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Lotta Suter

Amerikanerin
werden

Tagebuch einer Annäherung

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Mit Unterstützung von

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur
mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Im gedruckten Buch finden sich zusätzlich Fotos von Lotta Suter.

© 2018 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Lotta Suter. Junge Kunst in einer
alten Scheune in Neuengland (Foto vom Oktober 2009)

eISBN: 978-3-85869-806-3
1. Auflage 2018

Inhalt

Januar 2017

Lily for President!

Februar 2017

Winterstarre

März 2017

Gegen die Tyrannei

April 2017

Wie der erste Morgen

Mai 2017

Ein Fels der Hoffnung

Juni 2017

Traum und Wirklichkeit

Juli 2017

Zurück in den Grünen Bergen

August 2017

Das amerikanische Dilemma

September 2017

In aller Welt zu Hause?

Oktober 2017

Kollusionen

November 2017

Der Krieg, der uns trennt

Dezember 2017

Wir und die andern

Nachtrag

We Gon’ Be Alright

Januar 2017

Lily for President!

1. Januar

»First Night« heißt hier in den USA nicht bloß die Premiere im Theater oder im Konzertsaal, sondern auch der Übergang vom alten ins neue Jahr. Für mich ist es das erste Silvester in meiner Wahlheimat Vermont.

Es ist ländlich ruhig hier. Die Landschaft liegt tief verschneit. Ich schnalle meine Schneeschuhe an, rufe meinen Hund und folge den Spuren, die meine sportliche Nachbarin offenbar vor kurzem erst in das weiche Feld gelegt hat. Ich stampfe den Hügel hinauf und blicke zurück auf unser rotes Backsteinhaus mit den grauen Holzschindeln und auf die waldigen Anhöhen, in die es eingebettet ist. Die Aussicht ist nicht so dramatisch wie in den Schweizer Alpen. Die »grünen Berge«, die dem kleinen Bundestaat an der kanadischen Grenze seinen Namen gegeben haben, ähneln dort, wo sie besonders schroff sind, den Voralpen, in sanfteren Regionen erinnern sie an finnische Seenlandschaften. Mir gefällt ganz einfach, wie abwechslungsreich und angenehm die Hügel und Täler für das Auge sind. Wie geborgen ich mich, die ich in einem Tal inmitten von Bergen geboren und aufgewachsen bin, in dieser Landschaft fühle, die die Sicht auf die Welt nicht ganz versperrt, jedoch einrahmt und so die endlose Weite auf ein menschliches Maß reduziert.

Der Himmel ist diesig. Es schneit nur leicht, aber stetig. Mein Hund und ich sind seit ungefähr einer Stunde unterwegs, als ich auf meine Nachbarin und ihren Hund treffe. Sie gesteht mir, dass sie sich verlaufen und jede Orientierung verloren habe. Wir stehen nun vor der Wahl: Wir können auf unseren alten Spuren den sicheren Heimweg antreten. Oder wir können versuchen, uns mithilfe von zwei Mobiltelefonen und verschiedenen Apps in bekannte Gefilde zurückzulotsen. Wir entscheiden uns für die gewagtere, aber auch interessantere zweite Variante. Es ist erstaunlich schwierig, im tiefverschneiten und ziemlich verwilderten Wald Erhebungen und Senkungen auszumachen. Das lückenhafte Funknetz erlaubt uns außerdem nur gelegentliche Blicke auf den digitalen Kompass. Keine Spur von Zivilisation. Bloß Fährten von Rehen, von Hasen, von Vögeln. Die Bären ruhen zurzeit hoffentlich alle in ihrem Winterquartier.

Unvermittelt enden Bäume und Unterholz, und wir stehen in einer kleinen Siedlung mit sauber geräumten Pfaden und bekannten Namen. Es ist schon dämmerig, als wir wieder von der Straße abzweigen und über weite Felder heimwärts ziehen. Jede in ihre eigene gut geheizte Stube. Mit den allerbesten Wünschen zum neuen Jahr.

Ich habe an diesem Silvesternachmittag gelernt, dass ich noch kein sicheres Gespür für meine neue Umgebung entwickelt habe – und dass ich mich in dieser Lage nicht unbesehen auf andere verlassen sollte. Die Erkenntnis ist für mich als gestandene Bergsteigerin und Tourengängerin natürlich nicht neu. Doch die Lektion bedurfte offenbar einer Auffrischung.

Dabei könnte ich es belassen, wenn mein Bezug zum Jahreswechsel nicht hoffnungslos sentimental, ja fast ein wenig abergläubisch wäre. So aber nehme ich den abenteuerlichen Auftakt zur »ersten Nacht« als bedeutsames Omen für mein erstes Jahr in Vermont – das auch mein erstes Jahr unter dem neugewählten Präsidenten Donald Trump sein wird.

3. Januar

»The Twelve Days of Christmas« – gemeint sind die zwölf Weihnachtstage vom 25. Dezember bis zum 6. Januar – ist eines der ersten Lieder in englischer Sprache, die meine Kinder vor zwanzig Jahren nach unserem ersten Umzug in die USA auswendig lernten. Der Zählreim aus dem 18. Jahrhundert nennt immer ausgefallenere Geschenke, die sich der Geliebte für seine Angebetete zu Weihnachten ausdenkt: ein Rebhuhn in einem Birnbaum, zwei Turteltauben, drei französische Hennen, vier Drosseln, fünf goldene Ringe, sechs eierlegende Gänse, sieben schwimmende Schwäne, acht melkende Mägde, neun tanzende Damen, zehn hüpfende Herren, elf pfeifende Pfeifer und zwölf trommelnde Trommler. Zum Vergnügen meiner jungen Sängerinnen und Sänger gab es für sämtliche zwölf Verse – vor allem aber für die eierlegenden Gänse – eine passende Gebärde. Der Versuch, diese kuriosen Liebesgaben in der richtigen Reihenfolge zu gestikulieren, ergab eine ausgelassenere Feststimmung als »Stille Nacht«. Doch wir sangen natürlich auch dieses klassische Weihnachtlied. Außerdem stimmten wir Melodien aus Paul Burkhards »Zäller Wiehnacht« an, die die Kinder noch vom Schweizer Schulbesuch her kannten. »Was isch das für e Nacht! Hät eus de Heiland bracht und us de arme Mänsche riichi gemacht.«

Kulturell mischten und ergänzten sich europäische und amerikanische Festtagstraditionen von Anfang an ziemlich problemlos. Mir gefällt es, dass sich die holiday season hier über fast zwei Wochen erstreckt und wir so mehr Zeit haben, um auch entfernter lebende Freunde und Familienmitglieder zu empfangen oder zu besuchen. Wenn Einladungen sehr kurzfristig sind oder wenn sehr viele Gäste kommen, behilft man sich mit einem »Potluck Dinner«, einem Essen, zu dem jeder und jede etwas beisteuert. Das ist nicht immer ein kulinarischer Höhepunkt – Potluck bezeichnet schließlich das, was zufällig gerade im Kochtopf ist. Doch solche spontanen und etwas chaotischen Zusammenkünfte ergeben oft die interessanteste und fröhlichste Gesellschaft. Das habe ich hier in Vermont bereits mehrmals erlebt. Ich nehme mir für das neue Jahr vor, meine gutschweizerischen Bewirtungsansprüche etwas zu lockern und Potlucks im neuen Jahr endlich auch bei mir zu Hause einzuführen!

Bereits kurz nach unserem ersten Umzug in die USA in den Neunzigerjahren hatte ich die Schulkameraden meiner Kinder mit dem Dreikönigskuchen bekannt gemacht; denn auch in einer ausgesprochen antiroyalistischen Gesellschaft wie den USA wird fast jede gerne ab und zu gekrönt und verwöhnt. Unsere Familie lernte schnell, dass der Austausch von lokalem Brauchtum den Integrationsprozess beschleunigen oder überhaupt erst erschließen kann. Das Fremde wirkt in solch folkloristischem Zusammenhang unbedrohlich, die Neugier auf Andersartiges ist geweckt, auch wenn das Andere zunächst eher oberflächlich, ritualisiert und unpolitisch daherkommt.

In diesem Jahr sind die zwölf Weihnachtstage im Familienkreis für mich persönlich auch eine Schonfrist. In nur zwei Wochen wird der im November überraschend gewählte Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden. Ich bin immer noch schockiert, deprimiert und verunsichert. Laut quake ich – nun nicht mehr mit meinen Kindern, sondern zusammen mit meinen schweizerisch-amerikanischen Enkelinnen – als eierlegende Gans. Auf dass die melkenden Mägde, tanzenden Damen, hüpfenden Herren, pfeifenden Pfeifer und trommelnden Trommler bald eine bessere Zukunft verkünden.

5. Januar

Heute Morgen habe ich zum zweiten Mal mit Laura Flanders geskypt. Ich kenne und schätze Laura als Berufskollegin. Die gebürtige Britin kam als junge Frau nach New York und hat sich dort in den letzten dreißig Jahren eine beeindruckende Karriere als unabhängige Medienschaffende aufgebaut. Als mich die Wochenzeitung WOZ Ende Dezember bat, für das vierteilige Monatsinterview im Januar einen geeigneten Gesprächspartner oder noch lieber eine interessante Gesprächspartnerin zu finden, dachte ich gleich an Laura Flanders.

Heute sprechen wir über unsere eigene Arbeit. »Je länger ich journalistisch tätig bin, desto weniger will ich bloß abbilden, was geschieht«, sagt Laura via Skype. »Wir linken Medienschaffenden müssen nicht bloß neue interessante Leute ins öffentliche Gespräch bringen, wir müssen dieses öffentliche Gespräch auch gestalten. Zeigen, wie man Fragen stellt, wie man Informationen herausholt, wie man engagierte Personen und ihre Anliegen miteinander verbindet.« Lauras Traum ist ein internationales Medienportal, das zum großen Teil von den Bewegungen selbst gestaltet wird. Bereits heute moderiert Laura eine wöchentliche Fernsehsendung, die »Laura Flanders Show«, wo sich Aktivistinnen und Aktivisten in langen Gesprächen austauschen. Das widerspricht natürlich den Mediengewohnheiten der Tweet- und Instagram-Generation. Und ich gestehe, dass auch ich selber die nötige Geduld für solch gründliche Diskussionen nicht immer aufbringen kann. Doch dieses Nachdenken ist um einiges gesünder als die fiebrige Aufgeregtheit und der ermüdende Sensationalismus, die die großen Medien seit November verbreiten.

Im ersten Skype-Interview, das aus produktionstechnischen Gründen just heute in der WOZ erscheint, fragte ich Laura Flanders natürlich nach ihrer Reaktion auf die Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump. Ich tat es eher ungern, denn bisher haben derartige Gespräche mit Bekannten und Kolleginnen die eigene Mut- und Hilflosigkeit eher noch verstärkt. Auch Laura Flanders begann ihr Fazit in Untergangsstimmung: »Ich komme eben von einem Besuch bei meiner ehemaligen Geschichtslehrerin in London zurück, einer linksradikal denkenden US-Amerikanerin. Sie war in der demagogischen McCarthy-Ära nach England geflüchtet, und Trumps Aufstieg traf sie besonders hart. Sie fragte mich immer wieder: ›Was werdet ihr tun?‹« Im Verlauf unseres Skype-Gesprächs wurde Laura jedoch immer zuversichtlicher. Die Aufgabe der linken Medien habe sich ja nicht wirklich geändert, meinte sie. Nach wie vor müssten diese die Mächtigen zur Rechenschaft ziehen, und zwar konsequenter als das die etablierte Presse tue, die während der Präsidentschaft von George W. Bush und Barack Obama brisante Informationen zu Themen wie Folter und Überwachung der Bevölkerung auf Wunsch der Regierung unter Verschluss gehalten hat.

Laura endet mit einem Aufruf zum Handeln: »Wir müssen protestieren wie verrückt. Doch wir müssen dringend auch lebenswichtige Alternativen aufbauen, denn Trump wird es nicht tun. Wir alle werden unter seiner rechtsextremen Regierung viel Widerstandsfähigkeit, Ausdauer und Stärke, aber auch Schutz und gegenseitige Hilfe brauchen. Das gibt uns die Chance, Institutionen zu schaffen und zu stärken, die wir im 21. Jahrhundert in unserem Leben haben wollen. Als ich 1981 von London in die USA auswanderte, begann mit Ronald Reagan der Aufstieg des Neoliberalismus, der jetzt zu Ende geht. Das ist ein spannender Moment. Auch für die Linke.«

Ich habe mich nach diesem Interview etwas ausgeglichener gefühlt als nach den hochemotionalen Gesprächen mit meinen amerikanischen Bekannten. Und ich habe mich gefragt, wie sehr Laura Flanders’ gelassenere Einschätzung mit ihrer britisch-amerikanischen Identität zu tun hat. Mit der Tatsache, dass sie die USA gut kennt, jedoch nicht nur die USA. Dass sie, so wie ich, aufgrund der eigenen Biografie die Trump-Wahl in Beziehung setzen kann zu Wutwahlen in anderen Ländern und insbesondere auch zu andern dunklen und krisenhaften Zeiten in der Geschichte der USA.

Denken wir an die McCarthy-Ära der Fünfzigerjahre, in der die politische Opposition pauschal als »kommunistisch« und »unamerikanisch« verurteilt und zensiert wurde. Darauf folgte in den Sechzigerjahren die brutale Repression gegen die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner. Der Vietnamkrieg teilte die Nation Anfang der Siebzigerjahre in zwei unversöhnliche Lager. Und der Aufstieg des Neoliberalismus in den Achtzigerjahren endete für die meisten US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner zwei Jahrzehnte später abrupt mit einer Wirtschaftskrise. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 verschärften die schleichende Militarisierung der US-amerikanischen Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik hin zu einem eigentlichen Kriegszustand, den Präsident Barack Obama in seiner achtjährigen Regierungszeit bloß ansatzweise befrieden konnte oder wollte. Und nun ist wieder ein Mann an der Macht, der im Wahlkampf lauthals verkündete: »Macht euch nichts vor, Folter funktioniert. Und wenn sie nicht funktioniert, haben die Feinde sie trotzdem verdient.«

Das ist in der Tat ein vorläufiger Tiefpunkt. Doch im allgemeinen Wehklagen über die Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump, der dieses Land und seine Bevölkerung polarisiere und auseinanderdividiere, weisen vorab afroamerikanische Publizisten und Journalistinnen darauf hin, dass die USA noch nie »ein einig’ Volk« gewesen sind, noch nie eine geeinte Nation frei von Rassismus, Sexismus et cetera. Ja, sie stellen die These auf, dass die Geschichte dieser Nation – von der Vertreibung der Native Americans über die Sklaverei bis zur rassistisch gefärbten Immigrationspolitik – geradezu auf solchen Spaltungen aufgebaut ist.

Im Kontrast zu dieser historisch bewussten Sichtweise ist für viele (weiße) US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen, die ich kenne, die unmittelbare Gegenwart – derzeit eine im Zerrspiegel der Medien hochpersonifizierte Gegenwart – das absolute Maß aller Dinge. Immer wieder, und jetzt mit dem theatralischen Reality-TV-Präsidenten ganz besonders, erleben sie ihre Umwelt aufs Neue als einmaligen Ausnahmezustand. Das zerrt an den Nerven und heizt die Empörung an, führt jedoch kaum zu einer nachhaltigen politischen Veränderung.

8. Januar

Nach zwei Monaten hat sich die erste Aufregung um die Präsidentschaftswahl etwas gelegt. Doch unsere Befindlichkeit ist eine andere geworden. Im Supermarkt diskutieren Kunden und Personal, ob sie nicht doch besser nach Kanada auswandern sollten (in Vermont hat weniger als ein Drittel der Wählenden für Trump gestimmt). Der Handwerker, der gekonnt und bedächtig unser Haus umbaut, ärgert sich immer noch, dass viele Bernie-Sanders-Fans (zu denen er sich selber auch zählt) im letzten Herbst den Wahlen ganz ferngeblieben sind. Ich selber tue mich schwer damit, dass die ansonsten ausgesprochen freundliche ältere Frau von gegenüber sich nach der Wahl so sehr darüber freute, dass »die schreckliche Hillary« nicht gewählt worden ist. Und was ist bloß in den Elektriker gefahren, der unser gut fünfzig Jahre altes Haus neu verkabelt hat? Er ist ein fröhlicher und äußerst hilfsbereiter Mensch, der spontan mit seinem Traktor anrückte und ein großes Stück Wiese umpflügte, weil er gehört hatte, dass wir da unseren Gemüsegarten anlegen wollten. Bezahlung wollte er dafür keine. »Das gehört sich so, unter Nachbarn«, sagte er. Dann ging er hin und wählte den Superegoisten Trump.

Gleich nach dem knappen Wahlsieg Trumps verschickte ein Schwager von mir verzweifelte Mails, um eine Petition zu starten beziehungsweise zu unterstützen, die das Elektoratskollegium sozusagen rückwirkend dazu verpflichten würde, dem Volksmehr zu folgen, in diesem Fall also Hillary Clinton zu wählen. Ein anderer Verwandter stimmte dem Onlineaktivisten im Prinzip zu, die Institution der Wahlmänner sei wirklich veraltet und überholungsbedürftig. Doch, fügte er hinzu, eine »rückwirkend« installierte US-Präsidentin würde wohl kaum genügend politische Legitimität besitzen. Nach diesem vernünftigen Einwand überschwemmte der Schwager uns mit noch glühenderen Appellen. Der ansonsten eher unpolitische Zeitgenosse war derart außer sich und moralisch empört über die Trump-Wahl, dass er sie einfach nicht wahrhaben wollte oder konnte.

Unser engerer Familienclan hatte sich bereits in der Wahlnacht zu einer textenden Trost- und Trauergemeinschaft zusammengetan. Bis heute wettern und witzeln wir abwechslungsweise über die tragisch-komische Figur Trumps. Was meine beiden Enkelinnen, sieben und zehn Jahre alt, von all dem mitbekommen, wage ich gar nicht zu denken. Mit viel Geduld bringen wir Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten unserem Nachwuchs bei, dass Mobbing, Sexismus und Rassismus unakzeptabel sind. Und dann sehen die Kinder, dass knapp die Hälfte der Erwachsenem in ihrem Land einen Mobber, Rassisten und Sexisten als Präsidenten haben wollen. Das ist eine bittere Staatskundelektion.

20. Januar

Heute wird Donald Trump als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Der Fernsehbildschirm zeigt den monarchischen Pomp, mit dem dieser im Grunde demokratische Akt in den USA üblicherweise begangen wird: Limousinenkorso und Fähnchen schwenkendes Publikum, Galauniformen und eine historische Bibel (diesmal mit Schutzhülle gegen das unfreundliche Wetter). Einzig das kulturelle Rahmenprogramm ist dieses Jahr etwas glanzlos und die Musik klingt dünn, denn viele prominente Künstlerinnen und Künstler haben den sonst heißbegehrten Auftritt im präsidialen Rampenlicht aus politischen Gründen verweigert. Ich höre also der sechzehnjährigen Jackie Evanco zu, die die US-amerikanische Landeshymne »The Star Spangled Banner« (Das sternenbesetzte Banner) vorträgt. Kindlich rein singt sie den Text, der eine blutige Seeschlacht vor Baltimore im britisch-amerikanischen Krieg von 1812 beschreibt. Ein patriotischer Deutschamerikaner hat diesen Liedtext 1851 sinngetreu so übersetzt: »Hoch flattere die Fahne in herrlicher Pracht / beim Leuchten der Bomben durch dunkle Nacht.«

Mit Wehmut denke ich an den Auftritt der Jazz- und Soulsängerin Aretha Franklin zurück, die 2009 für die Amtseinsetzung von Barack Obama ein anderes patriotisches Lied aus dem 19. Jahrhundert darbot, »My Country ‘tis of thee« (Mein Land, von dir ist’s). Es war dieses Lied, das der schwarze Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King im August 1963 in seiner berühmten Rede »Ich habe einen Traum« zitierte. Die erste Strophe endet mit der Aufforderung »Let Freedom Ring«, lasst die Freiheit klingen. Die siebenundsechzigjährige Aretha Franklin im extravaganten Hut, selber eine bekannte Figur der Bürgerrechtsbewegung, sang die Worte damals so stolz und überzeugend, dass das Befreiende des historischen Tages, an dem der erste schwarze Präsident der USA sein Amt antrat, nicht zu überhören war.

Noch eine kleine, jedoch wichtige Besonderheit der heutigen Zeremonie: Der frischvereidigte Präsident präsentiert anders als die meisten seiner Vorgänger die USA nicht als »leuchtende Stadt auf dem Hügel«. Er appelliert nicht an hochstehende Ideale. Er ruft die Nation nicht, wie es in den Antrittsreden nach den jeweils polarisierenden Wahlkämpfen der Brauch ist, zu Versöhnung und Einigkeit auf. Er strömt keine kollektive Zuversicht aus, wie es Barack Obama mit seinem Slogan »Yes, we can« tat. Ganz im Gegenteil. Donald Trump malt die Lage der Nation in den düstersten Farben. Amerika sei ein Schlachtfeld, sagt er mit erhobenem Zeigefinger – und macht klar, dass er allein als weißer Ritter die Rettung bringen kann.

Am Abend werfe ich noch einen TV-Blick auf den ersten der großen Festtagsbälle, bei denen das frischvereidigte Präsidentenpaar jeweils wie ein Brautpaar bei der Hochzeit den Anlass eröffnet. Es ist kaum eine Überraschung, dass Donald Trump überhaupt nicht tanzen kann. Dazu müsste er ja Töne und Rhythmen wahrnehmen können, die von außen kommen – und seine Bewegungen danach richten. Das liegt ihm nicht. Unbeholfen stampft er von einem Fuß auf den andern. Erst als Vizepräsident Mike Pence und seine Frau auf die Tanzfläche treten, merkt man, dass das Stück – es ist bezeichnenderweise Frank Sinatras Oldie »I Did It My Way« (Ich hab’s auf meine Art getan) – eigentlich ein Walzer ist. 1-2-3 gewinnt das zweite Paar den inoffiziellen Tanzwettbewerb.

21. Januar

Beim Frühstück entscheiden mein Mann und ich spontan, diesen Samstagmorgen an einem Schnupperkurs über Bienenhaltung in der nahegelegenen Bibliothek von Montpelier teilzunehmen. Mein Mann liebäugelt mit der Imkerei. Ich finde es verlockend, für ein paar Stunden aus dem nasskalten grauen Winter und der nicht minder düsteren Politik in hellere, freundlichere Gefilde zu entfliehen. Ich freue mich auf Bilder von sattgrünen Sommerwiesen mit Blumen in allen Farben und summenden Bienen – und ich werde nicht enttäuscht. Die Referentin, selber erstaunlich bienenförmig und summend, erzählt uns von den Freuden (und nur andeutungsweise von den Leiden) des Imkerdaseins. Wir schwelgen in dieser Welt, wo nichts als Honig fließt.

Nach dem Kurs treffen wir auf der Straße vereinzelt Frauen in rosa Mützen, die wohl am »Women’s March« teilnehmen werden, der an diesem Nachmittag wie in Hunderten von anderen Städten auch in der Hauptstadt von Vermont geplant ist. Ich schlage vor, zu Hause schnell ein Sandwich zu essen, dann kann mich mein Mann, der zurzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht marschieren kann, ins nahegelegene Städtchen zurückchauffieren.

Dieser Zeitplan ist der zweite große politische Irrtum einer gestandenen Journalistin binnen kurzer Zeit. Im Herbst 2016 hatte ich verkannt, wie viele Menschen in den USA einem Mann wie Donald Trump ihre Stimme geben würden. Nun, gut drei Monate später, unterschätze ich, wie viele Menschen schon einen Tag nach seiner Amtseinsetzung auf die Straße gehen würden, um gegen diese Wahl zu protestieren.

Schon auf der Heimfahrt am späten Vormittag staunen wir über das für diese ländliche Gegend ungewöhnlich starke Verkehrsaufkommen. Eine Stunde später ist alles verstopft. Courant normal vielleicht für Stoßzeiten rund um Boston oder New York oder Zürich. Doch Montpelier ist mit weniger als achttausend Einwohnern die bevölkerungsärmste Hauptstadt aller US-Bundesstaaten. Woher kommen all diese Leute?

Wir wählen eine alternative Route über die lokale Autobahn – ein weiterer Fehler. Im Schritttempo legen wir die paar Kilometer zur Ausfahrt Montpelier zurück. Als wir dort ankommen, liegen Leuchtkörper auf der Straße und eine junge, sichtlich überforderte Polizistin fordert uns zum Weiterfahren auf. Diese Ausfahrt sei gesperrt, wiederholt sie immer wieder, während sich die Fahrzeugschlange langsam an ihr vorbeibewegt.

Wir rollen weiter. Vor und hinter uns und auch auf den Gegenfahrbahnen sehen wir Nummernschilder aus ganz Neuengland: Connecticut, Maine, Massachusetts, New Hampshire, Rhode Island. Auch Autos aus New York State und aus Kanada sind darunter. Viele Fahrer, hupen, winken, schwenken bunte Fahnen. Wir verlassen die Autobahn bei der nächsten Ausfahrt und fahren auf Schleichwegen nach Montpelier zurück.

Offenbar hatten wir Glück. Kurze Zeit danach wurde auch diese Ausfahrt geschlossen, höre ich später an der Demo. Die Polizei ist vom Verkehrsandrang offenbar derart überwältigt, dass sie an diesem Samstagmittag kurzerhand alle Ausfahrten nach Montpelier im Umkreis von zwanzig Kilometern sperrt. Viele Leute schaffen es also gar nicht bis zur Kundgebung. Denn nach Montpelier gibt es keine Bahnverbindung und es verkehren nur wenige Busse (und die fahren auf derselben verstopften Straße wie der übrige Verkehr). Das Privatauto, allenfalls in Fahrgemeinschaft, ist für diese Demo das einzige realistische Fortbewegungsmittel.

Mein Mann bringt mich an den Rand des Städtchens, wo der Women’s March beginnen soll. Es ist allerdings kein eigentlicher Marsch, denn die ganze Kundgebungsstrecke ist bereits mit Tausenden von Menschen gefüllt. Auffallend sind im Wintergrau die vielen gestrickten rosa Mützen mit Katzenohren. Diese »Pussy Hats« sind als Protest gegen Trumps Prahlerei entstanden, er könne ungestraft jeder Frau an die Pussy greifen. Pussy heißt auf Amerikanisch Kätzchen, ist aber auch ein Vulgärausdruck für Vagina. Stolz tragen an diesem Tag jüngere und ältere Frauen – und sogar etliche untersetzte Männer – ihre pinken Kätzchen auf dem Kopf. Und ja, auch in Montpelier ist wie an unzähligen Orten im ganzen Land dem lokalen Strickgeschäft im Vorfeld der Demo die rosa Wolle ausgegangen. (Ich selber habe die ganze Pussy-Hat-Kostümierung verschlafen und behelfe mich kurzentschlossen mit einer roten Strickmütze, immerhin mit rosa Rand.)

Mit der Zeit schließen die Teilnehmenden etwas näher auf, in Richtung Regierungsgebäude, wo die Reden gehalten werden. Das Wetter ist unfreundlich. Auf dem Versammlungsplatz liegt graubrauner Schneematsch. Doch die Stimmung ist gut. Auf den Plakaten wird alles gefordert, vom Weltfrieden bis zum fluorfreien Trinkwasser im eigenen Dorf. Immigration ist ein wichtiges Thema. Black Lives Matter ist visuell ebenso gut vertreten wie das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung. Umweltaktivistinnen erinnern an Standing Rock und auch die LGBQ-Gemeinschaft ist auf dem Platz. Ein Teenager hält ein Plakat hoch, auf dem steht »We shall overcomb«, ein hübsches Wortspiel aus dem Protestlied der Bürgerrechtsbewegung »We shall overcome« (Wir werden es schaffen) und der lächerlichen Frisurenwahl des neugewählten Präsidenten, der seine orangegelben Haare sorgfältig über allfällige Schwachstellen kämmt (ein sogenannter comb over).

Ich höre mir die ersten Reden an und schaue dabei den Kindern zu, die unbeschwert auf der Kanone herumturnen, die neben dem Regierungsgebäude zur Erinnerung an den Vermonter Navy-Admiral George Dewey und seine siegreiche Schlacht in der Bucht von Manila im spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 aufgestellt ist. Eine Mutter in rosa Mütze legt ihren schützenden Arm um das jüngste der Kinder und hält gleichzeitig ein Plakat in der Hand, das besagt »Diversity Makes America Great«, Vielfalt ist die Stärke von Amerika. Weiter unten stellt die Lehrerin einer Montessori-Klasse ihre Schüler zum Gruppenbild auf. Und gleich daneben steht ein Mädchen, ganz in Pink, das etwas schmollend für sich selber und eine bessere Zukunft wirbt: »Lily for President 2048!«

Auch Bernie Sanders, der sozialistische Senator und Beinahe-Präsidentschaftskandidat von 2016 hat am Women’s March in Montpelier einen kurzen Auftritt. Er sagt, Präsident Trump sei ein Lügner und Betrüger und Frauenfeind. Er wolle diese bunte Gruppe aus Protestierenden gegeneinander ausspielen. Wir dürften das jedoch nicht zulassen. Sein Statement ist wie immer nüchtern, kein rhetorisches Feuerwerk, doch der Applaus ist frenetisch und hält lange an.

Ich höre weiter zu, bis meine Füße unangenehm nass und kalt werden. Dann gehe ich der Hauptstraße entlang heimwärts. Ein Polizist leitet den Fußverkehr und gratuliert uns zur großen Demo. Er sagt: »Wenn ich nicht Dienst hätte, wäre ich ganz bestimmt auch dabei.« Neben mir geht eine ältere Frau mit grellrosa Pussyhat, ich schätze sie auf Mitte achtzig, langsam und vorsichtig auf dem glitschigen Trottoir. Ich biete ihr meinen Arm an. Sie hängt sich ein und beginnt von ihrer langen Protestgeschichte zu erzählen. Sie schildert, wie sie die Bürgerrechtsmärsche von Selma nach Montgomery im März 1965 erlebt hat. Sie erinnert sich an ihre Angst vor den Rassisten und an die brutale Gewalt der Ordnungskräfte. Sie war bei den Antivietnamprotesten der Siebzigerjahre mit dabei, ebenso bei der Antiatombewegung der Achtzigerjahre. Sie hat für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frauen gekämpft. Jetzt, so meint sie, müsse man bei allem wieder quasi von vorne anfangen. »Ich kann nicht glauben, dass ich immer noch gegen diese Scheiße protestieren muss«, sagt sie, bevor sie sich verabschiedet. Sie ist etwas bitter und ziemlich zornig. Die Füße tun ihr weh vom langen Stehen. Doch sie denkt nicht im Traum daran, den Kampf gegen Ungerechtigkeit aufzugeben. »Resist!«, ruft sie mir nach, »wehre dich!«, und lacht, als ob lebenslanger Widerstand ganz einfach wäre.

23. Januar

Über vier Millionen Menschen sind in den USA am Samstag in fünfhundert größeren und kleineren Städten gegen Trump & Co. auf die Straße gegangen. Der Women’s March war die größte Demonstration in der US-amerikanischen Geschichte. Und im Gegensatz zu andern großen Protesten, etwa Kundgebungen gegen den Krieg in Vietnam in den Siebzigerjahren oder die Atomkraft in den Achtzigerjahren, ist diese Bewegung sozusagen über Nacht gewachsen. Der aktuelle Protest ist spontaner, individualistischer, dezentraler, umfassender und gewaltloser als frühere Aufstände – und er ist mehrheitlich weiblich!

Ich tippe heute den vierten und letzten Teil des Monatsinterviews mit Laura Flanders ab. Auch sie staunt im Gespräch, das ich gleich nach ihrer Rückkehr vom Women’s March in Washington DC mit ihr geführt habe, über die Größe und Energie der Demonstrationen. »Ein richtiger Volksaufmarsch!«, sagt sie begeistert. »Wir erleben einen antihegemonialen Moment!«

Meine Töchter und Freundinnen erzählen mir per Telefon, Skype und Mail Anekdoten von den Kundgebungen in ihren jeweiligen Städten. Sie schildern immer wieder ungläubig die schiere Masse der Demonstrierenden, die fantasievollen Slogans und die Vielfalt der Demozüge, in denen wohl jede demografische Bevölkerungsgruppe vertreten war. Wir sind alle froh, bei diesem historischen Ereignis dabei gewesen zu sein, und sonnen uns noch einmal im Erfolg und Optimismus des denkwürdigen Tages. »Afterglow« nennt man hier dieses herzerwärmende Gefühl, ein Nachglimmen des großen Feuers.

Februar 2017

Winterstarre

1. Februar

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und eine noch so große Demo allein bewirkt noch keine gesellschaftspolitische Veränderung. Doch wie kommt es, dass Millionen von protestierenden Bürgerinnen und Bürgern in einer Demokratie wie den USA in der offiziellen Politik wenig bis nichts auslösen?

Präsident Trump twittert nach dem Women’s March sinngemäß, er wisse gar nicht, was diese Frauen nun alle wollten. Er habe doch erst vor kurzem die Wahlen gewonnen. (Er erwähnte natürlich nicht, dass er seinen Sieg dem antiquierten System des Wahlmännerkollegiums verdankt und nicht etwa dem Volksmehr. Denn Donald Trump erhielt rund drei Millionen Stimmen weniger als seine demokratische Konkurrentin Hillary Clinton.)

Der Women’s March an sich interessiert den Präsidenten nicht. Es ärgert ihn bloß, dass die Anti-Trump-Demonstration als Reality-Fernsehereignis mit seiner Amtseinsetzung konkurrierte. Und wie sie das tat! Allein in der Hauptstadt Washington DC versammelten sich beim Women’s March rund dreimal so viele Menschen wie bei der Vereidigung am Tag zuvor. Der Unterschied im Straßenbild war unübersehbar und kränkte den publikumssüchtigen Trump zutiefst.

So eine Schlappe kann nicht sein! Sie darf nicht sein!! Also ändert der »mächtigste Mann der Welt« ganz einfach die Realität mit absurden Behauptungen über die Größe seines Publikums. Wer ihm widerspricht, wird ins gegnerische Lager der »Fake News«, der Falschnachrichten, verbannt. Und wenn Trump schon dabei ist, den Anlass zu retuschieren, so beseitigt er kurzerhand auch noch den Regen, der während seiner Antrittsrede auf die festlich gekleidete Prominenz tropfte. In der Fernsehübertragung des Zeremoniells konnte man gut sehen, wie die Militärs in ihren prächtigen Ausgehuniformen mit Schirmen und Plastikpelerinen hin und her eilen. In der neuen, von Trump geschönten Version der Wirklichkeit jedoch, herrscht – solange der Regent redet – eitel Sonnenschein. Selbst der Himmel beugt sich offenbar seiner Größe.

Diese Episode ist lächerlich. Und sie ist gefährlich. Es ist einerseits höchst albern, Dinge zu behaupten, die von jedermann ohne viel Aufwand und klar widerlegt werden können. Für die Satiresendungen in den USA sind Präsident Trumps Kindereien ein gefundenes Fressen. Es ist aber auch bedrohlich, wenn ein Mann in einer derart verantwortungsvollen politischen Position nicht einmal beim Wetter zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden kann oder will. Wenn es in einer Demokratie keine kritischen Bürgerinnen und Bürger mehr geben soll, sondern bloß noch Gläubige und Ungläubige und einen selbsternannten Halbgott.

5. Februar

Ich trinke meinen Morgenkaffee, schaue auf unsere verschneite Küchenveranda und nehme beiläufig wahr, dass das Treppengeländer hinunter zum Garten gute fünf Zentimeter über den Rest der Brüstung hinausragt. Diese merkwürdige Verschiebung ist eine Folge der langanhaltenden Kälteperiode in Vermont. Das Wasser im Boden gefriert, dehnt sich aus und stößt das Holzgeländer nach oben, nicht aber die Terrasse selbst, deren Pfeiler bis unter die Frostgrenze reichen. In ein paar Monaten, nach dem Tauwetter, wird sich das Treppengeländer samt den drei Stufen wieder senken und die Geländer der rostrot gebeizten Terrasse und der Treppe werden erstaunlich genau aufeinanderpassen. Jedenfalls bis zur nächsten Eiszeit.

Eine einfache, doch äußerst elegante Konstruktion – robuste Metallstifte im hölzernen »mobilen« Treppenpfosten, ein passender Gleitschaft am stabilen Verandabalken – erlaubt dieses materialschonende Mitgehen mit extremen Witterungen. Die Treppe bewegt sich im Jahreszeitenrhythmus auf und ab, ohne je die Richtung zu verlieren oder aus dem Lot zu geraten.

Ich sehe nochmals genau hin, verbiete mir aber jeden metaphorischen Exkurs ins Politische. Ich schütte den kaltgewordenen Kaffee in den Ausguss und kümmere mich um das schmutzige Geschirr.

8. Februar

Seit Tagen will ich aufschreiben, was Donald Trump sich in den ersten Wochen seiner Amtszeit bereits geleistet hat. Man sagt ja, sobald man eine Sache benennen könne, verliere sie etwas von ihrer Bedrohlichkeit. Doch wenn ich die hasserfüllte, niederträchtige Politik des neuen Präsidenten im Detail anschaue, wirkt sie vorerst eher noch beunruhigender.

22. Januar. Regierungsberaterin Kellyanne Conway bezeichnet Donald Trumps allzu leicht widerlegbare Lügen als »alternative Fakten«.

24. Januar. Präsident Trump gibt den Weg frei für den Bau der Ölleitung Keystone XL und auch für die unterirdische Rohrleitung Dakota Access, gegen die Native Americans und Umweltschützerinnen gemeinsam im Standing-Rock-Reservat protestierten.

27. Januar. Präsident Trump unterschreibt Verfügung Nr. 13 769, die die Aufnahme von Flüchtlingen in den USA auf ein Minimum begrenzt und die Einreise von Menschen aus Syrien dauerhaft, die aus den Ländern, Irak, Iran, Jemen, Libyen, Somalia und Sudan für neunzig Tage sperrt. Gegen diesen sogenannten »Muslim Ban« wird sogleich auf US-Flughäfen protestiert, und mehrere Organisationen wollen den Rechtsweg beschreiten.

1. Februar. Neil Gorsuch wird von Donald Trump als Mitglied des neunköpfigen Supreme Court auf Lebenszeit nominiert. Dass ein rechtskonservativer Präsident einen rechtskonservativen Richter vorschlägt, ist nicht außergewöhnlich. Das Stoßende an dieser Nomination ist, dass der republikanisch dominierte Kongress den vom vorherigen demokratischen Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten ohne Anhörung blockiert hatte, bis Obamas Amtszeit vorbei war. Das Oberste Gericht ist in den USA hart umkämpft, weil es unglaublich großen politischen Einfluss hat. Gesellschaftliche Veränderungen wie etwa die Bürgerrechte der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner, das Recht der Frauen auf straffreien Schwangerschaftsabbruch oder die Homo-Ehe wurden alle durch Supreme-Court-Entscheide nicht nur abgesichert, sondern auch beschleunigt oder in gewissen besonders konservativen Regionen der USA überhaupt erst erzwungen.

2. Februar. Aufgrund von Trumps Versprechungen rechnet das Ministerium für Innere Sicherheit mit dem Bau der Mauer zwischen den USA und Mexiko innert zwei Jahren.

3. Februar. Eine weitere präsidentielle Verfügung leitet die Deregulierung des Bankengeschäfts ein.

7. Februar. Elisabeth Warren, demokratische Senatorin aus Massachusetts, verliest im Parlamentssaal einen Brief der Witwe von Martin Luther King. Coretta King hatte sich 1986 gegen die Wahl des damaligen Bundesstaatsanwalts Jeff Sessions zum Bundesrichter im Südstaat Alabama gewehrt. Sie schrieb: »Wer die Macht seines Amts als US-Staatsanwalt missbraucht, um mittels Einschüchterung und Abschreckung die freie Ausübung der Stimmabgabe von Bürgerinnen und Bürgern zu verhindern, sollte bei uns nicht zum Richter erhoben werden.« Rund dreißig Jahre später will Warren aus dem Brief zitieren, um die Wahl ebendieses rassistischen Jeff Sessions zum Justizminister der USA zu verhindern. Sie kommt nicht weit. Weil Jeff Sessions mittlerweile Senator geworden ist, verbietet der Senatsführer seiner Ratskollegin Warren, den Brief vorzulesen. Er sagt, das Schreiben beleidige den Senatskollegen Sessions und auch die Würde der ganzen Kammer. Als die Senatorin es trotzdem versucht, wird sie umgehend aus dem Saal verwiesen.

8. Februar. Jeff Sessions wird mit 52 zu 47 Stimmen, von allen Republikanern und einem einzigen Demokraten, als Justizminister bestätigt.

Diese Auswahl von Nachrichten zeigt, was so alles auf uns zukommt. Die neue Regierung ist eine Propagandamaschine, die sich einen Deut um die Wahrheit oder Glaubwürdigkeit schert. Der Umgang mit der Umwelt und die Wirtschaft insgesamt sollen vermehrt dereguliert werden. Freie Bahn dem Kapital. Dafür Mauern und Grenzen gegen Menschen, vor allem solche, die nicht weiß und christlich sind. Rechte, die sich Frauen und Minderheiten erkämpft haben, sind wieder in Frage gestellt.

Das Verwirrende an der gegenwärtigen US-Politik ist, dass sie gleichzeitig aggressiv, neoliberal und dynamisch ist, aber auch rückwärtsgewandt, protektionistisch und starr. Der Rechtspopulist Donald Trump will die Feinde einsperren, die Presse zum Schweigen bringen, die Immigration aufhalten, die gute alte Schwerindustrie zurückholen, klare traditionelle Geschlechterrollen wiederherstellen (und alles »Diffuse«, zum Beispiel Transgenderpersonen, ignorieren oder gar ächten), Abtreibung verbieten, Menschen anderer Hautfarbe in die Schranken weisen. Der Kapitalist Donald Trump hingegen gehört zum einen Prozent der Superreichen, er ist Mitglied einer kleinen wirtschaftlichen Elite und vertritt deren globale Spezialinteressen. Er will die Marktwirtschaft noch freier von sozialen und ökologischen Leitplanken und den (Sozial-)Staat noch schwächer machen. Zurück in die Zukunft also?

9. Februar

Meine Umgebung reagiert unterschiedlich auf die neue politische Situation. Manche Bekannten schreiben fast täglich an ihre Abgeordneten im Kongress, um gegen die Politik von Präsident Trump zu protestieren. Die Mutigeren rufen die Parlamentarier sogar an. In den Lokalzeitungen erscheinen Leserbriefe von Leuten, die sich sonst wohl nur selten schriftlich äußern. Manche jungen Menschen in größeren Städten haben Kundgebungen und Protestmärsche zum festen Bestandteil ihres Ausgehprogramms gemacht. Kürzlich besuchte ich ein klassisches Konzert, bei dem sich die Flötistin spontan mit ihren Musikerkollegen aus den sogenannten Muslimstaaten solidarisierte.

Mein Mann hat sich einer lokalen Gruppe angeschlossen, die ihren Dissens mittels Gedichten und Liedern formulieren will. Was er von den Treffen erzählt, erinnert an Versuche kollektiver Kreativität in den Siebzigerjahren. Die meisten Mitglieder des Projekts sind in dieser Zeit großgeworden und erinnern sich jetzt an ihr Engagement und das ermutigende Gefühl von Solidarität.

Meine erwachsenen Kinder wollen über die absurde Situation lachen können. Sie schicken mir Links zu politischen Satiresendungen mit Moderatoren wie Trevor Noah, John Oliver, Stephen Colbert oder Samantha Bee, denen der neue Präsident reichlich Stoff liefert für unterhaltsamen Spott und Hohn.

Eine ältere Bekannte hingegen erzählt, dass ihr schwer kranker Mann nach der Trump-Wahl so depressiv geworden sei, dass sie ihm als Therapie einen kleinen Hasen geschenkt habe. Ein weiches, warmes Tierchen, das er in den Arm nehmen und streicheln kann. Ein Geschöpf, das munter hüpft und schnüffelt und neugierig ist auf das Leben.

Ich selber zahle vergleichsweise nüchtern einen monatlichen Beitrag an die von Bernie Sanders initiierte Gruppierung »Our Revolution«, die sowohl auf parlamentarischem wie außerparlamentarischem Weg fortschrittliche Projekte und Politikerinnen unterstützt. Und ich führe Tagebuch.

12. Februar

Greenpeace Schweiz hat mich angefragt, ob ich eine Reportage über die Quäker in den USA machen würde. Der Beitrag ist als Teil einer Schwerpunktnummer zum Thema Ökologie und Spiritualität geplant. Ich sage zu, weil ich die Fragestellung interessant finde: Setzen wir uns intensiver, nachhaltiger und politisch radikaler für unsere Umwelt ein, wenn wir diese über die sinnliche Wahrnehmung und das naturwissenschaftliche Verständnis hinaus als Schöpfung sehen?

Ich nehme den Auftrag auch deshalb an, weil ich die Zeit, die ich während meines USA-Austauschjahrs Anfang der Siebzigerjahre in einer Quäkerschule in New York City verbrachte, in bester Erinnerung habe. Die Schülerinnen und Schüler und auch die Lehrerschaft waren damals freundlich, überraschend weltoffen und konsequent pazifistisch, was während des Vietnamkriegs alles andere als selbstverständlich war.

Und nicht zuletzt werden mich die Besuche bei lokalen Quäkergemeinschaften vielleicht aus der Winterstarre befreien, die mich nach der Trump-Wahl befallen hat. Ich werde auf Menschen treffen, die sich nicht erst seit gestern für eine sozialere und ökologischere Welt einsetzen. Wie machen sie das nur?

14. Februar

An einem trüben Wintertag stehe ich vor dem unauffälligen Haus in Burlington, in dem sich die lokale Quäkergemeinschaft jeweils am Sonntag und am Mittwoch zu einer stillen Andacht trifft. Die Tür ist verschlossen. Es ist niemand da. Ich friere und ich frage mich, ob ich mich in der Adresse oder im Kalenderdatum geirrt haben könnte. Ich merke, wie viel Energie es mich seit meiner Ankunft in Vermont kostet, neue Orte zu finden, neue Leute kennenzulernen, neue Verbindungen zu knüpfen und mit jedem Tag ein wenig mehr Vermonterin zu werden.

Die Tür geht auf. Ich trete ein in eine mir unbekannte Welt, die ich in meiner Reportage so beschreibe:

»An diesem Anfang ist die Stille. Eine ganze Stunde lang sitzen wir, zwei Männer und zwei Frauen, uns wortlos gegenüber. Der Raum im Begegnungshaus der Quäker in Burlington ist hell und schmucklos, er erinnert an ein Schulzimmer aus dem 19. Jahrhundert. Die Mitschweigenden heißen John, Adam und LVM. Wir haben uns vor der Andacht (dem sogenannten Meeting for Worship) die Hand gegeben und uns mit Vornamen vorgestellt, ohne Fragen, ohne Erklärungen. Und nun sind wir gemeinsam still – eine eigenartig intime Begegnung. Ich denke an meine anspruchsvolle journalistische Aufgabe: Wie kann ich diese stumme Gruppe von Quäkern, diese Mitglieder der Religiösen Gesellschaft der Freunde, wie sie mit vollem Namen heißen, stimmig porträtieren?

Ich sehe: John, der uns das Gebäude aufgeschlossen hat, ist ein in Auftreten und Kleidung bescheidener Mann um die sechzig, er sitzt sehr ruhig und gelassen da. LVM, eine Afroamerikanerin um die siebzig, strahlt selbst im Schweigen viel Selbstbewusstsein aus. Sie hat sich in Kleiderschichten aus satten Farben gehüllt, ganz eigenwillige Bohémienne. Adam, mein Sitznachbar, ist ein Mittzwanziger und trägt die altersgerechte Studentenuniform aus farbiger Trainingshose und Kapuzenpulli. Ihm fällt das Stillsitzen nicht so leicht. Er verschränkt die Beine, die Arme und die Finger immer wieder neu. Doch er findet stets zurück in die Konzentration. Genug gestarrt. Ich schlage meine Augen nieder auf die beruhigende Farbkombination des Teppichs: taubenblau, altrosa, hell- und dunkelgrau. Ähnelt das Muster nicht einem Vogel Greif mit weit ausholenden Schwingen? Auf einmal plärrt ein Mobiltelefon in die zeitlose Stille. John erklärt die Andacht für beendet. Wir bleiben sitzen und ich erkläre, dass ich vorab als Beobachterin und Berichterstatterin da bin. Ich möchte das Vertrauen und die Gastfreundschaft der Anwesenden nicht ausnutzen.