er und Gershom Scholem der Benjamin-Rezeption eine erste Grundlage, indem sie in einer zweibändigen Ausgabe Benjamins Schriften edierten. Längst vergriffene oder nie gedruckte Texte waren nun endlich zugänglich gemacht worden. Weitere Auswahlbände, die insbesondere die Studentenbewegung beeinflussten, folgten 1961 und 1966. Hinzu kam in diesem Jahr eine von Adorno und Scholem herausgegebene zweibändige Edition ausgewählter Briefe, die allerdings wegen ihrer Auswahlkriterien und Kürzungen zu Recht kritisiert wurde.

Den herausragenden Rezeptionsschub leitete jedoch die kommentierte Ausgabe von Benjamins Gesammelten Schriften ein, an der Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser seit den späten Sechzigerjahren arbeiteten.3 Von 1972 bis 1989 erschienen sieben reguläre, dann noch drei Supplement-Bände mit Benjamins Arbeiten als Übersetzer. In vorbildlicher Weise stellte die vieldiskutierte Edition das lange vermisste philologische Fundament für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Benjamin dar. Das nicht nachlassende Interesse an Benjamins Werk ermöglichte eine dritte Werkausgabe, die wiederum der Suhrkamp Verlag verlegt. Seit 2008 erscheint die auf insgesamt 21 Bände angelegte Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv. Erstmals werden nun die Texte Benjamins mitsamt sämtlichen Vorarbeiten abgedruckt, ergänzt durch die Kommentare der Einzelbandherausgeber. Die Ausgabe kommt textgenetischen Lesarten entgegen und bietet eine Fülle von zusätzlichen Informationen wie zum Beispiel detaillierte Hinweise auf die von Benjamin benutzten Quellen. Auch arbeitet sie mit Faksimiledrucken derjenigen Seiten, die visuelle Elemente enthalten.

Abgeschlossen ist auch die sechsbändige, sorgfältig kommentierte Ausgabe der Gesammelten Briefe. Christoph Gödde und Henri Lonitz gaben sie zwischen 1995 und 2000 heraus. Erstmals liegt damit eine verlässliche, auf Vollständigkeit zielende Edition vor, die den Reichtum der benjaminschen Korrespondenz vergegenwärtigt. Auch wird sichtbar, in welchem Maße das dialogische Moment für Benjamins Denken essenziell ist. In den gesondert publizierten Briefwechseln mit Gershom Scholem, Theodor W. Adorno sowie Gretel Adorno kann dies detailliert nachvollzogen werden. Benjamins Nachlass, der zeitweilig über mehrere Länder verstreut war, ist mittlerweile im Walter Benjamin Archiv der Akademie der Künste in Berlin zusammengeführt und für die Forschung zugänglich gemacht worden. Hier finden sich Kopien jener Manuskripte, die in Jerusalem, Moskau und Gießen liegen. Es war ein langer Weg, aber mittlerweile darf gesagt werden: Insgesamt hat die Archiv- und Editionslage ein sehr gutes Niveau erreicht.

Das war zu Benjamins Lebzeiten anders. In den Zwanzigerjahren hatte er sich einen gewissen Ruf als Publizist und Privatgelehrter erarbeitet, doch zwischen 1933 und dem Erscheinen der Schriften 1955 »gehörte sein Name«, so Scholem, »zu den verschollensten in der geistigen Welt«4. Dies begann sich dann zu ändern, obgleich die Frequenz der Einlassungen niedrig blieb.5Erst Mitte der Sechzigerjahre erlangte Benjamin eine gewisse Popularität. Das gesellschaftliche Klima hatte sich durch die Studentenbewegung verändert; die Kritische Theorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in dessen Zeitschrift neben Adorno, Horkheimer und Marcuse auch Benjamin publiziert hatte, verdrängte den bis dahin vorherrschenden Existenzialismus. Adornos Schüler legten Untersuchungen vor, die sich an der Benjamin-Lesart ihres Lehrers orientierten.6 Gegen diese wandten sich Teile der Studentenbewegung, die bekanntlich selbst von der Kritischen Theorie beeinflusst war. In verschiedenen Zeitschriften – hervorzuheben ist die alternative – stritt man für ein Bild von Benjamin, das die politischen Implikationen seines Werkes freilegte. Betont wurden die von Adorno und Scholem vernachlässigten revolutionären Obertöne, die Beziehung zu Brecht sowie Benjamins Selbstverständnis als Stratege im Literaturkampf.

Der in der Debatte gepflegte aufgeregte Ton zeigt an, dass hier zentrale Identifikationen auf dem Spiel standen. Zum Teil diente Benjamin als Vehikel des Aufbegehrens gegen die geistigen Väter, vor allem gegen Adorno. Auf der anderen Seite förderte man Wichtiges zutage. So konnte die Entstehungsgeschichte der späten Arbeiten über Baudelaire rekonstruiert werden, die von maßgeblichen Eingriffen des Instituts für Sozialforschung geprägt war. Die von diesem zurückgewiesene Fassung der Arbeit wurde erstmals publiziert und gewürdigt. Zugleich forderte man die umfassende Veröffentlichung des benjaminschen Werkes und den ungehinderten Zugang zu den Archiven. Nun war die Öffentlichkeit sensibilisiert und jeder neu erschienene Band der Gesammelten Schriften wurde kontrovers diskutiert.

Die Publizität Benjamins machte sich seit den Siebzigerjahren im Forschungsbetrieb bemerkbar; viele Monographien und eine kaum überschaubare Anzahl von Dissertationen entstanden. Die Benjamin-Forschung ergriff nahezu alle geisteswissenschaftlichen Fächer und differenzierte sich in der Wahl ihrer Themen immer stärker aus. Dies gilt nicht nur für den deutschen Sprachraum, sondern auch für andere Länder, denn mittlerweile wurden Benjamins Texte in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bemerkenswert ist dabei, wie viele verschiedene theoretische Richtungen sich heute auf ihn berufen. So hat sich zum Beispiel seit den Achtzigerjahren eine poststrukturalistische Lesart herausgebildet.

Angesichts dieser Breite in der Auseinandersetzung mit Benjamin bleibt für diese Einführung jedes Streben nach Vollständigkeit illusorisch. Im Folgenden soll deshalb der Beitrag Benjamins zu vier zentralen Theoriefeldern ausgemessen werden: zur Sprachtheorie, zum ästhetisch-erkenntnistheoretischen Komplex, zur Medien- sowie zur Geschichtstheorie. Mit den Überschriften der zugehörigen Kapitel soll nicht suggeriert werden, Benjamin habe abgeschlossene Theorien vorgelegt. Sein Denken, das sich immer wieder »bei Gelegenheit von« entfaltete, charakterisiert vielmehr ein Widerwille gegen philosophische Systeme. Die Überschriften sollen eine erste Verortung in der heutigen wissenschaftlichen Landschaft ermöglichen und dürfen – wie die oben angesprochenen Straßenschilder – bei Bedarf produktiv vergessen werden. Vorausgeschickt sei auch, dass aus Platzgründen nur ein Bruchteil der umfangreichen Sekundärliteratur überhaupt erwähnt werden kann. Zu den angesprochenen Themen existiert also weitere Speziallektüre, die am besten über die im Anhang angegebenen Bibliographien zu erschließen ist.

Die Kapitel enthalten Skizzen zu Benjamins Lebenslauf sowie zu seinem Verhältnis zu Scholem, Brecht und Adorno, denn Benjamins Denken und Schreiben ist zuinnerst sowohl mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen verknüpft, die sich auf seine Biografie auswirkten, als auch mit den Freundschaften, die er unterhielt. Sein Denken entstand geradezu programmatisch innerhalb dieser spannungsreichen Beziehungen. In einem Brief an Gretel Karplus, die später Adorno heiratete, hat er dies 1934 selbst formuliert:

»In der Ökonomie meines Daseins spielen in der Tat einige wenige gezählte Beziehungen eine Rolle, die es mir ermöglichen, einen, dem Pol meines ursprünglichen Seins entgegengesetzten zu behaupten. Diese Beziehungen haben immer den mehr oder weniger heftigen Protest der mir nächststehenden herausgefordert […]. In solchem Falle kann ich wenig mehr tun, als das Vertrauen meiner Freunde dafür erbitten, daß diese Bindungen, deren Gefahren auf der Hand liegen, ihre Fruchtbarkeit zu erkennen geben werden. Gerade Dir ist es ja keineswegs undeutlich, daß mein Leben so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt. Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen, erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr.« (GB IV, 440f.)

Gerade Scholem, Brecht und Adorno standen einander zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber, was Benjamin keineswegs daran hinderte, seine intensiven Verbindungen zu den Gescholtenen – gegen alle Einwände der anderen – weiter zu pflegen. Indem er sein Denken in die Extreme versetzt, droht die Gefahr des Selbstverlusts, weil eine Synthese im Zeichen der vertrauten Lösungen nicht mehr gelingt. Auch hier verlässt Benjamin die bekannten Pfade und setzt durch das momentane Aufgeben der Orientierung, in der Entäußerung des Denkens, innovative Momente frei. Somit reichen seine »Irrkünste« (VI, 469) bis in die existenzielle Dimension hinein. Denken war für ihn keine akademische Trockenübung, sondern zeitlebens die entscheidende Form seiner Weltzuwendung.

2. Sprachtheorie

Am 15. Juli 1892 wurde Walter Benjamin in Berlin geboren. Sein Vater war Bankkaufmann und Auktionator, gelangte durch Geschäfte an der Börse zu Wohlstand und führte seither das Leben eines Rentiers.7 1891 heiratete er Pauline Elise Schoenflies. Die Familie zählte zum assimilierten Judentum, stand den Reformgemeinden nahe und beging die jüdischen Feiertage ebenso wie das christliche Weihnachten. Behütet, immer unter den Augen eines Kindermädchens, wuchs Benjamin im großbürgerlichen Westen der Stadt auf. Seine Kindheitseindrücke hat er in der Berliner Kindheit um 1900 verarbeitet. Dieser zu Lebzeiten ungedruckt gebliebene, von 1932 bis 1934 geschriebene Text ist weit mehr als eine Kindheitsautobiografie.8 Dennoch schildert er auch ganz anschaulich die Lebenswelt eines wohlsituierten Kindes im Berlin des Wilhelminismus: die Loggien in den Hinterhöfen, die »Karyatiden und Atlanten, […] Putten und Pomonen« (VII, 395) der Gründerzeitfassaden und -hausflure, den »Takt der Stadtbahn und des Teppichklopfens« (VII, 386), die ersten Schul- und Leseerfahrungen, die Sommerwohnungen in der Berliner Umgebung, das Kaiserpanorama und den Tiergarten.

Weil Benjamin in der Schule kränkelte, musste er sie 1904 für zwei Jahre verlassen, er wurde in ein thüringisches Landerziehungsheim verschickt. Hier unterrichtete von 1903 bis 1906 Gustav Wyneken, der in dem Jungen das Interesse für Philosophie und Literatur weckte. Zurück in Berlin, legte Benjamin 1912 das Abitur ab. Mit einer ausgedehnten Fahrt nach Norditalien begann dann seine lebenslange Begeisterung für das Reisen. Schon 1913 besuchte er erstmals Paris.

Sein Studium der Philosophie und der Philologie nahm er 1912 auf; zunächst in Freiburg im Breisgau, dann in Berlin, seit dem Herbst 1915 in München, später in Bern. Zwischen 1912 und 1914 schloss er sich der Schulreformbewegung an, für die er organisatorisch und publizistisch tätig wurde. Die Strömung gehörte in das breite Spektrum der Jugendbewegung, die mit dem Treffen auf dem Hohen Meißner, an dem Benjamin vermutlich teilnahm, 1913 ihren Höhepunkt erlebte. Er suchte engen Kontakt zu seinem ehemaligen Lehrer Wyneken, dem geistigen Vorreiter der Schulreformbewegung. An der Zeitschrift Anfang, die Wynekens Ideen propagierte, arbeitete Benjamin um 1913 intensiv mit.

Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs setzten innerhalb der Redaktion Richtungskämpfe um die Beurteilung dieses Krieges ein. Benjamin, der nicht in die nationale Begeisterung von 1914 einstimmte, distanzierte sich deshalb von der Zeitschrift und brach mit Wyneken. Auch in seiner Berliner Umgebung herrschte die Meinung vor, der Krieg sei sinnlos. So töteten sich 1914 der Freund Fritz Heinle und seine Verlobte Rika Seligson selbst.9 Dass dieser Krieg einen mentalitätsgeschichtlichen Einschnitt ersten Ranges darstellte, steht heute außer Zweifel. Die meisten Zeitgenossen verknüpften den Bruch jedoch mit dem Ende des Krieges. Für Benjamin war es schon der Kriegsbeginn. Viele seiner Schulfreunde kamen in dem Gemetzel um; Benjamin selbst entging der Einberufung. Zunächst stufte man ihn als untauglich ein, später simulierte er Ischiasanfälle. Schließlich entkam er dem Krieg durch die Übersiedlung ins schweizerische Bern. Dort lernte er unter anderen Ernst Bloch kennen.

Hier schloss er 1919 auch sein Studium mit der Promotion ab. Zwei bedeutende Frühschriften entstanden noch während des Studiums. Sie zirkulierten nur im engsten Freundeskreis. Neben einer konzentrierten Lektüre der hölderlinschen Gedichte Blödigkeit und Dichtermut (Zwei Gedichte Friedrich Hölderlins, 1914/15) ist es vor allem der sprachtheoretische Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (II, 140-157) von 1916.

Wort und Name

Benjamin gibt seiner frühen Sprachtheorie einen theologischmetaphysischen Rahmen. Damit unterscheidet sie sich grundlegend von einem anderen Epoche machenden Werk aus dem Jahre 1916: von Saussures Begründung des Strukturalismus im Cours de linguistique générale. Orientiert sich dieser bei der Analyse der Sprache an den wissenschaftlichen Prinzipien des Positivismus und begreift Sprache als ein System von Zeichen, so entwickelt Benjamin seine Sprachtheorie im Medium der Lektüre eines mythologischen Textes – des Alten Testaments – und sieht in der Sprache weit mehr als ein System von Zeichen. Die Reflexion auf die unterstellte göttliche Sphäre wird in Benjamins Theorie produktiv, indem sie eine Perspektive eröffnet, in der jene Dimensionen der Sprache thematisiert werden können, die nicht vom menschlichen Wollen dominiert werden. Jene Dimensionen also, die nicht in der intendierten, prädikativen Mitteilung aufgehen, sondern in denen unmittelbar noch etwas anderes kommuniziert wird – wie zum Beispiel in der poetischen Sprache.

Nach Benjamins Sprachaufsatz von 1916 hat alles an der Sprache teil, was sein geistiges Wesen im Ausdruck mitteilt. Darunter fasst er neben dem Menschen alles in der belebten sowie in der unbelebten Natur. Damit etabliert er den weitestmöglichen Begriff von der Sprache. Nur die Ideen partizipieren nicht an ihr, während die Natur zwar eine Sprache spricht, aber eine ohne Laute, also eine stumme. Das geistige Wesen der Dinge unterscheidet Benjamin vom sprachlichen, jedoch teilt sich das geistige durch das sprachliche mit; und zwar von Fall zu Fall vollständig oder nur teilweise, je nachdem, ob das geistige Wesen sich vollständig ins sprachliche auflöst. Nicht mitteilbar ist das geistige Wesen dort, wo es nicht in das sprachliche hineinreicht.10 So bleibt dem Ausdruck und der Sprache – und damit auch der menschlichen Wahrnehmung – ein Teil des geistigen Wesens unzugänglich und verborgen. Das Mitteilbare des geistigen Wesens hingegen »ist unmittelbar die Sprache selbst. […] Oder genauer: jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das ›Medium‹ der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie […].« (II, 142f.) Mit diesen Gedanken knüpft Benjamin an Theorien von Johann Georg Hamann (1730-1788) und den Frühromantikern an, die die Erfahrung einer Sprachdimension jenseits der prädikativen Mitteilung mit okkulten Phänomenen in Mystik und Magie verglichen hatten, ohne selbst dem Okkultismus zu verfallen.11 Des Weiteren legt Benjamin damit in seiner Sprachtheorie die Grundlagen für seine später entfalteten medientheoretischen Überlegungen.

Im Sprachaufsatz fährt er mit der Ausdifferenzierung verschiedener sprachlicher Sphären fort. Von der stummen Sprache der Dinge unterscheidet er die benennende Sprache des Menschen und die des göttlichen Wortes. Dort, wo das geistige Wesen des Menschen sich im Benennen vollständig als sprachliches realisiert, verfährt er im Medium des Namens. Die Existenz des Namens und die Fähigkeit des Menschen, ihn zu nennen, verbürgen nach Benjamin, dass die Sprache mit dem geistigen Wesen des Menschen zusammenfällt, dass also der Mensch das einzige Lebewesen ist, dessen geistiges Wesen vollständig mitteilbar ist. Doch durch seine Befähigung zur Namengebung fällt dem Menschen noch eine weitere Aufgabe zu, denn mithilfe des namentlichen Benennens erkennt er die Dinge nicht nur, sondern er verhilft ihnen auch zu einer anderen Sprache: »Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht […].« (II, 144) Benjamin weist dem Menschen eine aktive Rolle im Schöpfungsprozess zu. Indem dieser den Dingen im Namen zur Sprache verhilft und dabei sein eigenes Wesen realisiert, wirkt er im Sinne der Offenbarung. Damit wendet Benjamin den romantischen und beim frühen Marx vorkommenden Gedanken, der die Humanisierung der Natur bei gleichzeitiger Naturalisierung des Menschen fordert, ins Theologische.12

Sprache in diesem Sinne hat vornehmere Aufgaben als die Übermittlung von Informationen. Deshalb wendet sich Benjamin vehement gegen einen verkürzten Sprachbegriff, den er der bürgerlichen Auffassung von Sprache zurechnet. Diese besagt: »Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat ein Mensch […].« (II, 144) Solch eine instrumentelle Auffassung ist mit der medial gedachten Sprache nicht vereinbar. In dieser sind die Worte keine Vehikel zur Übermittlung von etwas anderem, sondern mit ihnen selbst ist das sprachliche Wesen da und in ihnen gelangt das geistige zur Erkenntnis. Das Wort steht auch weder in einem zufälligen Verhältnis zu den Dingen noch ist es »ein durch irgendwelche Konvention gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis)« (II, 150). Die strukturalistische These von der Arbitrarität der Zeichen weist Benjamin an dieser Stelle also ausdrücklich zurück.13 Denn er sieht in der medialen Unmittelbarkeit der Sprache ihren offenbarenden, enthüllenden Charakter am Werk.14

Solche Überlegungen sind auch von zentraler Bedeutung für Benjamins Erkenntnistheorie. Seine Sprachtheorie enthält erkenntnistheoretische Fundamente, denn die Sprachlichkeit der Dinge und Lebewesen gewährleistet, dass diese sich dem Menschen überhaupt vernehmbar machen, dass er sie also wahrnehmen kann. Die namentliche Benennung aber, das dem Menschen gemäße sprachliche Verhalten, fällt mit der Erkenntnis der Dinge zusammen. Diese bezieht Benjamin wiederum auf die theologische, nicht auf die zwischenmenschlich-kommunikative Sphäre: durch die Namengebung spreche der Mensch nicht in erster Linie zu seinesgleichen, sondern »im Namen teilt das geistige Wesen des Menschen sich Gott mit« (II, 144).

Der zweite Teil des Sprachaufsatzes enthält eine Auslegung des Genesiskapitels aus der Bibel. Benjamin betont, dass es ihm nicht darum gehe, der Bibel den Status eines geoffenbarten Textes zuzusprechen. Trotz aller religiösen Thematik betreibt er keine Theologie. Er legt die Bibel vielmehr deshalb zugrunde, weil sie (wie er selbst) erstens die Sprache als eine »unerklärliche und mystische Wirklichkeit« (II, 147) voraussetzt und zweitens die ersten, metaphysischen Gründe der Sprache thematisiert.

Gott erschuf die Welt durch das Wort. In diesem vereinigen sich Offenbarung – denn geistiges und sprachliches Wesen fallen unmittelbar zusammen – und Erkenntnis – denn das schaffende Wort ist zugleich der treffende Name: »In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist […].« (II, 148) Dieses schöpferische Wort benutzte er aber nicht für die Erschaffung des Menschen; Adam modellierte er aus Erde. Der Mensch ist also der Unbenannte, dem die Sprache mitgegeben wurde, um selbst zu benennen. »Gottes sprachliches Wesen ist das Wort. Alle menschliche Sprache ist nur Reflex des Wortes im Namen. Der Name erreicht so wenig das Wort wie die Erkenntnis die Schaffung. Die Unendlichkeit aller menschlichen Sprache bleibt immer eingeschränkten und analytischen Wesens im Vergleich mit der absoluten uneingeschränkten und schaffenden Unendlichkeit des Gotteswortes […].« (II, 149) Durch die Fähigkeit zum Namengeben nimmt der Mensch eine einzigartige Stellung unter den Kreaturen ein: er soll die Schöpfung vollenden. Mit der Benennung im Eigennamen kommt er dem schaffenden Gotteswort am nächsten, denn hier spricht er sich und seinesgleichen aus. Mit der Benennung der sonstigen Naturdinge vollzieht er dagegen eine Übersetzung, und zwar aus den wortlosen Sprachen der Dinge in die des Namens. Dabei gelangt er zur Erkenntnis der benannten Dinge und wirkt zugleich im Sinne der Offenbarung. »Die paradiesische Sprache des Menschen muß die vollkommen erkennende gewesen sein« (II, 152), schreibt Benjamin.

Doch dabei belässt er es nicht, denn aus diesem Idealzustand ist die Sprache längst herausgetreten. Die paradiesischen Verhältnisse dienen vielmehr als eine Folie, auf der die gegenwärtigen, nachparadiesischen ihr Profil gewinnen. Das heißt aber nicht, dass die obigen Bestimmungen nun funktionslos geworden wären. Als verschüttete sind sie immer noch wirksam und geben zugleich der Sprachtheorie, wie auch dem Sprachgebrauch, als regulative Idee eine Orientierung auf das Utopische mit.

Der Sündenfall bezeichnet auch bei Benjamin die Erkenntnis von gut und böse. Mit ihr verlässt die menschliche Sprache die Sphäre des adamitischen Namens. Weil Gott seine Schöpfung am siebten Tag als gut erkannte, nimmt auch der Name sie als solche an. Dagegen erscheint das Wissen um gut und böse bei Benjamin als ein namenloses; es sei »im tiefsten Sinne nichtig« (II, 152). Der entscheidende Unterschied der Namensprache zur nun entstehenden des nachparadiesischen menschlichen Worts ist der Umstand, dass die Mitteilung einen anderen Charakter gewinnt. Meinte Mitteilung zuvor die magische Präsenz des geistigen Wesens im Medium Sprache, so geht es nun um etwas anderes als das Sich-Aussprechen des Phänomens, nämlich um den Transport von Mitteilungen, die das Ding nicht unmittelbar charakterisieren: »Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes […].« (II, 153)

Das menschliche Wort unterscheidet sich vom göttlichen, weil es nicht schaffend wirkt, und vom Namen, weil es nicht erkennend ist. In ihm wird die Sprache zum bloßen Zeichen, das den Makel trägt, dass über seine Trefflichkeit Ungewissheit herrscht. Dieses Wort ruft deshalb das Gericht herbei, das im Urteil einen Akt der Reinigung und Erhöhung vollzieht. Auf dieser Stufe führt Benjamin die magische Seite der Sprache erneut ein: »Dem richtenden Wort ist […] die Erkenntnis von gut und böse unmittelbar. Seine Magie ist eine andere als die des Namens, aber gleich sehr Magie […].« (II, 153) Denn unmittelbar mit dem Urteil wird die Vertreibung aus dem Paradies vollzogen. Das richtende Wort scheint deshalb sowohl der göttlichen als auch der menschlichen Sphäre zuzugehören.

Benjamin fasst nun die drei Bedeutungen des Sündenfalls für die Sprache zusammen:

»Indem der Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt, macht er die Sprache zum Mittel […], damit auch an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen; und das hat später die Mehrheit der Sprachen zur Folge. Die zweite Bedeutung ist, daß nun aus dem Sündenfall als die Restitution der in ihm verletzten Unmittelbarkeit des Namens eine neue, die Magie des Urteils, sich erhebt, die nicht mehr selig in sich selbst ruht. Die dritte Bedeutung, deren Vermutung sich vielleicht wagen läßt, wäre, daß auch der Ursprung der Abstraktion als eines Vermögens des Sprachgeistes im Sündenfall zu suchen sei […].« (II, 153f.)

Nach dem Sündenfall ist die menschliche Sprache also nicht nur ärmer – an Sprachseligkeit – geworden, sondern durch die Befähigung zu Urteil und Abstraktion auch reicher. Beide Zustände wirken in der Sprache fort. Was Benjamin als die konkreten Sprachelemente bezeichnet, geht auf die Namensprache zurück; was er die abstrakten Sprachelemente nennt, ist im richtenden Wort und im Urteil fundiert. Mit dem menschlichen Wort stellt sich das Geschwätz ein, das Hinwegreden über die Dinge statt ihres SichAussprechens. Diese Tendenz erreicht ihr Extrem in der Sprachverwirrung und dem Turmbau zu Babel. Der Mensch findet sich in einen Abgrund des Zweifels gestellt, den das Urteil lindert. Neben diesen existenziellen Folgen für die Menschen hat der Sündenfall auch für die stumme Natur eine Konsequenz: wegen ihres Benanntwerdens in den vielen Sprachen muss sie auf die Benennung durch den einen, treffenden Namen verzichten und deshalb unerkannt bleiben. Benjamin deutet ihre Stummheit als Trauer über diesen Zustand und bezeichnet die Überbenennung als tiefsten sprachlichen Grund allen Verstummens. (Vgl. II, 155)

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