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Michelle Robin

Kinder, Kur und Schatten





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Zum Inhalt

Nina hat seit der Scheidung das Thema Männer abgehakt.

Das Wichtigste in ihrem Leben sind ihre beiden Kinder und ihr Beruf. Nebenbei engagiert sie sich vor Ort noch bei verschiedenen ehrenamtlichen Tätigkeiten und stößt immer wieder an ihre Grenzen, alles unter einen Hut zu bekommen.

Als ihre Ex-Schwiegermutter eines Tages ihren Sohn wieder bei Nina unterbringen möchte, liegen Ninas Nerven blank, sodass sie dem Drängen des neuen Hausarztes nachgibt und die Flucht in ein Kurhaus antritt.

Die Auszeit gelingt und sie lernt viele neue Frauen mit einer Menge anderer Schicksale kennen. Dabei findet sie heraus, wie sie ihre Zukunft gestalten möchte und legt den Grundstein für einen Neuanfang.

Eine humorvolle leichte Lektüre aus dem Alltag einer Frau, die zwischen Familie und Beruf jongliert, wie er spannender und alltäglicher nicht sein könnte.

 

 

 

Alle Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig. 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autorin gültig. Dies gilt insebsondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen sowie das Speichern und Verarbeiten in elektronischen Systemen.

 

 

An dieser Stelle ein dickes Dankeschön an meine Kolleginnen, Freunde, Probeleser, Korrekturleser und meine Lektorin, ohne die ich diese Story nie veröffentlicht hätte. Es hat Spaß gemacht mit euch diese turbulente Geschichte zu entwickeln. Allen Lesern wünsche ich gute Unterhaltung!

 

Liebe Grüße

Michelle Robin

Familienalltag

Die Zimmertür fiel mit einem lauten Rums scheppernd ins Schloss.

Nina stöhnte.

Habe ich meiner Großen gerade wirklich nicht zugehört? Sie quasselt die ganze Zeit und ich habe ihr mal wieder überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt. Kein Wunder, dass sie nun wütend auf mich ist.

Der zweijährige Josh hatte die Windel bis zur Oberkante voll und sie versuchte währenddessen – Multitasking sei Dank – den Steuerberater am Telefon auf einen neuen Termin zu vertrösten.

Warum ruft der Typ aber auch um halb acht Uhr an einem Montagmorgen an? Das ist unser vorprogrammierter Chaostag schlechthin.

Nina hatte das Telefongespräch nur angenommen, weil sie den Krankenanruf eines anderen Schulkindes vermutete und Annabelle in dem Fall heute alleine zur Schule hätte laufen müssen. Zwei Kilometer waren für die frischgebackenen Erstklässler noch zu weit, um sie alleine zurückzulegen. Zu zweit oder dritt lief es sich wesentlich sicherer und schneller. Selbst in Stressmomenten wie heute durfte man das nicht unterschätzen.

Mist nochmal und das an einem Montag! Noch vor Schulbeginn, vor Kindergartenstart und bevor ich überhaupt weiß, was heute alles auf mich zukommt.

Sie hätte heulen können, versuchte aber stattdessen, so souverän wie möglich einen Ausweg zu finden.

„Herr van Dahlen …”, versuchte Nina ruhig und ohne Geschrei das Gespräch zielorientiert zu Ende zu bringen, „bei mir geht es nur vormittags, sonst muss ich beide Kinder mitbringen und das kann nicht in Ihrem Interesse sein. Entweder findet der Termin morgen Vormittag bei Ihnen statt oder ich tüte die Steuererklärung heute noch ein und Sie bekommen alles per Post. Dann ist sie definitiv pünktlich bei Ihnen.”

Ihre Geduld war am Ende. Josh wollte genau in diesem Moment die Windel vom Körper haben und begann zielsicher mit spitzen Fingern den Klettverschluss der Papierwindel zu öffnen.

Herr von Dahlen zögerte mit seiner Antwort, bis Nina ein panisches „Nein!“ entglitt. Die Windel öffnete sich und es war absehbar, dass ihr Jüngster selbstständig zur Tat schritt.

Haben meine Kinder denn keine Geduld mit ihrer eigenen Mutter?

Nina warf den Telefonhörer von sich, sodass der Steuerberater nach diesem Aufprall vermutlich einen Gehörschaden davontrug. Die gefüllte Windel durfte auf keinen Fall den hellen Teppich des Kinderzimmers verzieren. Nina reichte schon das bunte Spielzeug, das den Raum farbenfroh schmückte.

Nicht auch noch eine Teppichreinigung an diesem Tag. Bitte nicht!

Sie atmete tief durch, bevor sie sich an ihren Sohn wandte.

„Mama hilft dir. Jetzt wickle ich dich erst noch einmal, bevor du in den Kindergarten gehen kannst”, versuchte sie ruhig und pädagogisch auf ihr Kind einzuwirken. Manchmal half es ja mit gesenkter Stimme zu sprechen, auch wenn man selbst innerlich brodelte wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

„Anne!”, meinte der Kleine in diesem Augenblick zuversichtlich. Dieses eine Wort klang wie sein persönlicher Rettungsanker.

Erzieherin Anne ist bestimmt besser im Umgang mit einem fremden Kind als ich als seine eigene Mutter. „Versagerin“ scheint heute mein Zweitname zu sein.

Josh liebte seine Erzieherin abgöttisch, welches die Eingewöhnung in die U3-Gruppe des Kindergartens sehr erleichterte.

Nina Behrens war selbstständig, zog zwei Kinder alleine groß und hatte neben ihrem Job ein Haus mit Garten zu versorgen. Am Ende des Hitzesommers, in dem der riesige Garten täglich gewässert werden musste, lagen ihre Nerven, wie sie selbst wusste, seit Wochen – oder vielmehr seit Monaten – blank.

Alleinerziehend, weil meinem Göttergatten kurz nach der Geburt unseres zweiten Kindes einfiel, er wolle sein Leben doch nicht mit Kindern teilen, sondern stattdessen lieber noch einmal ganz anders durchstarten.

Wie das genau aussehen sollte, hatte er Nina leider nie mitgeteilt, sodass sie damals vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Stefan zog für sie völlig überraschend zu seiner neuen Internet-Liebe, einer kühlen Blondine, nach Dänemark.

Zugegeben, unsere Ehe war schon vor Joshs Geburt nicht mehr der Hit. Das wussten wir beide.

Nina ahnte, dass er schon damals eine Affäre mit mindestens einer anderen Frau hatte. Aber sie lebte in diesen Krisen-Ehejahren in der Hoffnung, dass sie als Familie wenigstens noch ein paar Jahre zusammenbleiben konnten … wegen und für die Kinder.

Annabelle rief gerade von unten: „Ich decke den Tisch alleine für alle, Mama!“ Es sah so aus, als ob ihr Ärger inzwischen verflogen war.

Welch ein Glück! Heute ist meine Große so selbständig.

Für das aufgeweckte Mädchen war damals mit ihren vier Jahren eine Welt zusammengebrochen. Sie knabberte lange daran, dass ihr Papa nun bei einer anderen Frau und ohne sie leben wollte. Anfangs vermutete Annabelle sogar, dass Papa böse auf sie wäre und deswegen ausgezogen war.

Nina hatte ihrer Tochter dummerweise erzählt, dass ihr Vater in Dänemark nur kurzfristig arbeiteten und irgendwann wieder zurückkommen würde. Vielleicht auch, weil sie selbst lange darauf hoffte, dass ihre große Liebe wieder zurückkäme. Sie hatte sich viel zu lange an ihn geklammert, wie ihr später klar wurde. Ob das der Grund für seine Trennung war? Nina hatte Wochen und Monate damit verbracht, die Ursache für das Scheitern ihrer Ehe herauszufinden. Letztendlich gab sie es auf. Im Wunsch, die Trauer ihrer Tochter um den verlorenen Vater zu mindern, hatte sie aber verlauten lassen, dass er in Dänemark nur Geld verdiente und wegen der teuren Wohnungen dort bei einer fremden Frau wohnte.

Erwachsene argumentieren kreativ, wenn es um den Schutz der eigenen Kinder geht.

Mit diesem Fehler im ersten Trennungsjahr hatte Nina provoziert, dass das Mädchen ständig fragte, wann ihr Vater denn wieder zu ihnen zurückkäme.

Josh fühlte sich ohne Windel sehr wohl und begann derweil ein Herbstlied zu summen, das klang wie „Der Herbst ist da …“

Annabelles Fragerei schien zu jener Zeit wie ein Fass ohne Boden, denn Stefan hatte angeblich schon Jahre zuvor systematisch seinen Abgang aus der Familie geplant und dachte nicht im Entferntesten daran, jemals wieder heimzukehren. Genau dies erfuhr Nina erst lange nach der Trennung von seinen Kumpels, die ihr die Augen öffneten, wie abwertend Stefan tatsächlich über sie und ihre Ehe gesprochen hatte. Er hatte sie immer nur als Last empfunden, ihr selbst dies aber leider nie so deutlich mitgeteilt.

Die hübsche Annabelle ähnelte ihrer Mutter sehr und war genausowenig auf den Kopf gefallen. Sie wusste, dass Nina zwar vorher schon ab und zu gearbeitet hatte, aber dass es jetzt noch notwendiger wurde, um die Haushaltskasse aufzustocken.

Josh hob in dem Moment die Ärmchen in die Luft und tat so, als wollte er etwas schütteln. Dabei sang er von Birnen und Äpfeln …

Nina kamen Erinnerungen von Annabelle vor zwei Jahren in den Kopf: „Dann musst du Papa Geld schicken, damit er nicht mehr dort arbeiten muss und schneller wieder zurückkommt.“ Aus Kindersicht betrachtet erschien diese Idee eine logische Konsequenz zu sein. Es dauerte lange, ihr die Wahrheit zu vermitteln, dass Papa für immer in Dänemark bleiben wollte.

Das erste Weihnachtsfest ohne Papa hatte sich für Annabelle als besonders schlimm gestaltet. Josh war an die permanente Abwesenheit seines Vaters gewöhnt, aber Annabelle war sehr ängstlich geworden, wollte anfangs nicht mehr alleine sein und nässte nachts wieder ein. Nina wollte sie wegen der Erlebnisse gerne ein Jahr von der Einschulung zurückstellen, aber die Sechsjährige widersprach dem komplett.

„Ich möchte mit meinen Freunden in die Schule!“, hatte sie stur beharrt. So geschah es dann auch.

Nun glänzte Annabelle seit acht Wochen als stolze Erstklässlerin und sämtliche Probleme, die Nina bei der Einschulung befürchtet hatte, waren glücklicherweise in Luft aufgelöst. Die kleine Maus zeigte sich als gute und engagierte Schülerin und wurde den schulischen Anforderungen gerecht. Zumindest so weit, wie man das nach so kurzer Zeit beurteilen konnte.

Der Kinderarzt, ein einfühlsamer Senior, hatte Nina damals dringend zur Einschulung geraten, denn Annabelle musste mit der Scheidung der Eltern und der Trennung vom Vater umgehen lernen. Für das Kind wäre es noch schlimmer gewesen, jetzt noch sämtliche enge Freunde, die ohne sie in die Grundschule wechselten, zu verlieren. Der Kontakt zum Vater der Kinder war inzwischen komplett erloschen.

Stefan führte jahrelang mindestens ein anderes Verhältnis. Dabei dachte sie damals, er freute sich über ihr gemeinsames zweites Kind genauso wie sie. War das nur gespielt und wollte er partout keine Kinder, ohne ihr das jemals mitzuteilen? Nina wusste es nicht. Sie selbst liebte ihre beiden Kleinen über alles und konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.

„Kannst du das nicht verstehen“, hatte er oft gebrüllt, „dass ich die Kinder nicht um mich haben will? Ich bin ein Mann und brauche meine Freiheiten!“ Er zog sein gewohntes, bequemes Single-Dasein der Familie vor. Das war ihm rechtzeitig während der zweiten Schwangerschaft seiner damaligen Frau eingefallen.

Stefan war nicht bewusst gewesen, dass Kinder den kompletten Tagesablauf veränderten. Er besuchte weiterhin alleine Cocktailbars. Nachts ging er aus und verbrachte die Zeit mit seinen Kumpels. Nina kümmerte sich um die Kinder und den Familienerhalt. Nebenbei jonglierte sie die Finanzen und versuchte selbständig Geld zu verdienen, was er immer verhöhnte. Seit der Trennung von Stefan investierte sie viel Kraft in die eigene berufliche Neuorientierung und fand sich mit ihren Kindern immer besser in ihrem männerlosen Alltag ein.

Sie arbeitete nicht mehr wie bisher als Architektin, sondern war, motiviert durch eine sehr erfolgreiche Veröffentlichung, nun hauptberuflich zur freien Autorin geworden. Nach ihrem Anfang als Ghostwriter publizierte sie seit zwei Jahren nun auch unter ihrem eigenen Namen „J. Behrens”. Das Kürzel „J” stand als Abkürzung für Janina, was im Freundeskreis niemand zu ihr sagte, denn dort war sie seit Jahren schlicht als „Nina” bekannt.

„Janina Behrens” hatte als freie Architektin einen Ratgeber herausgegeben, in dem sie gravierende Tücken, die beim Hausbau auftreten können, mit den Kinderbildern ihrer Tochter illustriert hatte.

Annabelle malte als Vierjährige kreativ zu den einzelnen Beschreibungen jeweils passende Kinderbilder, sodass jeder Betrachter bzw. Leser auch ohne Fachjargon erkennen konnte, was mit den fachlichen Architektenbeschreibungen gemeint war. Seit jeher zeichnete Annabelle sehr detailliert, sodass es eine Wonne war, dieses Buch als Ratgeber und gleichzeitig als Unterhaltungslektüre zu lesen. Eine besondere Form der Fachliteratur – verständlich für Laien – war geboren.

Diese Hilfe für Bauwillige stand in der Literatur und unter den Nachschlagewerken noch immer in den Top-Listen der Verkäufe. Bauherren, die fachliche Informationen allgemeiner Art gekoppelt mit spaßiger und amüsanter Untermalung wünschten, stießen auf den Namen „J. Behrens“.

Ihr Ex-Mann hatte immer gesagt: „Nina, du bist Architektin und keine Schriftstellerin! Schuster, bleib bei deinen Leisten.”

Er hatte für ihr Hobby nie Interesse gezeigt, nie Korrektur gelesen und ihr keinerlei Unterstützung diesbezüglich geboten. Vielleicht hatte er es auch genossen, dass sie ihren Beruf familienbedingt an den Nagel gehängt hatte und mit der ausschließlichen Tätigkeit als „Familienmanagerin” von ihm – vor allem finanziell – abhängig war. Er glaubte wohl, auf diese Weise die Fäden ihr gegenüber in der Hand zu behalten.

Ob der Trotz Nina nach der offiziellen Trennung bewogen hatte, das Manuskript an einen Verlag zu schicken, konnte sie nicht mehr sagen. Aber das Konzept, dieses Thema mit den Kinderzeichnungen zu koppeln, stieß auf großes Interesse, was für einen Neuling unter den Autoren ein seltener Glücksfall war.

Seit der Veröffentlichung dieses „Bestsellers” war ihr Name damit in der Baubranche und in einigen Redaktionen bekannt. Ein erster wichtiger Schritt in ihr neues Leben. Ein kleiner Baustein, der ihre Zukunft maßgeblich veränderte.

Ab diesem Moment schrieb Nina hauptberuflich. Sie konnte Familie, Privates und die Arbeit als Autorin theoretisch zeitlich gut miteinander verbinden.

Inspiriert durch ihre eigenen Racker und deren Freunde, die sich bei ihnen immer wohlzufühlen schienen, schrieb sie jetzt vermehrt Kindergeschichten. Ein Markt der Zukunft, wie es aussah. Zumindest stieß sie mit ihrem Schreibstil und ihren Ideen trotz Konkurrenz auf große Resonanz. Das war der berufliche Aspekt.

„Mama, wo ist denn die Milch?“, rief Annabelle ihr von unten zu. Nina zog Josh gerade die frische Hose an.

„Frische Milch ist im Kühlschrank“, kam die Antwort.

Im privaten Kreis fühlten sich Kinder aus dem Freundeskreis und der Nachbarschaft bei Behrens zu Hause. Einerseits schmeichelhaft, aber manchmal – und das hatte sich Nina in den letzten Monaten immer mehr gezeigt – anstrengend.

Denn manchmal brauchte sie zum Schreiben Ruhe. Nina konnte nicht zwischen Windeln, Chips und Schokohänden die Eheprobleme der Kindseltern lösen, die Problemlösetipps von ihr wollten, und nebenbei entspannt ein Buch schreiben. Es gab viele Mütter, die nachfragten, wie sie es erreicht hatte, ihren Mann loszuwerden, um unabhängig und erfolgreich allein die Kinder zu erziehen.

Dass er sich quasi über ihren Kopf hinweg neu orientiert hatte, das sagte sie lieber niemandem.

Sie selbst engagierte sich seitdem in verschiedenen sozialen Gremien der Stadt, aber auch in der Schule, dem Kindergarten und Kinderschutzbund. Fast eine Art der Ablenkung, um nicht weiter über die eigene verlorene Beziehung nachdenken zu müssen. Eine Flucht in Arbeit und in die Probleme anderer, um sich nicht mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Psychologisch sicherlich einfach zu erklären. Aber auf diese Art wollte sie nicht auch noch ihr eigenes Leben analysieren.

Nina wusste selbst nicht, wie sie täglich diese Anzahl an Terminen koordinierte, denn alle ehrenamtliche Arbeit erforderte zusätzliche Zeit. Da im Umfeld niemand von ihrer Arbeit als Autorin wusste, hielten Bekannte ihren Ex-Mann für einen großzügigen Sponsor. Doch von ihm kam nicht ein Cent für sie persönlich. Mit Mühe und Not bekam sie zumindest den Unterhalt für die Kinder von ihm.

Mehrere schöne, bunt illustrierte Kinderbücher hatte sie im letzten Jahr herausgebracht. Sie liebte es, für die Kinder kreativ zu arbeiten und ihre glänzenden Augen zu entdecken, wenn ihre Geschichten sie verzauberten.

An ihrem Wohnort wusste bislang niemand, dass bereits etliche Bücher aus ihrer Feder stammten. Offiziell bezeichnete sie sich als freie Autorin für Zeitungen und Websites. Was ja auch stimmte.

Keiner fragte diesbezüglich nach, was sich – in ihrem Fall – als vorteilhaft herausstellte. Sie liebte ihre Anonymität und wollte sie schützen. Der letzte Rest an Privatsphäre war ihr wichtig. Die Buschtrommeln eines kleinen Ortes agierten bereits, ohne dass diese jemand absichtlich anstieß.

„Soll ich die Rote nehmen oder die Blaue?“, kam die hilflose Frage aus dem Erdgeschoss.

„Nimm die Rote, Anni. Die steht direkt vor dir, wenn du den Kühlschrank aufmachst.“ Dem Klappern nach zu urteilen, war sie fündig geworden.

Josh verschwand zufrieden mit der sauberen Windel, nachdem er die Morgenwäsche hinter sich gebracht hatte, eine Etage tiefer, um mit seiner Schwester Müsli zu essen. Wochentags war Müslizeit. Die Kinder wussten das und bedienten sich selbstständig, während Nina mit Gewissensbissen nach dem Telefonhörer griff.

„Herr von Dahlen?” Sie glaubte nicht, dass der kinderunfreundliche Steuerberater noch dran war.

„Die Kinder gehen immer vor, Frau Behrens”, ließ er verlauten. Herr von Dahlen schien nicht verstimmt zu sein, dass sie ihn einige Minuten warten gelassen hatte.

„Soll ich morgen früh vorbeikommen? Oder lieber per Post? Mir ist es egal.”

„Ich bin morgen außer Haus, also ...”, der Senior zögerte.

„Ist okay, ich packe die Unterlagen in die Posttasche … Sie melden sich dann, wenn Sie soweit sind.”

Sie verabschiedeten sich kurz, daraufhin rief Annabelle von unten, dass sie die Milch verschüttet hätte.

Klar, dass es heute Morgen auch noch einen Milchsee gibt. Gestern habe ich den Steinboden erst geputzt. Logisch, dass das passierte. Wäre auch zu schön gewesen ...

 

 

 

Schwindelgefühle

„Mama, warum fahren WIR eigentlich nie in den Urlaub?”, wollte Annabelle plötzlich genießerisch kauend wissen. Der Boden leuchtete sauber gewischt und Ninas Kaffee stand frisch duftend, trinkbereit und verführerisch auf dem Tisch.

„Weil du in die Schule musst, mein Schatz. Da darfst du nicht fehlen. Du willst doch lesen und schreiben lernen, oder?” Nina nahm sich erst einmal einen Schluck von dem heißen Getränk.

Lecker!

„Rechnen ist gut. Schreiben ist doof.”

Nina schluckte über diese Kurzfassung.

Ändert sich das noch? Wie kann das ein Autorenkind mit solch einer Endgültigkeit sagen?

„Da es während der Schulzeit nicht geht, überlegen wir uns, ob wir nächsten Sommer wegfahren, ja?”

„Luki sagt, dass bald Ferien sind!“ Lukas, genannt Luki, galt als bester Freund ihrer Tochter. Sie waren sowohl in der Schule als auch in der Freizeit unzertrennlich.

Ihre Mutter nickte in Anbetracht der bevorstehenden Herbstferien.

„Stimmt, aber du weißt doch, dass Oma vielleicht kommen möchte … und wolltest du nicht demnächst bei deiner Freundin Elli übernachten?”

Ich kann im Moment nicht in den Urlaub, das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Nina hatte Aufträge in Massen und haufenweise Anfragen. Außerdem lief in diversen Gremien im Förderverein und bei der Flüchtlingshilfe derzeit alles schief.

Annabelle nickte zustimmend, so, als erinnerte sie sich just in diesem Augenblick an die Vereinbarung mit ihrer Freundin.

„Schade, ich möchte aber auch einmal Urlaub am Meer machen oder mit dem Flugzeug … So wie Ariane, die fliegt im Sommer in die Karibik und im Winter an die Südsse.” Fräulein Naseweis reckte demonstrativ ihren Kopf in die Höhe, damit ihre Mutter diese Mitteilung nicht ignorierte.

Nina nickte. Ariane flog nicht nur im Sommer und Winter, sondern auch im Frühling und Herbst und alles jeweils mit Mama oder mit Papa, da jeder das Scheidungskind mitnehmen und ihm einen unvergesslichen Urlaub bieten wollte. Konkurrenz und Buhlen um das Kind, sodass es für alle Beteiligten in Stress ausartete.

Zum Glück blieb Nina dieses Problem erspart. Stefan zahlte den Unterhalt für die Kinder und damit war für ihn das Kapitel Erziehung erledigt. Annabelle bekam zur Einschulung nicht einmal eine Karte geschickt. Erst da verstand ihre Tochter, dass sie auf ihren Vater nicht mehr hoffen konnte. Sein Name blieb ohnehin seit über einem Jahr in der Versenkung verschwunden. Nur ab und zu wurde er noch erwähnt. Es schien, als hätte es diesen Menschen im Leben der Kinder nie gegeben.

Annabelle hatte ihn natürlich nicht vergessen, wollte sich aber vor weiteren Enttäuschungen bewahren. Kinderseelen sind zerbrechlich.

Nina lag sehr viel daran, dass ihre Kinder geschützt wurden. Besser erschien es ihr, wenn Stefan ihnen komplett fernblieb. Dies entsprach auch seinem Wunsch. Von seinem besten Freund Arne hatte sie gehört, dass Stefan Abstand haben wollte. Vor allem von Deutschland. Dazu gehörte auch seine Familie, die er immer als sehr anstrengend empfunden hätte.

Nina seufzte. Dies musste ihr damals komplett entgangen sein. Sie selbst fand die Jahre mit ihm nicht einmal schlecht, kannte es ja nicht anders, und war vollkommen von der Rolle, als er offiziell das Haus verließ.

Ihre langjährige Freundin Emily, ihre beste Vertraute schon zu Schulzeiten, hatte Nina damals vor deren Naivität gewarnt, als Stefan bereits kurz nach der Hochzeit wochenlang alleine umhergezogen war. Emily deutete einiges an und im Nachhinein sah es so aus, als ob sich ihre Vermutungen bestätigt hätten.

Oder lag es daran, dass Emily Stefan noch nie leiden konnte?

Sie vertrat immer schon ein schlechtes Bild von ihm und hatte ihn noch nie gemocht. Emily deutete an, dass Stefan fremdginge, aber Nina ignorierte schlichtweg diese Andeutungen. Vielleicht, weil sie es – lange auf rosaroter Wolke schwebend – einfach nicht glauben wollte.

Für einen häufigen Kontakt wohnte Emily leider zu weit entfernt, sodass sie sich nur unregelmäßig sahen. Dafür liefen in Krisenzeiten die Telefonleitungen heiß. Nina freute sich sehr über die Freundschaft zu Emily. Freunde waren wichtig, vor allem in Kriesenzeiten.

Emily, selbst kinderlos, gab als Patentante für Josh und Annabelle ihr Bestes. Kinder gingen bei ihr berufsbedingt ebenfalls ein und aus, denn Emily Schöntag arbeitete mit Leib und Seele als Kinderärztin und hatte diverse Auszeichnungen auf ihrer bisherigen Karriereleiter erreicht. Sie selbst hielt sich für den Prototyp der erfolgreichen, aber leider kinderlosen Emanze.

Nina stöhnte, als sie ihren persönlichen Aufgabenzettel für heute betrachtete.

Annabelle war bereits in der Schule, als Nina die Terminplanung für den Adventsbasar von der Kindergartenleitung erhielt.

„Vielleicht tragen sich noch welche ein, Frau Behrens. Aber das bekommen Sie doch bestimmt hin, nicht?“, meinte die Kindergartenleiterin und nickte ihr aufmunternd zu.

Gemessen daran, welche Mütter dabei sein wollten, war klar, dass die Hauptarbeit an ihr liegen bleiben würde. Die aktiven Eltern waren vom Kindergarten in die Grundschulklasse ihrer Tochter abgewandert. Es würde anstrengend werden, die gewählten Elternbeirat-Mütter davon zu überzeugen, dass es im Kindergarten neben Kaffeekränzchen auch organisatorischer und handwerklicher Einsätze bedurfte.

Doch, wieder zu Hause angekommen, musste zunächst ihr persönlicher Haushalt auf Vordermann gebracht werden.

Anschließend stopfte Nina die restlichen Flaschen Leergut in den Kofferraum, um zum größten Einkaufscenter der Stadt zu fahren. Dort existierten über eine Tankstelle, ein Schuhgeschäft und eine Drogerie hinaus zusätzlich noch alle erdenklichen Lebensmittel- und Kleidungsgeschäfte. Somit entfielen die lästigen Parkplatz- und Rangierversuche und beschränkten die Einkaufszeit auf ein absolutes Minimum. Nina war diesbezüglich sehr praktisch veranlagt.

Nach ihrem Einkaufsmarathon überwältigte sie an der Kasse die Hitze. Sie spürte den niedrigen Blutdruck, fühlte sich sehr schlapp und hoffte, dass der Schwindel bald vorübergehen würde.

Der Einkaufswagen quoll von einer großen Auswahl an Obst- und Gemüsesorten über, denn ihre Kinder liebten wie sie etwas „Gesundes“. Ein frischer Obstteller wurde von ihnen dem Süßigkeitenteller generell vorgezogen.

Zum Glück. Schön, dass ich solch tolle Kinder habe.

Mit dem vollen Einkaufswagen kam sie nur schwer vorwärts.

„Nummer 94 bitte zur Kasse“, ertönte es aus dem Mikrophon quer durch den Lebensmittelbereich.

Zudem standen vor ihr noch gefühlte hundert Kunden in der Schlange. Sie stöhnte innerlich. In diesem Moment ergriff sie eine mittlere Panik. Ein Gefühl, das sie seit einigen Monaten kannte und sie immer wieder völlig unregelmäßig erfasste. Hier auch wieder: In einer halben Stunde musste gekocht und Josh vom Kindergarten abgeholt sein. Beide Zeiger rückten bereits unbarmherzig – fast sinnbildlich ihrem Gefühl entsprechend – auf zwölf, während sie sich nur zentimeterweise der Kassiererin näherte. Sie stand hier auf der Stelle und kam nicht voran. Die Zeit saß ihr im Nacken und die To-do-Liste für heute war noch nicht annähernd erledigt.

„Achtung, Achtung, Frau Müller, bitte Anruf auf 3. Frau Müller, bitte Anruf auf 3“, erklang es durch den Supermarkt, als sich Nina auf den Einkaufswagen stützend nach einer gefühlten Ewigkeit nach draußen begab. Die frische Luft tat gut. In Gedanken gab sie ihrem ehemaligen Hausarzt recht, als sie die Einkäufe im Auto verstaute. Vielleicht sollte sie doch einfach einmal Pause machen. Das hatte er ihr schon vor einem halben Jahr geraten, weil er meinte, dass sie etwas Abstand bräuchte.

Überraschend hatte sie neulich entsetzt in der Zeitung gelesen, dass Dr. Stegmüller völlig unerwartet vor einem Monat verstorben war. Nina hielt den großväterlichen Hausarzt für eine lieb gewordene Vertrauensperson, mit dem sie auch manches Private besprechen konnte, was die Budgetorientierung junger Ärzte nicht erlauben würde.

Sie brauchte nicht notwendigerweise einen Mediziner, denn sie war kerngesund. Aber für den Fall der Fälle sollte sie sich für einen medizinischen Notfall vielleicht doch nach einem Nachfolger umsehen. Nina hasste Arztbesuche. Ganz besonders bei fremden Ärzten, denen sie sich offenbaren sollte. Mediziner und Friseure erschienen ihr fast schon wie Intim-Vertraute.

Der nette Dr. Jordan, ein Mann älterer Bauart mit grauen Schläfen, betreute seine Kinderarztpraxis nur fünf Kilometer entfernt und kam gut mit ihren Kindern klar, sodass die Zwerge diesbezüglich versorgt waren.

„Hauptsache, den Kindern geht es gut!“, murmelte Nina und schloss im Auto sitzend kurz die Augen. In fünf Minuten musste sie beim Kindergarten sein. Schweiß stand auf ihrer Stirn, obwohl die Hitzesaison schon lange vorüber war.

Waren das die ersten Anzeichen der Wechseljahre – jetzt, mit Anfang dreißig? Fühlte man sich dabei schwindelig und wurde einem schwarz vor Augen?

Einige Minuten später fuhr sie langsam vom Parkplatz, bis sich ihre gewohnte Souveränität wiedereinstellte.

Die Erzieher nahmen „Frau Behrens“ im Kindergarten genauso gut gelaunt und voller Elan wahr wie immer.

Dann sind es doch nur die Hormone, die mir im Moment einen Strich durch die Rechnung machen. Statt des Hausarztes sollte ich vielleicht lieber meine Frauenärztin besuchen.

Ihr graute nicht vor den Wechseljahren, denn alleinerziehend plante sie keine weiteren Kinder. Zumindest wollte sie dies nicht ohne einen festen Partner. Und welcher Mann tat sich schon eine Frau mit fremdem Nachwuchs an?

An Traumprinzen glaubte sie nach dem Debakel mit ihrem Mann nicht mehr. „Besser nicht auf einen Typen bauen, um wieder verlassen zu werden“, dachte sie dabei sehr oft. Das konnte sie nicht mehr gebrauchen, beim besten Willen nicht. Aus dem Grund entschloss sie sich, lieber alleine mit nur zwei Kindern zu bleiben.

„Und wie lange hast du das schon?” Ihre Freundin Emily wirkte an diesem Abend besorgt, als sie die Nachricht am Telefon hörte.

„Naja, einige Wochen oder ..."

„Monate? Du hast diese Schwindelgefühlte seit Monaten und hast noch nichts unternommen?” Die erfahrene Ärztin wirkte fassungslos.

Nina spielte mit dem Gymnastikball, weil sie meinte, körperlich etwas tun zu müssen, nachdem sie zwei zusätzliche Kilogramm auf die Waage brachte. Schreibarbeiten am Abend förderten den abendlichen Lebensmittelkonsum.

Die Gewichtszunahme wollte sie so schnell wie möglich abbauen. Ihr Rücken und vor allem der Nacken fühlten sich ebenfalls verspannt an, weil sie arbeitsbedingt die meiste Zeit am Laptop saß und durch fehlende Gartenarbeit ihr Bewegungspensum eingeschränkt blieb. Ihre Lieblingsjeans, die sie seit Jahren trug, spannte an der Hüfte. Ein Zeichen, dass sie abnehmen musste. Unbedingt.

„Nina, geh bitte zu deinem Hausarzt und lass dich durchchecken. Ich kann keine Fernanalyse machen, das geht nicht!”

„Emily, das ist alles nicht so wild, das wird einfach der fehlende Schlaf sein. Ich …”

„Sag bloß, du arbeitest wieder an einem neuen Projekt? Nachts?”

Emily kannte ihre Freundin und ahnte, dass deren Zielstrebigkeit ihr noch einmal das Genick brechen würde.

„Nur abends …”, wich Nina beruhigend aus.

„Wie lange abends?”

Nina schluckte, um Zeit zu gewinnen. Sie wusste selbst, dass ihr Schlaf fehlte.

„Nun …”, zögerte sie die Antwort heraus.

„Bist du vor Mitternacht im Bett, wenn Josh dich um 6 Uhr weckt und Annabelle in die Schule muss?”

Nina schwieg. Sie verriet nicht, dass es meist drei Uhr wurde. Es häufte sich in den letzten Monaten zu viel an.

Mir fehlt nur Schlaf oder auch eine Auszeit oder weiß der Geier, was es ist. Oder doch nur die Wechseljahre?

„Nina!” Emily wirkte entsetzt. „Sieh zu, dass du dir eine Pause gönnst, und besorge dir endlich einen Babysitter, damit du wieder einmal zum Friseur kannst oder zur Kosmetikerin oder einfach nur in die Sauna.”

Nina stand auf, betrachtete ihr Äußeres im Spiegel. Sie musste ihr recht geben. Sie kümmerte sich seit Jahren immer mehr um andere, aber immer weniger um sich selbst. Mit Sport als Mittel der Wahl, um ihre Basis zu finden, begann sie, den großen Gymnastikball im Wohnzimmer zu quälen.

„Nina?”

„Hm?" Nina wippte schwungvoll mit dem Gymnastikball auf und nieder, dass ihre Haare nur so flogen.

„Hast du deinem Hausarzt damals mitgeteilt, dass du in der Stadt umgekippt bist?”

Nina schluckte, bremste ihr Tempo ab. Diese Erinnerung lag in der letzten Ecke ihres Hinterkopfes vergraben. Daran mochte sie genau jetzt nicht denken.

„Bestimmt hat die Klinik, die mich ambulant behandelte, meinem Hausarzt einen Bericht geschickt …”, ließ Nina kleinlaut verlauten. Vor einem Monat bestand sie nach zwei Stunden Klinikaufenthalt darauf, dass sie entlassen wurde. Mitten in der Stadt hatte sie kurz zuvor einen Zusammenbruch erlitten. Diagnose: Kreislaufschwäche. Leichthin spaßend erwähnte sie das damals ihrer Freundin gegenüber am Telefon. Ein Fehler!

„Du hast dich daraufhin NICHT bei deinem Arzt gemeldet? Also vorsichtshalber, um das abchecken zu lassen?”

Nina verzog das Gesicht, als sie Emilys strengen Ton vernahm. Der Umstand, dass ihre Freundin als Ärztin auftrat, störte gerade ungemein.

„Er ist gestorben”, murmelte Nina verschnupft.

„Er ist für dich gestorben?”, interpretierte Emily, die Ninas Antipathie bezüglich Ärzte kannte.

„Nein, Stegmüller ist gestorben – ernsthaft.”

„Dr. Stegmüller ist verstorben?”

„Herzinfarkt und ganz überraschend … anscheinend konnte er nur Patienten retten, aber nicht sich selbst.” Klang hier nicht so etwas wie ein Unterton heraus, dass Ärzte doch nicht die Halbgötter in Weiß waren?

Emily nickte wie in Trance, was Nina nicht sehen konnte.

„Das tut mir leid, er war ein sehr netter Kollege.”

Sie kannte ihn – wie bestimmt hundert weitere Mediziner – von irgendeinem Seminar. Die Freundinnen schwiegen.

„Weißt du schon, wer die Praxis übernimmt?”, wollte Emily plötzlich wissen.

„Sein Nachfolger“, kam es geistreich, „wieder ein Allgemeinarzt.”

„Hast du schon einen Namen? Ist die Praxis schon übergeben?”

Nina schüttelte den Kopf, wunderte sich über Emiliys Interesse daran. Bisher stand an der Praxistür nur, dass die Arztpraxis geschlossen sei. Mehr wusste sie nicht. Demnächst gäbe es bestimmt einen anderen Mediziner vor Ort, aber Nina wusste nicht, ob sie dort hingehen sollte. Der Neue würde sicherlich nicht die gute beratende Funktion von Dr. Stegmüller übernehmen. Das ginge überhaupt nicht. Niemals! Sie vermisste den alten Doktor schon jetzt.

„Nina, suche dir bitte so schnell wie möglich einen neuen Arzt. Irgendeinen. Du klingst so, als stündest du vor einem richtigen Kollaps. Möchtest du DAS deinen Kindern antun?”

Nina raubte diese Vorstellung den Atem. So dramatisch schätzte sie ihren persönlichen Zustand nicht ein. Emily sah sicher nur die medizinischen Notfälle. Die Realität stellte sich bestimmt nicht so dramatisch dar. Medizinstudenten bekamen wahrscheinlich immer nur die extremen Notfälle gelehrt und das blieb den Ärzten dann im Hinterkopf.

„Nina, bitte, such dir einen Arzt und lass dich durchchecken! Und wenn du das nicht machst, dann komme ich mit meinem Arztkoffer zu dir – und zwar sofort!”

Nina konnte sich Emily leibhaftig vorstellen, wie diese drohend ihren Zeigefinger erhob. Sie würde Nina sofort in die nächste Klinik einweisen, nur um sie und die Kinder zu schützen.

„Hast du in den letzten Tagen auch Schwindel gespürt?”, hakte die Ärztin vorsichtig nach.

Nina zögerte, was Emily sofort bemerkte. Aus Ninas Sicht ein schlechtes Zeichen.

„Nina, das geht so nicht. Du suchst dir einen Arzt in der Nähe und lässt dich erst einmal durchchecken. Egal, ob er dir sympathisch ist oder nicht. Du musst ihn ja nicht heiraten!”, spaßte sie, um die angeknackste Stimmung zu heben.

Nina lachte darüber.

Das mache ich auf gar keinen Fall. Eine gescheiterte Ehe genügt vollauf.

„Meine liebe Emily“, seufzte sie, „du bist einfach die Beste.“ Ein Telefongespräch mit ihr zauberte bei Nina gute Laune – auch ohne Medizin. Dafür waren Freundinnen da.

Sie legte die Beine hoch und streckte sich ausgiebig. Etwas Sport würde sie gleich auf andere Gedanken bringen. Sie ließ das Abendbrot ausfallen und begann mit Stretching. Etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein.

 

 

 

Der neue Arzt

Josh bekam zum Trost für seine frische Stirnbeule von der geliebten Nachbarin Frau Kreisler ein Kühl-Pad und ein Schokoladen-Bonbon. Letzteres wurde wesentlich gieriger angenommen.

Der Kleine hatte den Fahrradständer der Nachbarin übersehen und war mit dem Kopf direkt auf die Eisenstange gestürzt. Nina reichte ihm einige homöopathische Arnika-Kügelchen, die sie in einem braunen Fläschchen im Rucksack stets griffbereit bei sich trug. Das erschien ihr momentan als schnellstes Mittel, um die Beule einigermaßen im Griff zu halten.

Einige Tränen weinte der Zweijährige noch auf Ninas Arm, dann erkannte er die Schaukel im Vorgarten und verschwand. Die Verletzung schien vergessen. Frau Kreislers Enkel wohnten in den USA, sodass sie die Zeit mit dem kleinen „Joshi“ oder auch mit dessen großer Schwester immer sehr genoss und sie gerne betreute.

Die Frauen redeten eine Weile über Gott und die Welt, bis das Thema auf Naheliegendes zu sprechen kam.

„Nein, das weiß ich nicht. Aber die Praxis vom alten Dr. Stegmüller ist doch seit letzter Woche wieder geöffnet. Die Renovierungen sind abgeschlossen und der Neue scheint gut zu sein. Er hat schon Notdienste hier durchgeführt. Das weiß ich von meiner Freundin aus der Kettlerstraße. Er scheint nett zu sein. Meine Freundin war schon dort.”

Nina nickte nur. „Ein Allgemeinmediziner?”

Unnötige Frage. Logisch, dass er kein Zahnarzt ist.

Frau Kreisler nickte. „Ja, und sehr freundlich und kompetent. Gehen Sie mal zu ihm, wo er doch direkt hier um die Ecke ist, das wissen Sie doch.”

Nina stöhnte. Natürlich praktisch, dass die Praxis nur wenige Meter entfernt, mitten im Wohngebiet lag. Ein Katzensprung sozusagen. Doch im Moment fühlte sie sich wieder fit und wollte nicht freiwillig zu einem Mediziner gehen. Da konnte kommen, was wollte. Emilys Ratschlag war vergessen. Sie musste zur Post einige Eilbriefe abgeben, damit sie bis morgen beim Empfänger eintrafen.

Anni verbrachte den Nachmittag auswärts bei einem Kindergeburtstag, sodass sie in der Zwischenzeit bestens versorgt war.

Josh bevorzugte den Aufenthalt bei Frau Kreisler, statt mit zur Post-Servicestelle zu fahren. Kein Wunder. Nina konnte es sich leider nicht aussuchen. Die Briefe mussten heute defintiv noch weg.

„Lassen Sie ihn nur hier, Frau Behrens, er kann bei mir gleich noch ein paar Kekse essen. In der Stadt ist jetzt sowieso alles überfüllt, da soll er lieber bei mir spielen.”

Nina nickte dankbar. Damit wäre sie auf alle Fälle schneller, als mit einem Zweijährigen im Schlepptau. Sie winkte Josh noch einmal, der sofort mit Frau Kreisler in die Küche stürmte, um die versprochenen Kekse abzustauben.

Nina lächelte. Frau Kreisler genoss ihren Sonderstatus als Ersatz-Oma sehr, wenn die Behrens-Kinder bei ihr auftauchten.

Ihre eigenen Nerven lagen in der hoffnungslos überfüllten Stadtmitte blank. Ninas gute Laune schrumpfte während der endlosen Parkplatzsuche bis in den Minusbereich. Unmengen von Menschen und PKWs verstopften die Straßen. Grausam, dass sie hier auch noch mitmischen musste. Die Zeit drängte, denn Annabelle sollte in einer Stunde wieder abgeholt werden. Zuvor durften noch Einkäufe und zwei Telefonate erledigt werden.

Der Service-Mitarbeiter der Postfiliale hatte die Langsamkeit offenbar persönlich gepachtet. Mit Freuden würde sie ihm dafür den Kopf abreißen … Dies aber ganz schnell.

 

Als das Auto später vor der Garage ihres Hauses wieder fast komplett ausgeladen stand, passierte es. Zuerst merkte sie es nicht einmal. Erst als sie die Wärme an ihrem Handgelenk spürte, blickte sie irritiert auf ihren Unterarm und erkannte das Blut.

Das neue Werkzeug-Bastelset für den Kindergarten lag aufgerissen vor ihr. Der lange Nagel, der daraus versteckt hervorlugte, hatte ihr einen Riss in den Unterarm verabreicht und das Blut tropfte nur so aus ihr heraus. Nina schwindelte, als sie es erkannte.

Sie starrte sekundenlang – wie unter Zeitlupe – auf ihren Arm. Die Einkaufstüte wechselte die Farbe von Weiß zu Hellrot. Sie schloss den Kofferraumdeckel und suchte ein frisches Taschentuch, das sich sofort blutrot verfärbte. Genau in dem Moment überkam sie Panik. Sintflutartig überschwemmten sie die Gedanken, die sie in den vergangenen Monaten schon mehrmals erreichten.

Die Kinder, die Arbeit, der Haushalt, die anderen Eltern und Termine, jetzt die Verletzung …

Wie sollte sie sich einhändig einen verletzten Arm verbinden? Das Blut tropfte ohne Unterlass. Verzweiflung machte sich in ihr breit.

Ihr Auto konnte sie im Moment nicht steuern, ohne einen Unfall zu riskieren. Sie benötigte medizinische Hilfe oder zumindest eine unverletzte Hand, die ihr half, ihren blutenden Arm zu versorgen.

Intuitiv tat sie genau das Richtige: Sie wankte die Häuser der Spielstraße entlang in Richtung Stadtmitte. Dabei spürte sie den aufkommenden Schwindel immer mehr.

Nur fünf Häuser weiter klingelte sie mit dem linken Unterarm an der Arztpraxis. Die gesunde Hand lag auf den Unterarm gedrückt, um die Blutung zu stoppen. Ihr Blut tropfte dennoch aus ihrer Wunde, was deutlich zu sehen war.

Der Türöffner befand sich noch an der gleichen Stelle und funktionierte immer noch so wie zu Zeiten Dr. Stegmüllers. Der bekannte Arztgeruch, bestehend aus Desinfektionsmitteln, stieg ihr in die Nase. Es fiel ihr schwer, die drei Stufen hinaufzusteigen, weil die Treppen permanent vor ihren Augen schwankten.

Blut hat mich doch noch nie schwindelig werden lassen …?

Die Praxistür ließ sich zum Glück leicht öffnen.

Sie trat ein, obwohl sie das Licht etwas blendete. Die Orientierung gelang ihr nur mäßig.

Wo ist jemand, den ich ansprechen kann?

Einige neugierige Patienten aus dem Wartezimmer drehten sich kurz zu ihr, ohne ihre Hilfe anzubieten.

Ihr Kreislauf verließ sie genau in dem Moment, als sie an den Tresen der jungen Arzthelferin trat. Zumindest hielt sie es für die Rezeption, denn alles sah hier anders aus. Viel moderner als zu Zeiten Dr. Stegmüllers. Neu und fremd.

Nina schwankte. Es drehte sich alles vor ihren Augen. Der terracottafarbene Boden kam ihr plötzlich voller Wucht entgegen. Auf einmal war alles schwarz. Blackout.

Sie spürte den harten Steinboden unter sich und merkte, dass sie kurze Zeit später hochgehoben und irgendwo, wo es wärmer war, abgelegt wurde.

Minuten später blinzelte Nina in die Helligkeit. Ein paar dunkle Augen und ein dunkler Haarschopf betrachteten sie aufmerksam, als sie die Augen wieder öffnete. Mehr nahm sie zunächst nicht wahr.

„Da sind Sie ja wieder. Hallo Frau Behrens.” Die Männerstimme klang sympathisch.

Eine Arzthelferin lächelte sie an.

Diese Arzthelferin kenne ich von Dr. Stegmüller. Wie heißt sie noch?

Die ältere Frau lächelte ihr aufmunternd zu. Sie strahlte Ruhe aus, angenehme Ruhe. Ein wundervolles Gefühl überkam Nina. Etwas, das sie selbst seit Monaten vermisste. Dieses Angenommensein, das sie hier vermittelt bekam, umhüllte sie mit einem unbeschreiblichen Wohlgefühl.

Komisch, dass ich mich in einer Arztpraxis wohlfühle.

Nina schluckte erst einmal, als sie sich ihre Siuation vergegenwärtigte.

Bin ich etwa gestürzt?

Der Steinboden war ihr noch gut in Erinnerung. Ein Arm schmerzte etwas.

Welcher Arm ist es nur?

Sie fühlte sich total durch den Wind.

„Was ist denn das für ein erster Besuch bei mir?”, ulkte der unbekannte Mann in Weiß neben ihr.

Das muss der Ersatz für Dr. Stegmüller sein.

Sie blickte ihn irritiert und verwirrt an, weil sie nicht wusste, was genau in den vergangenen Minuten passiert war.

Ihr Blick sprach Bände, das Fragezeichen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Der neue Arzt war wesentlich jünger als Dr. Stegmüller, vielleicht Mitte oder Ende dreißig. Aber sein Alter war nicht ausschlaggebend. Hauptsache, er verstand seinen Job.

Sie versuchte, sich aufzusetzen, er jedoch drückte sie sanft, aber bestimmt zurück in Liegeposition.

„Nur langsam, so schnell können Sie nicht aufstehen, dafür ist der Blutdruck noch zu labil. Haben Sie öfters Schwierigkeiten mit dem Kreislauf?”

Nina schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, als sie die Arzthelferin sah. Diese Frau kannte sie bereits und wusste um ihren Kreislauf.

„Es war in letzter Zeit etwas stressig”, warf Nina leise ein. Schließlich wollte sie es sich nicht mit der Arzthelferin verscherzen, die sie sonst vielleicht korrigiert hätte.

Die Angestellte reichte dem attraktiven Arzt die medizinischen Unterlagen, die bestimmt noch aus den Beständen von Stegmüller stammten.

Nina schluckte. Als der Arzt sie nicht mehr daran hinderte, richtete sie sich langsam auf. Ihr Blick fiel auf ihre Armbanduhr.

Hilfe, so spät!

Annabelle musste in den nächsten Minuten vom Geburtstag abgeholt werden. Hundertprozentig war ein Teil der Einkäufe im Auto bereits aufgetaut.

Sie setzte sich auf, wollte aufstehen. Erst jetzt erkannte sie den Verband an ihrem rechten Arm. Auch das noch. So konnte sie heute Abend nur schlecht den Artikel für die Zeitung tippen, wenn die Bandage sie behinderte.

Warum musste es auch so aufwendig sein?

Der neue Arzt überflog die ärztliche Dokumentation, danach blickte er sie an.

„In ihren Unterlagen steht, dass Sie schon öfters Kreislaufschwierigkeiten hatten … Außerdem liegen hier zwei neuere Berichte vom Krankenhaus vor … Frau Behrens?”

Nina schluckte. Sie fühlte sich ertappt wie ein kleines Kind, das etwas Böses angestellt hatte.

Wenn ich jetzt noch den Verband bemängele, dann bin ich bei ihm ganz unten durch.

Demnach hatten die Kliniken die Zusammenbrüche dokumentiert zum alten Hausarzt geschickt. Vielleicht hätte sie besser eine andere Arztpraxis aufsuchen sollen, damit diese Info nicht so schnell herauskam. Sie wollte jetzt so schnell wie möglich ihre Tochter abholen. Fit genug fühlte sie sich.

Sie saß auf der Liege und gab einen einigermaßen passablen und wenig kranken Eindruck vor. Dabei versuchte sie, die Blutlache auf dem Papiertuch neben sich so gut wie möglich zu ignorieren.

Der Arzt ihr gegenüber betrachtete sie lange. Ein Lächeln lag plötzlich auf seinem Gesicht, als er sie musterte.

Was amüsiert ihn auf einmal nur?

Nina wirkte irritiert über sein Lächeln. Sie trug eine weiße Bluse, eine blaue Jeans und war nicht angezogen, als müsste er sich über sie amüsieren. Oder lachte er sie vielleicht sogar aus?

„Sie haben schon länger Probleme mit dem Kreislauf, haben einen anstrengenden Tagesablauf und schlafen zu wenig.” Anscheinend las er auch leise etwas über ihr Privatleben, zumindest blieben seine Augen noch einige Sekunden länger auf der Krankenakte.

„Ich habe mich an einem Nagel aufgerissen. Erst dann ist mir schwarz vor Augen geworden. Es war nicht anders herum”, widersprach sie. Ihre Augen blitzten ihn böse funkelnd an. Sie stand auf. Die Arzthelferin stützte sie leicht.

Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, bemerkte sie, dass der Arzt sie immer noch betrachtete. Sein Lächeln lag immer noch auf seinem Gesicht, als gefiele ihm, was er sah.

„Vielen Dank für den Verband, ich muss leider jemanden abholen und habe jetzt keine Zeit mehr“, plante sie so elegant wie möglich ihren Abgang.

„Frau Behrens?” Sie stockte und hielt inne, als sie den ernsten Tonfall vernahm.

„Ja?”

„Das war eben ein Notfall, da habe ich gerne geholfen, aber vielleicht sollten Sie diese Woche noch einmal zu mir kommen, damit wir das Ganze noch einmal anschauen.”

Seine Augen leuchteten in einem warmen Braun. Hinzu kam, dass seine Wimpern beneidenswert lang waren, wie Nina innerlich lächelnd feststellte.

Okay, Junge, du hast recht. Ohne diesen Blutverlust hätte ich wahrscheinlich meinen Besuch bei dir noch etwas aufgeschoben.

„Okay?”, fragte er und zwinkerte ihr dabei zu. Nun entglitt ihr gegen ihren Willen doch ein leichtes Schmunzeln. Ja, der neue Doc verstand sein Handwerk. Die Arzthelferin erkannte, dass sie nicht mehr gebraucht wurde und verschwand nach draußen.

„Es war nur eine Schnittverletzung und es wird auch keine Narbe zurückbleiben. Aber ich schaue es mir in ein paar Tagen sicherheitshalber noch einmal an.”

Nina wandte sich zur Tür. Er sah ihr nach.

Ich will hier raus. Womöglich fällt ihm sonst noch ein, meinen Blinddarm zu entnehmen.

„Frau Behrens?” Er reichte ihr die Hand zum Abschied. Es schmerzte, als sie die verletzte Hand bewegte. Er blickte sie lange an.

„Kennen wir uns vielleicht irgendwoher?”, wollte er dann plötzlich wissen. Seine Augen ruhten dabei immer noch auf ihr. Sie blickte ihn irritiert an. Seine Augen … Sie überlegte.

„Irgendwoher kennen wir uns”, meinte er nachdenklich.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin hier in der Stadt nicht in der Ärzte-Liga vertreten”, erwiderte sie keck. Er lachte laut auf, als er das hörte. Ein äußerst sympathisches Lachen. Sie griente. Zumindest verstand er Spaß.

Seine Augen strahlten, als er sie anblickte. Und ehrlich gesagt, wenn sie nicht die Nase voll gehabt hätte von Männern und von ihrem Ex-Mann im Besonderen, dann hätte sie direkt Herzklopfen bekommen können.

Weg mit dem Gedanken! Er soll meinen Unterarm flicken, mehr nicht. Und wenn er mir noch ein paar Tropfen gegen den Schwindel geben könnte, umso besser.

Sie drehte sich zur Tür, erkannte sein Profil und in dem Moment kam in ihr auch das Gefühl auf, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Aber das war Quatsch, sie wusste noch nicht einmal seinen Namen. Woher sollte sie ihn auch kennen? Ihr war dieser neue Arzt nicht bekannt. So häufig besuchte sie nun auch keine Arztpraxen.

Als sie einen neuen Termin im Vorraum bekommen hatte, lief sie im Laufschritt aus dem Gebäude, um ihre Tochter von der Geburtstagsfeier abzuholen. Gut, dass Josh noch bei der Nachbarin steckte.

Der junge Arzt aus dem ehrwürdigen Fachwerkhaus blickte Nina lange nach, wie sie mit wehenden Haaren davonlief. Er lächelte und nahm noch einmal die Unterlagen seines Vorgängers hervor.

„Nina Behrens” stand da, „32 Jahre, geschieden, zwei Kinder. Diagnose: Labiler Kreislauf, Erschöpfungszustand. Eine Kurmaßnahme sollte empfohlen werden.“ Sonst waren – außer ein paar privaten Anmerkungen – keine krankheitsrelevanten Notizen zu finden. Diese Frau Behrens war nicht der Prototyp einer kranken Patientin.

Er würde sie gerne wiedersehen. Eine Untersuchung von Kopf bis Fuß inklusive großem Blutbild schwebte ihm vor.

Was für eine attraktive Frau. Er schmunzelte in Gedanken. Solch unverschämt funkelnde Augen, die ihn an grüne Smaragde erinnerten. Dieses Blitzen in den Augen hatte er schon einmal gesehen. Nur wann?

Die Arzthelferin unterbrach seine Gedankengänge mit der Ankündigung eines neuen Patienten. Der junge Arzt nickte. Er freute sich auf ein Wiedersehen mit dieser wilden Schönheit.

Stegmüller hatte in seinen Unterlagen so etwas wie „stur” und „mag keine Ärzte” notiert. Er lächelte. Normalerweise waren Frauen immer sehr interessiert, wenn sie hörten, dass er Mediziner sei. Er konnte sich nie über mangelndes Interesse der Frauen beklagen. Diese Frau Behrens schien sein Beruf hingegen überhaupt nicht zu beeindrucken. Aber schließlich hatte er ihn auch nicht ausgewählt, um Frauen zu erobern. Seinen Bekannten- und Freundeskreis suchte er sich gerne selbst aus.

„Mag keine Ärzte”, las er erneut das Gekritzel seines Vorgängers. Er lächelte. Der alte Stegmüller war schon immer sehr konkret gewesen.