image

image

Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Druck und Verarbeitung:

Christian Theiss GmbH, St. Stefan im Lavanttal

ISBN 978-3-7117-2072-6

eISBN 978-3-7117-5380-9

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Aleida Assmann, geboren 1947, Studium der Anglistik und Ägyptologie in Heidelberg und Tübingen. 1977 Promotion, 1992 Habilitation, 1993 Berufung auf den Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der UniversitÄt Konstanz. Zahlreiche Fellowships und Gastprofessuren. In der Reihe Wiener Vorlesungen erschien »GenerationsidentitÄten und Vorurteilsstrukturen in der deutschen Erinnerungsliteratur« (2006) sowie »Auf dem Weg zu einer europÄischen GedÄchtniskultur?« (2012). 2018 erscheint »Menschenrechte und Menschenpflichten. Auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag.« Aleida Assmann wird gemeinsam mit Jan Assmann mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2018 ausgezeichnet.

ALEIDA ASSMANN

Menschenrechte und
Menschenpflichten

Schlüsselbegriffe für eine
humane Gesellschaft

PICUS VERLAG WIEN

Für Lionel, Anselm, Maxime, Fritz und Luka

INHALT

VORWORT

ERSTER TEIL:
MENSCHENRECHTE UND MENSCHENPFLICHTEN

EINLEITUNG

1. DIE KRISE DER EU

Migration als eine europäische Erfahrung

Europas Verwandlungen

Europas Spaltung

2. WIE GEHEN WIR MITEINANDER UM?

Altägyptische Weisheit und ihre Regeln des guten Zusammenlebens

Die sieben Werke der Barmherzigkeit

Exkurs: Die Bach-Kantate »Ein ungefärbt Gemüte«: Eine musikalische Anleitung zur Zivilität

Humane Tugenden (Siegfried Kracauer)

3. MENSCHENRECHTE

Genese und Geschichte der Menschenrechte

Geltung und Reichweite der Menschenrechte

4. MENSCHENPFLICHTEN

Der enge Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenpflichten

Zehn Thesen zur deutschen Leitkultur

Die Goldene Regel

Die Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten

ZWEITER TEIL:
SCHLÜSSELBEGRIFFE FÜR EINE HUMANE GESELLSCHAFT

1. ZUR GESCHICHTE DER HÖFLICHKEIT

Einsamkeit oder Geselligkeit?

Die neue Norm der Geselligkeit

Die neue Norm der Sozialität/Zivilität

2. ANERKENNUNG UND RESPEKT

Anerkennung

Die soziale Konstruktion individueller Identität durch Distinktion

Die kulturelle Konstruktion kollektiver Identität durch Differenz

Respekt

Vier Formen von Respekt

Möglichkeiten und Grenzen des Respekts – von kultureller Differenz zu Rahmenbedingungen kultureller Koexistenz

3. EMPATHIE UND ÄHNLICHKEIT

Grenzen und Gradierung der Empathie

Ähnlichkeit

Ähnlichkeit und Empathie

AUSBLICK

TEXT-ANHANG

Thomas de Maizières Thesen zu einer Leitkultur für Deutschland

Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten 1997

VORWORT

Vor über zwanzig Jahren hat der israelische Philosoph Avishai Margalit ein Plädoyer für eine Politik des Anstands veröffentlicht.1 Indem er von der Frage nach der gerechten Gesellschaft zur Frage nach der anständigen Gesellschaft überging, hat er einen wichtigen theoretischen Perspektivenwechsel eingeleitet. Eine anständige Gesellschaft definiert Margalit als eine Gesellschaft, deren staatliche Institutionen niemanden herabsetzen, beleidigen oder anderweitig demütigen. In seinem Buch spielt der Begriff der Ehre eine große Rolle, den er mit Selbstachtung gleichsetzt und den er für die politische Diskussion rehabilitieren möchte. (52) Während Selbstwertgefühl, Stolz und soziale Ehre auf eigenen Leistungen beruhen und im Sinne eines Mehr oder Weniger graduierbar sind, ist die Selbstachtung ein egalitäres Konzept, das auf der Zugehörigkeit zum Menschsein gründet. An diesem Punkt führt Margalit den Begriff der Würde ein: »Würde ist ein Ausdruck der Achtung, die Menschen aufgrund ihres Menschseins sich selbst entgegenbringen.« (61) Die Verletzung dieses Wertes vergleicht er in religiöser Metaphorik mit der Entweihung eines Tempels.

In der Folge von Margalit wurde das Konzept der Selbstachtung, das ein Selbstverhältnis beschreibt und sich auf gleichberechtigte Individuen bezieht, durch den Begriff der Anerkennung ergänzt, der das Konzept der Würde von Anfang an auf interpersonale Beziehungen gründet.2 Nicht die Selbstachtung aufgrund des eigenen Menschseins wäre demnach der Ursprung des Konzepts der Würde, sondern ihre An- oder Aberkennung durch andere. Die Konstellation von Ich und Du, der Mensch in der Rolle des Mitmenschen und die Selbstwerdung durch Anerkennung des Anderen und durch Andere ist eine Denktradition, die seit den zwanziger Jahren besonders von jüdischen Denkern entdeckt und als ein Gegenmodell zur selbstgenügsamen Tradition deutscher Ich-Philosophie entwickelt wurde.3

Diese philosophischen Traditionen und ihre Fragestellungen haben angesichts des Zerfalls verbindlicher Ideologien und verbindender Theorien eine neue Aktualität gewonnen. Gleichzeitig haben sich die Voraussetzungen für diese Grundfragen der Menschenwürde und Mitmenschlichkeit unter postkolonialen und globalisierten Verhältnissen noch einmal erheblich verändert. Margalit hat sich in seinem Buch über die Politik der Würde sprachlich auf die negative Seite des Befunds konzentriert und spricht von Demütigung, Beschämung, Erniedrigung und Verhöhnung. Warum beschreibt er die anständige Gesellschaft »negativ, als eine nicht-demütigende Gesellschaft, statt vielmehr positiv, sagen wir als eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder respektiert?« Seine Antwort auf die Frage lautet: »Es ist sehr viel dringender, unerträgliche Übel zu beseitigen, als Gutes zu schaffen. Demütigung ist ein schmerzliches Übel, Achtung hingegen ein Gut. Demütigung zu vermeiden sollte daher wichtiger sein, als Achtung zu zollen.«4

Ich möchte Margalits nachvollziehbarer Entscheidung ein Argument von Richard Sennett gegenüberstellen. Er wiederum hat auf eine Lücke in unserer Begrifflichkeit hingewiesen, als er feststellte: »Modernen Gesellschaften fehlen positive Ausdrucksformen für Respekt und die Anerkennung von anderen über soziale Grenzen hinweg.«5 Seit der Millenniumswende sind zunehmend positive Begriffe aufgetaucht, die sich in unserem post-ideologischen Zeitalter als Orientierungsvokabeln anbieten und auch schon eine beachtliche Verbreitung und Konjunktur erfahren haben. Zu ihnen gehören Begriffe wie »Anstand«, »Höflichkeit«, »Zivilität«, »Anerkennung«, »Respekt« und »Empathie« – Begriffe, die in der Alltagssprache verwurzelt und präsent sind, aber selten auf ihre Geschichte und ihren Bedeutungsumfang hin befragt werden. Hier kann eine literaturhistorische und kulturwissenschaftliche Betrachtung einspringen und die philosophischen oder rechtlichen Beschreibungen ergänzen. Wie ich zeigen möchte, stammen diese Begriffe aus unterschiedlichen Kontexten, haben ihre je eigenen Genealogien und Anwendungsbereiche. Sie sind alle nicht neu, tauchen aber nun in kulturellen, sozialen und politischen Diskursen mit einer neuen Dringlichkeit wieder auf. Sie alle verbinden sich mit der Anstrengung, etwas zu sichern, das gerade an Selbstverständlichkeit und Evidenz verliert, oder dem Wunsch, wiederherzustellen, was über längere Zeit in Verruf oder Vergessenheit geraten ist. Warum mussten diese Begriffe erst wiederentdeckt werden? Tatsächlich waren sie eine Weile »out«. Sie passten nicht zum Befreiungspathos der Achtundsechziger-Bewegung. Höflichkeit galt als konservativ oder gar als reaktionär; sie stand für äußeren Zwang und kollidierte mit Konzepten der individuellen Spontaneität und Authentizität. Anerkennung kollidierte mit positiven Normen wie Kritik und Herausforderung. Respekt klang hoffnungslos altmodisch und abgelebt, und eine Wiederentdeckung der Empathie und der Bedeutung von Gefühlen wurde überhaupt erst 2000 mit neuen Entdeckungen der Hirnforschung möglich.

Dass sich in diesem Punkt gerade etwas ändert, beweisen zwei aktuelle Publikationen, die sich der Geschichte der Höflichkeit und der Geschichte der Anerkennung annehmen und uns dabei die Bedeutung dieser Begriffe für die Gegenwart nahebringen. Der englische Kulturhistoriker Keith Thomas hat soeben ein Buch über die Geschichte der Höflichkeit in der frühen Neuzeit veröffentlicht, in dem er drei Thesen formuliert.6 Die erste ist, dass sich die Standards dessen, was als zivilisiert gilt, in der Geschichte ständig verschieben. Die zweite ist, dass der Gegensatz zwischen »roh« und »zivilisiert« über weite Strecken der Geschichte dazu benutzt wurde, Menschen in Gruppen zu teilen, um sie besser bekämpfen oder ausbeuten zu können. Seine dritte These, an die ich mich im Folgenden anschließen möchte, betrifft die Zivilisierung der Kommunikation. In Zeiten von Religionskämpfen und sozialen Konflikten hat die Entwicklung eines höflichen Kommunikationsstils, der frei ist von Niedertracht, Gewalt und Erniedrigung, Menschen geholfen, tiefgehende und latent gefährliche Unterschiede in der Gesellschaft zu überbrücken und harmonisch zusammenzuleben. Zurückhaltung, Toleranz und gegenseitiges Verstehen zählt Thomas zu den notwendigen Voraussetzungen für menschliches Zusammenleben. Der deutsche Philosoph Axel Honneth hat gerade eine »europäische Ideengeschichte« des Begriffs der Anerkennung vorgelegt, in der er unterschiedliche nationale Traditionen dieses Begriffs rekonstruiert.7 Auch er betont die Bedeutung einer solchen Untersuchung für die Gegenwart: »Es ist wichtig für unsere demokratische Kultur, sich die historischen Ursprünge und Entwicklungen derjenigen Ideen oder Begriffe vor Augen zu führen, von denen unser politisch-soziales Zusammenleben bis heute nachhaltig geprägt ist.« (13)

Dieser Band versteht sich als ein weiterer ideen- und kulturgeschichtlicher Vorstoß in dieser Absicht. Begriffe, die zum Teil eine lange professionelle Diskussion in rechtlichen, historischen und philosophischen Disziplinen hinter sich haben, sollen hier einmal aus dem Kokon der Spezialistendiskurse herausgeholt, mit anderen Begriffen zusammengestellt und auf ihr kulturelles, ethisches, soziales und politisches Potenzial für das 21. Jahrhundert befragt werden. Die Kandidaten, die im Folgenden vorgestellt und auf ihre mögliche Rolle als Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft hin untersucht werden, sind Menschenrechte und Menschenpflichten, Höflichkeit und Sozialität, Anerkennung und Respekt, Empathie und Ähnlichkeit.

Der Band Menschenrechte und Menschenpflichten ist aus einer Wiener Vorlesung hervorgegangen, zu der mich Hubert Christian Ehalt angeregt hat, dem ich für seine Unterstützung, Kritik und Freundschaft herzlich danke. Die Möglichkeit, diesen Band ein Jahr später durch einen zweiten Teil zu ergänzen, der Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft vorstellt und diskutiert, verdanke ich der Jury, die Jan Assmann und mir den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 zuerkannt hat. Indem sie plötzliche Aufmerksamkeit auf dieses unscheinbare Bändchen gerichtet hat, ermutigte sie mich und den Verlag zu dieser erweiterten Neuauflage. Ich danke Alexander Potyka und Barbara Giller vom Picus Verlag, dass sie mich bei der Umsetzung dieses Projekts unter erheblichem Zeitdruck so kompetent und verständnisvoll begleitet haben.

1 Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung (1996), Berlin 2012. Vgl. auch: Friedrich F. Bresina, Die Achtung. Ethik und Moral der Achtung und Unterwerfung bei Immanuel Kant, Ernst Tugendhat, Ursula Wolf und Peter Singer. Wiener Arbeiten zur Philosophie: Reihe B: Beiträge zur philosophischen Forschung, Band 3, Frankfurt a. M. 1999.

2 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 2003.

3 Martin Buber, Ich und Du; Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928), Darmstadt 1961; Emanuel Levinas, Humanismus des anderen Menschen. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenzler, Hamburg 1989.

4 Margalit, Politik der Würde, 16.

5 Richard Sennett, Respect in a World of Inequality, New York 2003, xv.

6 Keith Thomas, In Pursuit of Civility. Manners and Civilization in Early Modern England, New Haven 2018.

7 Axel Honneth, Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018.

ERSTER TEIL
MENSCHENRECHTE UND MENSCHENPFLICHTEN

EINLEITUNG

Es gibt Themen, die man entdeckt, mit denen man sich beschäftigt, und die nach einem langen Intervall wieder zu einem zurückkommen. So ging es mir mit dem Thema Weisheit, das ich Anfang der neunziger Jahre für mich entdeckte. Es faszinierte mich als ein Thema, das von keiner einzelnen Disziplin besetzt worden war und besetzt werden kann. Es reicht zurück in die Anfänge der Kulturen, manifestiert sich in verschiedenen Traditionen und zeigt sich ebenso in literarischer wie in lebenspraktischer Gestalt.8 Die Wiederbegegnung mit der Weisheit ereignete sich für mich unerwartet unter dem Begriff der »Menschenpflichten«, ein Stichwort, das ich mir unvorsichtigerweise und ohne klare Vorkenntnisse und Thesen als Thema für eine Wiener Vorlesung ausgesucht hatte. Was mich leitete, war nichts als die Neugier und der Wunsch, mehr über diesen Begriff und sein Verhältnis zu den Menschenrechten zu erfahren.

Bei der Recherche und Arbeit an diesem Thema habe ich von drei Kontexten profitieren können, die mich sehr angeregt und die mir geholfen haben, meine Gedanken zu entwickeln. Der erste Kontext war eine Wiener Vorlesung, die ich in einem öffentlichen Gespräch im Sendehaus des Österreichischen Rundfunks mit Hubert Christian Ehalt diskutieren durfte. Der zweite Kontext war die Aufführung einer Bach-Kantate in Trogen (Schweiz), wo ich die Ehre hatte, eine Reflexion über den Text der Kantate beizusteuern. Der dritte Kontext war ein Vortrag im Kindermuseum ZOOM in Wien, zu dem mich Elisabeth Menasse animiert und eingeladen hat. Hier hatte ich die wunderbare Gelegenheit, das Thema kindgerecht aufzubereiten und mit den Kindern zu diskutieren.

Weitere wichtige Impulse verdanke ich Norbert Thomassen vom InterAction Council, der mir die Publikation Verantwortung zugeschickt hat, und Stephan Schmid-Keiser von der Schweizerischen Kirchenzeitung. Ein besonders herzlicher Dank geht ans IFK, wo ich vom März bis Juni 2016 forschen durfte, an einer Siegfried-Kracauer-Tagung teilnehmen konnte und die allerbesten Gesprächspartnerinnen fand. Aber auch das IWM war während dieses Aufenthalts unschätzbar; ich danke Shalini Randeria für wichtige Anregungen und Till van Rahden für seine Ideen, sein Interesse und die prompte und regelmäßige Versorgung mit aktueller Forschungsliteratur.

8 Aleida Assmann (Hg.), Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III, München 1991.

1. DIE KRISE DER EU

MIGRATION ALS EINE EUROPÄISCHE ERFAHRUNG

Die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Migration hat in Europa eine lange Geschichte. Heute, unter dem Eindruck der aktuellen Massenflucht, ist sichtbar geworden, was lange Zeit durch andere Ereignisse überlagert war: In ihren vielen Gestalten von Umsiedlung, Deportation, Flucht und Vertreibung ist Migration ein zentraler Teil der europäischen Gewaltgeschichte, die 1945 keineswegs ein Ende fand, sondern sich weit in die Nachkriegszeit fortsetzte. Aber auch freiwillige Migrationsbewegungen begannen nach dem Zweiten Weltkrieg mit Rückwanderungsbewegungen aus ehemaligen Kolonien und sogenannten »Gastarbeitern« aus Südeuropa und außereuropäischen Ländern, die inzwischen in der dritten Generation in Europa leben. Diese lange Migrationsgeschichte hat bislang noch kaum klare Konturen in der europäischen Erinnerungskultur erhalten. Dafür fehlt vorerst noch ein Narrativ, und das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass es sich hier um eine im wahrsten Sinne des Wortes »unendliche Geschichte« handelt, die sich in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten wiederholt.

Auch nach 1989 kam es in Europa noch einmal zu erheblichen Bevölkerungsverschiebungen. Der Vergleich zwischen 1989 und 2015 ist instruktiv, denn er macht deutlich, welche Unterschiede und Herausforderungen mit der gegenwärtigen Migration auf die EU zukommen. Wolfram Eilenberger hat aus der Gegenwartsperspektive über den Herbst 1989 geschrieben: »Der Fall der Mauer bedeutete einen enormen Mobilitätsschub. Im Zeichen der Freiheit ordnete er die Landkarte Deutschlands, Europas, ja faktisch der ganzen Welt politisch neu.«9 Wer über 1989 nachdenkt, verwendet Worte wie »Mobilität« und »Freiheit«. Mobilität ist der Oberbegriff für das Thema Migration. Menschen haben sich schon immer im Raum bewegt, um Gefahren zu entgehen oder um ihre Lebenschancen zu verbessern. Obwohl es viele Beispiele für erzwungene oder freiwillige Sesshaftigkeit gibt, gehören Menschsein und In-Bewegung-Sein grundsätzlich zusammen, weil Menschen von der Evolution – ähnlich wie die mechanische Uhr – mit einer »Unruhe« ausgestattet sind. Der Fall der Mauer erlaubte es vielen Menschen, die lange Zeit festgehalten worden waren, sich im geografischen Raum wieder frei zu bewegen und neu zu orientieren. Seither ist Europa die Region geworden, in der Mobilität und Freizügigkeit zentrale Werte und für viele eine primäre Errungenschaft geworden sind. Mit dem Schengen-Abkommen wurden Binnengrenzen abgeschafft, eine junge, mobile Erasmus-Generation wuchs auf, die die Wirklichkeit einer bedrohlichen Grenze mit Schussanlagen nur noch vom Hörensagen kannte. Nach 1990 kam es zu weiteren Migrationsströmen sowohl von Osten nach Westen wie von Westen nach Osten, die Europa neu durchmischten.

Aber all das ist nichts im Vergleich mit der politischen Wende, die wir inzwischen erlebt haben. 2015, so fährt Eilenberger fort, »markiert das Ende der zentralen Lebenslüge einer ganzen europäischen Generation«. Er meint damit die in der mentalen Festung Europa genährte Illusion, die globalen Bewegungen des Kapitalismus, der Kriege und das millionenfache Leid in Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas könnten weiterhin »lebensweltlich auf Distanz« gehalten werden. Der Zusammenbruch dieser Illusion ereignete sich mit der Ankunft einer Migrantenbewegung aus zerfallenden Staaten und aktuellen Kriegsregionen, die nicht mehr in das alte und schon gar nicht in das neue Mobilitätsschema passt. Der Kontrast zwischen 1989 und 2015 ist offensichtlich: 1989 war ein europäisches Ereignis, 2015 war ein globales Geschehen. Damals hatte man das euphorische Gefühl der Überschreitung von Grenzen im Zuge erweiterter Freiheit und Mobilität, heute ist es das genaue Gegenteil: Täglich erleben wir eine Form von Mobilität, die nicht von uns ausgeht, sondern auf uns zukommt und an jedem Punkt unseres Landes erfahren wird. Nachdem man Grenzen abgebaut hatte, arbeitet man nun daran, die Binnengrenzen wieder aufzubauen und die Außengrenze Europas zu befestigen.

Gegenwärtig ist eine neue Verbindung von Krieg, Gewalt und Massenflucht entstanden, von der wir aktuell dramatische Bilder vor Augen haben. Die heutigen Migranten tragen die Wirklichkeit der Krisenherde und Kriege, die außerhalb Europas weiter schwelen und immer wieder explodieren, ins Herz Europas. Sie verweisen uns nachhaltig auf das, wovor wir lieber die Augen verschließen würden: unser Eingebundensein in eine Welt der Globalisierung, die von positiven wie negativen Formen der Mobilität gekennzeichnet ist. Was wir fern glaubten oder hofften, auf Distanz halten zu können, ist in unmittelbare Nähe und Nachbarschaft gerückt. Europa ist endgültig Teil der globalen Welt geworden und muss sich in dieser neu positionieren.

EUROPAS VERWANDLUNGEN

Die lange europäische Migrationsgeschichte hat viele Etappen: Nach 1945 mussten sich Deutsche mit Deutschen arrangieren, nach 1989 mussten sich Europäer mit Europäern arrangieren, heute müssen sich Europäer mit Nicht-Europäern arrangieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Nationen, nach 1989 wuchs Europa langsam zusammen, nach 2015 gilt es, diese gemeinsamen Anstrengungen unter den Bedingungen eines radikalen demografischen Wandels zu wiederholen. Europäische Länder werden zunehmend von Menschen anderer Herkunft mitbewohnt: In Deutschland hat jeder Fünfte eine migrantische Herkunft, jedes zweite Kind, das auf die Welt kommt, hat Eltern, die woanders geboren sind. Seit jedem EU-Bürger klar geworden ist, dass die Grundwerte des Zusammenlebens zur Disposition stehen, sind auch die Zeichen des Anfangs einer umfassenderen Debatte »über das Land und die Welt, in der wir leben wollen« zu erkennen. (Eilenberger) Sie erfordert ein neues Leitbild für die EU und ihre Nationen, die sich unter diesen Umständen neu erfinden und ihr Verhältnis zu Europa, der globalisierten Welt und ihren migrantischen Mitbürgern neu klären müssen.

Jetzt, wo eine neue Verwandlung Europas ansteht, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass die EU selbst aus zwei Verwandlungen hervorgegangen ist:

1. aus der Verwandlung von Diktaturen in Demokratien,

2. aus der Verwandlung von ehemaligen Todfeinden in friedlich koexistierende und eng miteinander kooperierende Nachbarn.

Die Verwandlung von Diktaturen in Demokratien ist ein hohes Gut, das gerade auch den jungen Generationen in Europa eine ganz neue Kultur der Freizügigkeit, der geistigen Bewegung und des transnationalen Austauschs aufgeschlossen hat. Internet und soziale Medien stützen und verstärken diesen Trend der kulturellen Freiheit und Selbstbestimmung, der in zivilgesellschaftlichen Gruppierungen Fuß gefasst hat und nicht wieder rückgängig zu machen ist. Dasselbe gilt für die Friedensmission: Während der letzten Jahrzehnte haben wir an erschütternden Beispielen auf dem Balkan oder in Ruanda gesehen, wie schnell immer wieder das Umgekehrte passiert und aus friedlichen Nachbarn Todfeinde und Massenmörder werden.

In Europa hängen Vergangenheit und Zukunft enger zusammen als in anderen Ländern. Das liegt daran, dass durch zwei Weltkriege und die von Deutschland ausgehende Vernichtungsgewalt gegen Juden, Polen, Russen und andere Staaten Europa zum Schauplatz einer historisch beispiellosen Zerstörung geworden ist. Die Europäische Union entstand aus der Affirmation eben jener Werte, die in der Geschichte so umfassend verletzt worden sind, nämlich, um es mit Adam Michnik zu sagen: »Humanismus, Toleranz, gleiche Würde für alle Bürger, Freiheit des Individuums, Solidarität mit den Schwachen und politischer Pluralismus.«10 Im Zentrum stehen dabei die Menschenrechte, die in die Verfassung der EU und in jene ihrer Mitgliedstaaten eingegangen sind.

Diese wichtigen historischen Errungenschaften werden aber bei der gegenwärtigen Suche nach einem neuen Leitbild Europas überstürzt vergessen. Zu hören ist vielmehr lautstarker Protest mit dem Wunsch nach Abschirmung von drängenden Weltproblemen sowie die Kampfansage an die neue Realität einer globalisierten Welt. Man diffamiert Europa als Verursacher dieses Problems und sieht die Lösung in der Abschaffung Europas. Die Logik ist klar: Wenn Europa mit seiner grenzüberwindenden Haltung diese Probleme schafft, muss es abgeschafft werden. Statt sich angesichts der neuen Herausforderungen in Protest und Abwehr von Europa abzuwenden und sich nach der Rückkehr stolzer, starker und selbstzentrierter Nationalstaaten zu sehnen, ist das Gebot der Stunde aber genau das Umgekehrte: die Stärkung Europas als eine auf humane Prinzipien gegründeten Solidargemeinschaft. Europa erlebt gerade seinen ultimativen Belastungstest: Es hat Rahmenbedingungen eines Lebens in Frieden und Freiheit geschaffen und ist zum Ideal und Anziehungspunkt für Flüchtlinge geworden, die diese Güter gerade verloren haben. Wenn wir ihre Hoffnungen zerstören, zerstören wir zugleich auch unsere eigenen Werte und unsere Zukunft.

EUROPAS SPALTUNG

Die EU hat in ihrer Geschichte verschiedene Mauern, Grenzen und Trennungen überwunden, aber erst die Herausforderung der Massenmigration hat alle Mitgliedsstaaten radikal gespalten. Diesmal verläuft die Grenze nicht mehr zwischen West und Ost, sondern durch die Gesellschaften hindurch, die sich mit Blick auf die ankommenden Flüchtlinge in die beiden entgegengesetzten Lager der Abwehr und der Unterstützung aufgespalten haben. Europa ist heute auf neue Weise vereint – in der Art der Spaltung, die sich überall nach ähnlichem Muster vollzieht. Sie findet auf allen Ebenen statt: in der Politik, in der Bevölkerung, in den Städten, aber auch in den Freundeskreisen, die sich zur Zeit neu sortieren. Die Flüchtlingsfrage ist zur Gretchenfrage geworden, die zu massivem Dissens, Konflikt sowie zum Abbruch von Beziehungen und Kontakten führt. Wer überzeugt war, dass Demokratien nicht durch Konsens, sondern durch Konflikt zusammengehalten werden, erlebt diesen Konflikt nun als eine Zerreißprobe. Konflikt, so war der Ökonom Albert O. Hirschman überzeugt, stimuliert Diskussionen und Debatten und vertieft dadurch Kommunikation und