DAVID WHITEHOUSE

DER BLUMENSAMMLER

Aus dem Englischen
von Dorothee Merkel

Tropen

Impressum

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Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien

unter dem Titel »The Long Forgotten«

im Verlag Picador, New York

© 2018 by David Whitehouse

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero Media GMBH, München

unter Verwendung einer Illustration von Anne ten Donkelaar,

Utrecht (www.anneten.nl)

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50373-9

E-Book: ISBN 978-3-608-11062-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Douglas

1.

Dreitausend Meter unter dem Meeresspiegel ächzen die Knochen unter der Last der Einsamkeit. Professor Cole kann spüren, wie sie ihm ins Brustbein steigt. Er konzentriert sich auf den schmalen Lichtschacht, den die Scheinwerfer seines Ein-Mann-Tauchbootes in die Dunkelheit schneiden, und murmelt vor sich hin.

»Alles wird gut werden. Ganz bestimmt wird alles wieder gut.« Aber es ist eine Stunde her, seit er das letzte Mal von dem Forschungsschiff an der Wasseroberfläche gehört hat. Mit kalter Angst ruft er in das Funkgerät. Dabei wickelt er sich das Kabel so eng um die Finger, dass das gestaute Blut unter der Haut Knoten bildet.

»Hier spricht Professor Jeremiah Cole. Ich wiederhole. Mittlerweile sind beide Motoren ausgefallen. Und der automatische Notauftrieb hat sich auch nicht eingeschaltet. Laut Bordcomputer bleiben mir noch achtzehn Minuten Luft zum Atmen. Können Sie mich hören? Over.« Nach den ersten Worten hat sich eine seltsame, vollkommen unangebrachte Gelassenheit in seine Stimme eingeschlichen, als hätte ein wohlmeinender Bauchredner die Macht übernommen. »Können Sie mich hören? Over.« Er streicht sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Der Schweiß hinterlässt diamantförmige Flecken, klein wie Nadelstiche auf dem Baumwollstoff.

Die Leuchtuhr, die ihm mitteilt, wie viel länger er in etwa noch am Leben bleiben wird, springt auf siebzehn Minuten um. Dann auf sechzehn. Fünfzehn. Wie passend, dass ein so tief in der Ozeanografie verwurzeltes Leben am Meeresgrund endet. Er hämmert auf den Bildschirm ein, bis die Haut an seinen Fingerknöcheln aufspringt, und lässt dann einen winzigen Luftstoß durch seine Lunge gleiten. In diesem Augenblick bereut er bitter, sich jemals auf eine Mission eingelassen zu haben, bei der von vorneherein klar war, wie viele Dinge möglicherweise schiefgehen konnten. Technische Pannen. Ungünstige Wetterverhältnisse. Ein katastrophaler Stromausfall wie ebender, dessen Opfer er gerade geworden ist. Sollten wir uns nicht damit zufrieden geben, uns im Lächeln der Sonne zu baden, statt unsere Finger auszustrecken und sie berühren zu wollen? Er lacht, lacht tatsächlich – schließlich gibt es außer ihm niemanden, der sich darüber beschweren könnte, dass er damit Sauerstoff verschwendet. Und geschieht es uns dann nicht recht, dass wir uns die Finger verbrennen?

Er streicht wehmütig über das Tastenfeld auf seinem Kontrollpult und fängt an, sein eigenes Ableben zu betrauern. Im nächsten Moment ist ihm das furchtbar peinlich, was absurd ist, schließlich ist er mutterseelenallein. Die Schamröte zeichnet ein filigranes Muster in sein Gesicht.

Es bleiben noch zwölf Minuten Sauerstoff. Die nächsten drei Minuten verbringt er damit, immer wieder den roten Nottaster zu betätigen. Gleichzeitig denkt er ernsthaft darüber nach, sich die Zigarette anzuzünden, die er noch in der Tasche hat. Für einen Mann, der gerade erstickt, wäre das immerhin eine ziemlich spektakuläre letzte Tat. Er schließt die Augen und kann schon fast das herrliche Zischen der brennenden Asche hören – ein Geräusch, als würde jemand in den Schnee pinkeln. Er stellt sich vor, wie der Rauch zur Decke der Kapsel emporsteigt und dort seine Kreise zieht. Fast gelingt es ihm, sich einzureden, dass er gerade zu Hause im Garten auf der Erde liegt, eine Zigarette im Mundwinkel, die Finger in die seiner Frau verschränkt, deren Hand so leicht wiegt wie ein Sperling.

Dann sieht er es. Durch das Bullauge, das über der Navigationskonsole liegt. Es ist nur ein flüchtiger Blick auf ein weißes, geisterhaftes Wesen, das durch den goldenen Schein des Lichtstrahls gleitet. Der Tod ist gekommen, um ihn zu holen. Die Angst hat ihm eine Gestalt verliehen. Sein wild jagender Atem hallt mit ohrenbetäubender Lautstärke in der knappen Luft wider.

Da ihm nicht genug Platz zur Verfügung steht, um auf die Knie zu sinken, zieht er die Schuhe aus, faltet seine Socken, kniet sich auf den Sitz, legt die Handflächen aneinander und betet zu einem Gott, an den er nie geglaubt hat. Doch der quälende Gedanke daran, wie man später sein demütig auf Knien liegendes Skelett entdecken könnte, veranlasst ihn dazu, sich sofort wieder auf den Stuhl fallen zu lassen und seine Hosentaschen nach einem Feuerzeug zu durchsuchen. Sollte man ihn jemals finden, dann wird man erkennen: In seinen letzten Augenblicken hatte es dieser Teufelskerl keineswegs nötig, sich aus Angst vor einem höheren Wesen zu verneigen. Oh nein. Er hat vielmehr eine köstlich nach Holz duftende Zigarette geraucht. Er war sein eigener Gott.

Kein Feuerzeug. Er murmelt ein Gebet, an das er sich noch halb aus der Schule erinnert, doch mit jeder Zeile wächst der Abscheu, den er vor sich selbst empfindet.

Plötzlich wirft ihn ein dumpfer Schlag nach links, an die Wand der Kapsel. Er prallt mit dem Kopf gegen die kaputte Stromanzeige und wird dann auf die andere Seite geschleudert, wo er sich einen Zahn am Öffnungshebel der Ausstiegsluke abbricht. Der Geschmack nach Kupfer und Blut breitet sich in seinem Mund aus.

Durch das Glas erhascht er einen weiteren Blick auf die Kreatur, die gekommen ist, um seine Seele zu fordern. Doch jetzt kann er erkennen, worum es sich handelt: Es ist alles andere als der Tod.

Den Messdaten der Instrumente zufolge, befindet sich der Cuvier-Schnabelwal, auf den Coles Unterwasserfahrzeug in diesem Augenblick zufällig trifft, exakt zweihundert Meilen westlich der auf dem australischen Kontinent gelegenen Stadt Perth. Angelockt vom zarten Wiehern des Sonars, verhakt sich der neugierige Wal mit seiner Schwanzflosse im Ellenbogen des mechanischen Arms, der am Fahrzeug angebracht ist. Das Tier wirft sich panisch hin und her, bis schließlich sein Herz vor lauter Bedrängnis kapituliert und stehenbleibt. Sterbend steigt sein Körper an die Oberfläche und nimmt das Tauchboot – zusammen mit dem Professor in dessen Innern – mit sich.

Als das Tauchboot die Wasseroberfläche durchbricht, ist der Wal bereits tot. In Coles Adern sprudelt und zischt es, aber nicht infolge der Dekompressionskrankheit, sondern vielmehr wegen des unglaublichen Glücks, das er da gerade gehabt hat. Seine Frau, mit der er seit vierzig Jahren verheiratet ist, wird niemals die Worte Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Ich werde dich immer lieben lesen, die er hastig auf die Rückseite einer zerknitterten Zigarettenschachtel gekritzelt hat.

Er öffnet die Luke und saugt gierig die salzige Seeluft ein. Neben ihm dümpelt der Kadaver des Wals. Der Sprühnebel der Wellen kühlt sein Gesicht.

Er schält sich aus seinem schweißgetränkten Overall, schießt eine Leuchtrakete in den frühabendlichen Himmel und sieht zu, wie ein Schwarm vorüberziehender Möwen aus Furcht vor den Funken auseinanderstiebt. Bald schon kann er am unendlichen Horizont, wo die Blautöne des Wassers und des Himmels in einer diffusen Naht miteinander verschwimmen, sein herannahendes Schiff erkennen. Zwanzig herrliche Minuten betrachtet er – in Ekstase niedergesunken – das Schauspiel, wie die Scheibe der riesigen, orangeglühenden Sonne hinter der Silhouette des Schiffs im Meer versinkt. Er lebt.

Die Mitglieder seines Forschungsteams werfen Seile von der Reling herab und wenden die Augen ab, während der nahezu nackte, kreideweiß leuchtende Körper des Professors an dem mattgrauen Stahl des Schiffsrumpfes hinaufklettert. Eine junge Frau legt ihm ein Handtuch um die Schultern. Er vergisst, wenn auch nur für eine Sekunde, dass sie seine Studentin und er ihr Professor ist, und verspürt das überwältigende Bedürfnis, sie mitten auf ihr volles, üppiges Lächeln zu küssen.

»Sie sind in Sicherheit, Professor Cole«, sagt sie. Ein Teil von ihm hätte am liebsten geweint, aber diesen Teil würde er ihr niemals freiwillig zeigen, weshalb er die Tränen hinunterschluckt und ein wütendes Knurren in die Runde wirft. Die junge Frau schaut verwirrt zu ihren Kollegen hinüber.

»Holt das da an Bord«, sagt er.

»Das da?«

»Das habe ich doch gesagt.«

»Den Wal?«

»Selbstverständlich den Wal! Was hätte ich denn sonst meinen sollen? Den verdammten Ozean?«

Also klirren Ketten, mahlen Zahnräder, schwingt ein Kran. Zwei Stunden vergehen, dann ist der Wal an Bord. Es ist der längste, schwerste Schnabelwal, den Cole jemals zu Gesicht bekommen hat, so viel kann er schon nach einer ersten flüchtigen Betrachtung feststellen. Diese Tiere können zwar für gewöhnlich in großer Tiefe verweilen – tiefer und für längere Zeiträume als jedes andere Säugetier –, aber er hat noch nie von einem Cuvier-Schnabelwal gehört, der in einer Tiefe von dreitausend Metern gesehen worden wäre. Er wüsste gern, nach welcher Nahrung das Tier getaucht ist. Wenn sich auf diesem Wege eine Erkenntnis zu neuen, bis dahin unbekannten Verhaltenstendenzen gewinnen ließe, würde das zumindest ein wenig seine Schuldgefühle mindern, angesichts der Rolle, die er beim Tod des Wals gespielt hat. Um wie viel länger hätte das Tier leben können, wenn er sich nur damit zufriedengegeben hätte, niemals zu wissen, was zu wissen uns Menschen nicht zusteht?

Er schneidet dem Tier mit der grobschlächtigen Klinge einer Machete den Bauch auf. Zähflüssiges purpurrotes Blut überflutet das Deck. Und dort findet er sie, inmitten der blutigen Eingeweide und der penetrant riechenden und doch irgendwie malerischen Dampfwirbel, die daraus aufsteigen, so verbeult, dass sie jegliche Form verloren hat, von Säure zerfressen, aber dennoch intakt: die Blackbox des Fluges PS570. Eine Erinnerung, eingeschlossen in einen metallenen Sarg.

Niemand weiß, wo oder wann der Wal den Flugschreiber verschluckt hat, wie weit dieser um die Welt gereist ist und ob er immer noch funktioniert, aber fest steht, dass er das Flugzeug weit hinter sich gelassen hat, das ihn und die 316 Passagiere an einem klaren Maiabend vor drei Jahrzehnten mit sich hinunter ins Wasser zog.

Bis zu diesem Augenblick hatte der Flug PS570 einen festen Platz innerhalb der Volksmythen eingenommen. Es handelte sich um jenes Flugzeug, das einfach aus der Luft verschwunden war und das man als den »vergessenen Flug« bezeichnete. Außer den trauernden Hinterbliebenen und deren Kindern erinnerten sich nur noch sehr wenige Menschen an die Einzelheiten des Falls: die Todesopfer, die lange, ergebnislose Suche und die vielen Jahre, die sie andauerte. Doch Coles Unterwasserausflug wurde mit einem unverhofften Preis belohnt. Als der stattliche Professor mit den silbernen Haarsträhnen triumphal den Flugschreiber in die Höhe reckt, werden die Erinnerungen mit Macht wieder lebendig.

2.

Als Dove am Kanal entlang zur Arbeit geht, fällt ihm plötzlich das Moorveilchen wieder ein. Es taucht aus dem Nichts auf, wie es Erinnerungen eben tun – ein Funke aus der Vergangenheit, der ins Jetzt hinüberglimmt.

Das Moorveilchen hat die gleiche violette Farbe wie eine aufblühende Prellung. Es ist etwa acht Zentimeter hoch, mit kleinen, nierenförmigen Blättern. Das unterste der fünf an der Spitze eingekerbten Blütenblätter wird von einem sturmblauen Sporn gekrönt, und das Fruchtblatt ist so zart und fein wie frisch gesponnene Zuckerwatte.

Dove weiß nicht das Geringste über Blumen. Dennoch dürfte es wohl nur wenige Menschen in seinem Alter geben (falls sich sein Alter tatsächlich auf die dreißig Jahre beläuft, von denen er ausgeht), die genauso viel über das Moorveilchen wissen, wie er es in diesem Augenblick tut – so lebhaft ist seine Erinnerung. Er weiß, wie es aussieht, wie es sich anfühlt, wie vielschichtig und kompliziert sein Aufbau ist, von der Spitze des Staubbeutels bis hinab zum Stängel. Die Erinnerung ist so klar wie sein eigenes Spiegelbild, das unbeweglich auf der schwarzglasigen Fläche des Kanals schwebt. Aber wo und wann hat er das Veilchen gesehen, und warum erinnert er sich jetzt daran? Er überfliegt in Gedanken sein Leben, als wäre es ein Daumenkino, vom Anfang bis zum Hier und Jetzt. Doch daraus wird er auch nicht klüger.

Wenn er an Reinkarnation glauben würde, dann hätte er es vielleicht als Vision aus einem früheren Leben bezeichnet. Aber Reinkarnation ist nichts als fauler Zauber. Das fand er vor kurzem noch auf wunderbare Weise durch eine Dokumentation bestätigt, die so spannend war, dass er sie sich gleich zweimal angeschaut hat. Darin behaupteten vier vollkommen unterschiedliche Personen, in einem früheren Leben einmal die Jungfrau von Orleans gewesen zu sein. Die vier trafen sich im Beisein der Dokumentarfilmer, um darüber zu diskutieren, wer von ihnen wohl den stärksten, stichhaltigsten Anspruch auf die Wahrheit seiner Behauptung hatte. Während des Treffens erhielt der Zuschauer einen Einblick in die harsche Alltagsrealität der Personen. Der Erste der vier war ein arbeitsloser, alleinerziehender Vater mit zwei Kindern, die Zweite eine Kellnerin mit Tinnitus, die Dritte eine verwitwete, gescheiterte Erfinderin und die Vierte eine Frau, die in einer einsamen, weitab gelegenen schottischen Schutzhütte hauste. Doch sie alle verkündeten mit einer wahrhaft priesterlichen Überzeugung, hinsichtlich ihrer früheren Existenz als tragische Kriegsheldin und Heilige der römisch-katholischen Kirche die Wahrheit zu sagen. Der Glaube, in einem vergangenen Leben einmal von Bedeutung gewesen zu sein, half ihnen über die Durchschnittlichkeit ihrer gegenwärtigen, einsamen Existenz hinweg. Aber wenn man Einsamkeit und Durchschnittlichkeit als Qualifikationsmerkmale gelten ließe, dann könnte Dove – alleinstehend, pleite und ein Waisenkind – mindestens ebenso viele Ansprüche geltend machen wie jeder andere. Bei seinem Glück ist es jedoch viel wahrscheinlicher, dass er in diesem Szenario der Mistkehrer gewesen wäre, der die Aufgabe hatte, genügend trockenes Gras zu sammeln, um den Scheiterhaufen anzufachen. Über diesen Gedanken muss er lachen. Es ist entweder dieser Umstand oder auch der scharfe, stechende Schmerz, der ihm plötzlich über die Kopfhaut fährt und dessen Verlauf er mit einer Fingerspitze durch die Haare nachverfolgt, der ihn so ablenkt, dass die Erinnerung an das Moorveilchen zu verblassen beginnt. Am Ende bleibt nur noch das vage Gefühl eines Déjà-vu zurück, und dann ist auch das verschwunden. Letztendlich ist das alles, worum es sich hier handelt. Eine Sinnestäuschung. Ein Geist, der durch seine Gedanken huscht.

Es ist ein schöner Spaziergang zur Arbeit, am Kanal entlang. Der übliche Ufergeruch aus Schlamm und Moos. Hausboote, die schwermütig durch die Schleusen schippern. Noch ist es früh am Tag. Bald wird er wieder an seinem Schreibtisch sitzen, Telefonanrufe entgegennehmen und sich die Probleme anderer Leute anhören. Doch das kann heute warten. Er setzt sich auf eine Bank, streicht sich eine Strähne seiner widerspenstigen braunen Haare glatt und fährt mit den Handballen über die Initialen, die junge Liebespaare in die Holzlatten geritzt haben.

Ein Trauerzug aus Abfällen treibt an einem Café vorüber, das neu eröffnet hat, seit er das letzte Mal hier war. Kübel mit stämmigen, grünen Olivenbäumen stehen dichtgedrängt vor dem Fenster des Hauses, das vor einhundertvierzig Jahren noch ein spartanisches kleines Gasthaus war und damals den hart arbeitenden Bewohnern der ersten Sozialwohnungen Ost-Londons als Einkehrort diente. Die neuen Besitzer haben die Fenster mit dem Schriftzug erhalten, von dem manche Buchstaben zwar abgetragen, die meisten jedoch noch leserlich sind. Für unbescholtene, berufstätige, hart arbeitende Männer steht dort. Unter dem Schriftzug sitzen ein paar vereinzelte Menschen und trinken Kaffee, die Gesichter von den glühwürmchenweißen Rechtecken ihrer Laptops eingerahmt. In der Ferne, über den Gebäuden, ragen die Gipfel der sich ständig wandelnden Stadtlandschaft auf, die von einer Prozession aus tatenlos herumstehenden Baukränen bewacht werden. Diese Stadt, seine Stadt, wird immer mehr zu einem Vergnügungspark der Reichen. Zu einem Ort, dem er sich nicht mehr zugehörig fühlt.

Eine junge Frau mit rostroten Haaren, die zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden sind, läuft an der Uferpromenade entlang. Sie bleibt stehen, um ein Foto von sich zu machen. Unzufrieden mit dem ersten Versuch und verärgert über den zweiten, neigt sie den Oberkörper, um das Bild auf diese Weise mit einem neuen Hintergrund zu füllen. Der dritte Versuch entspricht eher ihren Erwartungen. Er verleiht ihren Wangenknochen genau den richtigen Neigungswinkel, und das Licht, das von den gläsernen Bullaugen eines vorübergleitenden Flussbootes zurückgeworfen wird, glättet die Ringe unter ihren Augen. Sie bleibt stehen, um das Bild ins Internet zu stellen, wo es bis in alle Ewigkeit weiterexistieren wird – eine unauslöschliche Erinnerung an nichts Besonderes. Und dann läuft sie weiter in seine Richtung, an einer Schar von Tauben vorbei, die gerade damit beschäftigt sind, die auf dem Boden liegenden Zigarettenstummel zu untersuchen – so, als wären sie Soldaten, die ein Schlachtfeld nach scharfer Munition durchforsten.

»Dove!«, sagt sie. Sie ist so überrascht, ihn zu sehen, dass sie abrupt zwischen Bank und Böschung stehenbleibt. Unter ihren Füßen verneigt sich das von einem leichten Windhauch gestreifte Gras.

Lara Caine stammt aus Chicago, aber ihre Eltern, die als Manager auf dem Derivatemarkt tätig waren, reisten beruflich in ganz Europa umher. Die gesamte Familie war noch vor Laras sechzehntem Geburtstag nach London gezogen. Dove und Lara hatten sich beim Journalismusstudium an der Universität kennengelernt. Vom allerersten Tag an, als Lara ihre Hand in die Höhe gereckt und den Dozenten mit einer Frage zum Verleumdungsgesetz einen Moment lang vollkommen aus dem Konzept gebracht hatte, waren sich alle anderen Studenten einig gewesen, dass sie sich in irgendeiner Form hervortun würde. In ihrem Semester war eine auffallend internationale Truppe versammelt gewesen – Norweger, Japaner, Portugiesen. Für Dove, der sich damals so vorgekommen war, als verfügte er in etwa über so viel Lebenserfahrung wie eine Staubmilbe, hatten diese Menschen alle etwas vollkommen Undurchschaubares, Exotisches an sich. Und das traf auf niemanden mehr zu als auf Lara. Sie strahlte jenes Selbstbewusstsein aus, das eine hervorragende Schulbildung und ein glückliches Familienleben mit sich bringen, als gäbe es da ein Mineral in ihrem Innern, von dem sie bei Bedarf einfach ein bisschen abschürfen, es in Energie umwandeln und in Form eines hellen Lichts aus ihren Augen leuchten lassen konnte.

»Hi«, sagt er und wird sich plötzlich der bedrohlichen Tatsache bewusst, dass ihm keine einzige Frage einfällt, die er ihr stellen kann, auf die er nicht schon längst die Antwort weiß. Sie ist soeben dreißig Jahre alt geworden und arbeitet als Reporterin für die Londoner Redaktion eines amerikanischen Finanznachrichtensenders mit Sitz im Finanzdistrikt. Sie hat ihre eigene TV-Show, die samstags und sonntags um 23 Uhr auf Sendung geht und in der sie mit Blick auf die Märkte die wichtigsten Nachrichten der Woche zusammenfasst. Die Sendung hat eine eingängige Titelmelodie, auf die man sogar ihren Namen singen könnte, und darüber hinaus steht ihr ein sehr großzügiges Budget für ihre Kleidung zur Verfügung. Sie ist mit einem Amerikaner namens Ross verlobt. Er ist großgewachsen und hat jene breitschultrige, rechteckige, militärisch anmutende Gestalt, die auf der ganzen Welt nur amerikanischen Männern aus gutem Hause zu eigen ist. Es kommt einem so vor, als wäre der Körperbau dieser Menschen eine Uniform und als würde jede noch so geringe Abweichung von der Norm – egal, ob Muskelspannung oder Kopfhaltung betreffend – fürchterlich bestraft. Ross ist in der Baubranche tätig. Das Paar besitzt einen Zwergschnauzer, den Ross »Barky Bark Wahlberg« nennen wollte (die Kommentare seiner Freunde auf seiner Facebook-Seite legen nahe, dass sie alle davon überzeugt sind, er sei verrückt, was wiederum Dove zu der Überzeugung bringt, dass sie nicht die geringste Ahnung haben, was Verrücktsein bedeutet), der jedoch jetzt auf Laras ausdrücklichen Wunsch hin »Max« heißt. Ihre gesamte, sorgfältig von ihr selbst kuratierte Lebensgeschichte lässt sich ausführlich im Internet nachverfolgen. Bei mehr als einer Gelegenheit hat sich Dove dabei erwischt, wie er sich durch ihre Geschichten gescrollt und erst Minuten und dann Stunden auf Fotos von Urlaubsreisen verschwendet hat, die er selbst nie unternommen hat, und auf denen Menschen zu sehen sind, denen er nie begegnet ist. Ist es tatsächlich ganze zehn Jahre her, dass er sie das letzte Mal im wirklichen Leben gesehen hat? In der heutigen Zeit war eine Abwesenheit keine Abwesenheit mehr.

»Du siehst gut aus«, sagt er, während seine Stirn in einem blassen Kastanienrot anläuft. Lara wirft einen Blick auf die ellipsenförmigen Schweißränder, die sich auf ihrem Laufdress abzeichnen. Um ihren Bauchnabel herum hat sich eine Art Venn-Diagramm gebildet, das sie beide geflissentlich ignorieren.

»Danke«, sagt sie. Der schwungvolle Rhythmus ihres Chicagoer Akzents ist intakt geblieben. »Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Wie lange ist das her, zehn Jahre?«

»Ja, stimmt. Zehn Jahre.«

»Wie geht es dir?«

»Gut. Und dir?« Er weiß es längst. Es geht ihr wunderbar. Hatte er damit gerechnet, dass sich ihr Wiedersehen so anfühlen würde? Kalt. Welten voneinander entfernt. Ganz anders als in seiner Erinnerung. Ah, diese schwindelerregende Wärme, die sich in seinen Eingeweiden ausbreitete, sobald sie den Hörsaal betrat, und die dann nach oben stieg, bis sie seine Zunge erreichte und den Speichel in seinem Mund in Asche verwandelte. Auch jetzt wieder dieser Geschmack. Doch jetzt ist er sauer und kriecht ihm ganz langsam die Kehle hinauf. Er hätte niemals auf dieser Strecke zur Arbeit gehen sollen. Aber er hatte ihre Fotos gesehen. Er hatte gewusst, dass durchaus die Möglichkeit bestand, sie hier zufällig zu treffen. Und genau deshalb war er hier entlanggegangen.

»Es läuft ziemlich gut«, sagt sie. »Ich arbeite jetzt fürs Fernsehen. Du weißt schon, die Druckmedien sterben aus und so.«

»Alles klar.«

»Und ich werde nächsten Sommer heiraten.«

»Toll.« Er nickt eine Spur zu energisch.

»Und was ist mit dir? Was treibst du so im Augenblick?« Die Angst vor dieser Frage hat sich in seinen Bauch gebohrt und ballt sich immer härter zusammen, wie ein Speer aus erkaltendem Wachs. Er hat sein Studium nicht abgeschlossen, so viel weiß sie ohnehin, und dieser Umstand beschämt ihn bis heute. Ihr Gesichtsausdruck bleibt offen, großzügig, wissbegierig. Er redet sich ein, dass sie nur nett sein will – ein Verhalten, von dem er sich nicht sicher ist, ob er es überhaupt verdient.

»Ich arbeite nur so vor mich hin.«

»Als Journalist?«

Er zuckt mit den Schultern, in sorgfältig konstruierter Nonchalance. »Rettungswagen hinterherjagen. Weißt du, wie bei diesem neuen journalistischen Trend, bei dem man für eine gute Geschichte alles tut.«

»He, nenn es, wie du willst, die Welt braucht gute Reporter.«

Die Erinnerungen an die zahllosen gescheiterten Versuche, ihr seine Gefühle mitzuteilen, lasten so schwer auf ihm, dass sie ihn fast zu Boden drücken. Weggeworfene Briefe. Nicht abgeschickte E-Mails. Und dann dieser Abend in der Bar des Studentenwerks, als er vollkommen betrunken war und es gesagt hat, tatsächlich laut gesagt hat, direkt unter der Lautsprecherbox, sodass die Worte in der fürchterlichen elektronischen Musik, die mehr einer Totenklage ähnelte, verlorengingen. Sie schrie: »Was?«, und er antwortete: »Nichts!«, und als der kühle Sprühregen ihrer Spucke für eine Sekunde sein Ohr traf, war das ein zugleich perverses und fantastisches Gefühl. Ekelhaft und genau richtig.

»Heutzutage sind alle immer so fürchterlich beschäftigt«, sagt sie. »Findest du nicht auch?«

»Ja, scheint ganz so.«

Und das ist der Moment, an dem er sich sicher ist, dass sie allmählich beginnt, sich an das zu erinnern, was damals vor all diesen Jahren passiert ist. Sie fängt nämlich an, auf der Stelle zu joggen, kurze, winzige Bewegungen, als hätte sich die Zeit verlangsamt, damit es noch heftiger schmerzt, als es das ohnehin schon tut.

»Na ja, ich sollte wohl jetzt besser weiter.«

»Ich auch«, sagt er und wirft einen Blick auf sein Handgelenk. Der blasse Streifen, der sich über seine Haut zieht, führt ihm lebhaft das Bild seiner Armbanduhr vor Augen, wie sie auf seinem Nachttisch liegt, vor sich hin piept und von niemandem gehört wird.

»Pass auf dich auf, Dove, ja?«, sagt sie. Dann rennt sie weiter, in die Richtung, aus der er gekommen ist. Rennt zurück in seine Vergangenheit.

Dove. Die meisten Leute glauben, das sei ein Spitzname, den er sich selbst gegeben hat. Er hasst es, dieses Thema diskutieren zu müssen. Seiner Ansicht nach gibt es da nichts zu diskutieren. Als Teenager versuchte er eine Zeitlang, einfach den Namen »John« anzunehmen, schwelgte in der Normalität und Geradlinigkeit dieses Namens und in der Widerstandsfähigkeit, mit der er alle Fragen überdauerte. Aber er passte nicht zu ihm und konnte sich daher auch nicht durchsetzen. Um ehrlich zu sein, hat er nicht die geringste Ahnung, warum er Dove heißt. Das ist einfach nur der Name, der ihm gegeben wurde, als er geboren wurde. Von wem auch immer.

In Islington verlässt Dove den Kanal, schlängelt sich durch das Straßengewirr von Angel bis nach Farringdon und überquert den Exmouth Market. Dort haben die Straßenkehrer den ursprünglichen Zustand des Marktplatzes schon wiederhergestellt – es stinkt nach nassem Asphalt und dreckigem Wasser. Das Brummen ihres Lastwagens erinnert ihn daran, dass er Kopfschmerzen hat. Keine schlimmen Schmerzen, nichts, womit er nicht klarkäme, nur ein Stechen in der linken Schläfe, das immer dann einsetzt, wenn er sein Gesicht in den Wind dreht. Doch er geht trotzdem in einen kleinen Supermarkt in der Nähe seines Büros, um Paracetamol zu kaufen. Er kann sich noch immer nicht dazu durchringen, zur Arbeit zu gehen. Noch nicht ganz.

Hinter der Kasse steht ein etwa siebzig Jahre alter Mann. Tiefe, hellrote Ringe haben sich wie Schöpfkellen unter seine Augen gelegt, und seine Zähne sind sandgelb und fleckig. Nebenschauplätze des Alterns. Die Handbewegung, mit der er die einzelnen Artikel über den Scanner zieht, verströmt eine unendliche Traurigkeit.

»Der Auftrag bringt 1,5«, sagt der junge Mann, der vor Dove steht, zu seinem Kollegen. Seine Stimme ist so laut, dass sie die Lautsprecheranlage übertönt. Er kauft eine Packung Zigarettenpapier und steckt sie in seine Brusttasche.

»Tausend?«

»Millionen. Und das ist nur der digitale Teil des Geschäfts.« Sein Bart ist so schwarz, dünn und spärlich, dass er sogar von nahem den Anschein erweckt, als hätte man ihn mit einem Kajalstift aufgemalt.

»Genau das ist der Vorteil einer ordentlichen Markenpflege«, sagt sein Kollege, der seine Haare so brachial mit Gel zur Seite gescheitelt hat, dass seine Frisur zweifellos jeden außer ihn selbst an Hitler erinnert. Der junge Mann durchsucht sein Mobiltelefon und zeigt seinem Freund das Foto einer jungen, blonden Frau, die kokett die kaugummiroten Wülste ihrer Lippen in die Kamera spitzt. »Das ist die, von der ich dir erzählt habe. Ich treffe mich heute Abend wieder mit ihr.«

»Und wo willst du mit ihr hingehen?«

»Das letzte Mal habe ich 150 Ocken in einem Restaurant hingeblättert, deshalb hoffe ich, dass dieses Mal ein paar Drinks reichen, um sie ins Bett zu kriegen.« Er zwinkert seinem Kollegen zu und hält dabei sein linkes Auge eine Sekunde zu lang geschlossen. Beide lachen. Der Mann, der das Zigarettenpapier gekauft hat, nimmt die Handvoll Wechselgeld entgegen, ohne den alten Mann auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, so beiläufig, als würde er aus einem Spender ein wenig Seifenflüssigkeit in seine Handfläche drücken. Er und sein Kollege lachen immer noch, während sie den Laden verlassen. Dove kauft die Kopfschmerztabletten und eine Flasche Wasser. Er hält den Kopf gesenkt, in dem Bemühen, sich für alle Menschen zu entschuldigen, die ungefähr so alt sind wie er selbst. Doch der alte Mann scheint das nicht zu bemerken.

Nebenan ragt ein tristes, graues Gebäude in die Höhe. Es ist in keiner Weise bemerkenswert, aber dennoch ein heimtückischer Ort. Denn hier befindet sich Doves Arbeitsplatz, und in schlechten Nächten ist dies auch der Schauplatz der Albträume, die ihn verspotten. Der Raum, in dem er arbeitet, wird »The Pit« genannt. Dadurch klingt es so, als ginge es hier genauso rege und hitzig zu wie auf dem Börsenparkett einer Bank in der Wall Street. Doch im Callcenter des Krankenwagen-Rettungsdienstes herrscht eine bemerkenswert gedämpfte Atmosphäre, wenn man bedenkt, wie dringlich die Angelegenheiten sind, mit denen man es hier zu tun hat. Die graue, weite Fläche des Raumes ist in einzelne Kabinen aufgeteilt, die durch Sichtblenden in Brusthöhe voneinander abgetrennt sind. Das soll den Mitarbeitern die Illusion der Ungestörtheit vermitteln. Doves Kabine befindet sich am hinteren Ende des Raumes, ganz in der Nähe eines Snackautomaten, der die umliegenden Schreibtische in eine immergleiche Jahreszeit taucht – einen tiefen, ewigen, neonweißen Winter. Auf dieser Seite des Gebäudes gibt es keine Fenster. In der hinteren Ecke hängt ein Fernseher an der Wand, der bei abgeschaltetem Ton immer auf den gleichen Nachrichtenkanal eingestellt ist. Dove kneift die Augen zusammen und liest geistesabwesend den Schriftzug, der über den unteren Teil des Bildschirms läuft. Blackbox Flugdatenschreiber. Verschollenes Flugzeug. Wal. Professor.

Es ist in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen – bei Ausschreitungen, Katastrophen, Bombenangriffen, Terroranschlägen –, dass es zwischen den Bildern auf dem Fernseher und den Anrufen, die das Callcenter erreichten, eine gespenstische Übereinstimmung gab. In solchen Momenten kam Dove sich jedes Mal vor, als befände er sich auf einem Horchposten hoch über einer auseinanderbrechenden Stadt.

»Ist dir eigentlich klar, wie spät es ist?«

Cliff ist der Büroleiter. Während er so tut, als schaute er auf eine imaginäre Taschenuhr, verbinden sich auf seinem kahlen Kopf die Spiegelungen der Neonröhren zu einem Heiligenschein. Cliff lächelt und streckt die Zunge raus – eine freundliche Geste, die Dove jedoch vollkommen ungerührt lässt. Es ist immer derselbe Scherz.

»Kommt nicht wieder vor«, sagt Dove, setzt sich auf seinen Platz und loggt sich in das System ein. Sofort leuchtet auf seinem Telefon ein Raster aus pulsierenden Lichtern auf. Jedes einzelne dieser Lichter ist ein Anruf mit einem jeweils anderen Notfall. Er nimmt denjenigen an, der ganz vorne blinkt.

»Londoner Rettungsdienst.«

»Hallo?«, sagt ein Mann. Seine Stimme klingt hastig und durchdringend. »Ich brauche Hilfe.« Dove notiert sich die Adresse des Mannes. Es gibt nur sehr wenige Szenarien, die ihm noch nicht untergekommen sind. Bei den meisten Anrufen geht es um Erstickungen, Schlaganfälle, Verkehrsunfälle oder Herzinfarkte. Bis das Rettungsteam am jeweiligen Ort eintrifft, kann man fast jede medizinische Notlage einigermaßen zufriedenstellend handhaben, indem man die entsprechende diagnostische Checkliste zu Rate zieht, die nach nur einem Mausklick auf dem Bildschirm erscheint. Insofern ist die Rolle derer, die hier an den Telefonen sitzen, automatisiert. Jeder Anruf besteht aus einer Reihe von Hinweisen, aus denen sich ergibt, welche Instruktionen erteilt werden müssen. Dennoch kann man für diese Aufgabe unmöglich Roboter einsetzen, denn man braucht dafür ein Mindestmaß an Menschlichkeit. Es gilt, einen Ton anzuschlagen, der zugleich beruhigend und entschieden ist, während sich am anderen Ende der Leitung eine weitere arme Seele rückhaltlos in der sich immer wieder aufs neue entfaltenden, unentzifferbaren Karte des Lebens verirrt.

»Es ist mein Sohn«, sagt der Mann. »Er hat sich die Hand eingeklemmt.«

»Wo ist sie eingeklemmt?«

»Hinter der Heizung. Ich habe ihm gesagt, er soll seinen Strumpf da rausholen, der war dahinter steckengeblieben, und dann …« Der Atem des Mannes beschleunigt sich.

»Versuchen Sie, Ruhe zu bewahren«, sagt Dove. »Und jetzt sagen Sie mir, hat er Schmerzen?«

»Noch nicht.«

»Noch nicht?«

»Die Heizung hat sich gerade erst eingeschaltet.«

»Können Sie sie nicht wieder ausschalten?«

»Das ist es ja gerade. Das kann ich nicht. Sie ist kaputt.«

Dove weiß immer schon nach Sekunden, ob sich ein Anruf in sein Gedächtnis einbrennen wird oder nicht. Einmal telefonierte er mit einem fünfzehnjährigen Mädchen, das seine neugeborene Tochter unter einem Gullydeckel ausgesetzt hatte, aus Angst davor, ihr Vater könne herausfinden, dass sie Sex mit einem Mitschüler gehabt und heimlich dessen Kind ausgetragen hatte. Sie flehte Dove an, das Leben des Kindes zu retten. Als er sie aufforderte, ihm zu sagen, wo genau sich der Gully befand, konnte sie ihm keine konkrete Antwort geben, nur, dass er irgendwo in den Wanstead Flats sein musste. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Fragmente ihrer Erinnerung zusammenzufügen. Sie hatte einen Strommast vor ihrem inneren Auge. Dahinter die Silhouette des Olympiastadions, so etwa im Südwesten, schätzte sie, weil der Winkel ungefähr der gleiche war wie der, in dem sie das Stadion immer vom Schulbus aus gesehen hatte. Im Osten – oder zumindest glaubte sie, dass es Osten war – standen ein paar Straßenlaternen an einer befahrenen Straße. Dove ging davon aus, dass es sich nur um die Lake House Road handeln konnte. Etwa hundert Meter entfernt führte die Straße an einer Stelle vorbei, die sie als kreisrunde, matschige Mulde bezeichnete und die Dove anhand der Spaziergänge, die er dort gemacht hatte, als Kübelteich wiedererkannte (den man so getauft hatte, weil es ihn immer nur dann gab, wenn es wie aus Kübeln geregnet hatte). Er schickte einen Krankenwagen los, und die Sanitäter fanden das Baby, gesund und wohlbehalten. Doch Dove wurde danach noch wochenlang von einer unbestimmten Rastlosigkeit heimgesucht. Er war appetitlos und schlief schlecht. Dieser Anruf hier, der mit der Hand hinter dem Heizkörper, wird höchstwahrscheinlich nicht ganz so lange nachklingen, doch im Augenblick hat er sich als unwillkommener Gast im Hotel seiner Psyche einquartiert.

Dove kann hören, wie der Anrufer verzweifelt hin und her läuft.

»Die Heizung lässt sich nicht abschalten!«, ruft der Mann. »Verstehen Sie? Sie geht nicht aus!« Ein pulsierender, orangefarbener Klecks schleicht über die Karte auf Doves Monitor – ein Krankenwagen, der sich langsam durch den Berufsverkehr kämpft. Im Hintergrund schluchzt ein kleiner Junge mit schriller, ängstlicher Stimme. Vielleicht acht, höchstens neun Jahre alt.

»Was soll ich tun?«, fragt der Mann. Dove scrollt sich durch die Checkliste.

»Es ist wichtig, dass Sie ruhig bleiben, sowohl um Ihrer selbst als auch um Ihres Sohnes willen.« Der Junge schreit schon wieder.

»Er sagt, dass sie ihn verbrennt!« Der Mann brüllt so laut, dass Doves Kopfhörer vibrieren. »Ich kriege die Hand nicht da raus! Was kann ich bloß tun?«

Dove muss unwillkürlich an seinen eigenen Vater denken – einen Mann, den er nie kennengelernt hat. Er schließt die Augen und sieht eine ausdruckslose menschliche Gestalt wie ein leeres Formular, die er mit seinem eigenen Gang und seinen Gesichtszügen ausstattet. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, würde er dann sein eigenes, durch den Verlauf der Zeit verzerrtes Gesicht erkennen? Gäbe es Magneten in ihrer Blutbahn, mit denen sie sich gegenseitig anziehen würden? Sind sie ein und derselbe Mann? Sind sie nach demselben inwendigen Rhythmus getaktet, nach demselben infernalischen Code verschlüsselt?

»Papa!« Der Schrei des Jungen ist laut und gleichzeitig kaum vernehmbar. Die Angst hat seine Stimme auf eine Frequenz geschraubt, die Dove fast nicht mehr hören kann.

»Sie kommen«, sagt der Mann, und dann sagt er es noch einmal ins Telefon: »Sie kommen doch, oder?«

»Sie sind fast da.« Der orangefarbene Klecks bewegt sich ein paar Millimeter – in Echtzeit ist es etwa die Länge eines Busses, vielleicht auch von zweien.

Die Wände der »Pit« sind mit Bildern von Seen, Blumen und Meerespanoramen behängt, unter denen kleine Schilder angebracht sind, mit Worten wie »Friede« oder »Heiterkeit«. Dove war das bisher noch nicht aufgefallen, doch jetzt sieht er, dass jemand diese Worte durchgestrichen hat und mit anderen Begriffen ersetzt hat, wie »Qual« und »Verzweiflung«. Galgenhumor ist eine wertvolle Eigenschaft, wenn man gerade versucht hat, jemanden übers Telefon bei einer Herz-Lungen-Wiederbelebung anzuleiten, und gescheitert ist.

Am anderen Ende ist plötzlich das mechanische Jaulen eines Martinshorns zu hören. Eine Tür öffnet sich. Die Stiefel der Sanitäter poltern über einen nackten Holzboden.

»Sie sind da«, sagt der Mann und hängt auf. Dove wird nie wieder mit ihm sprechen, wird nie erfahren, ob man die Hand des Jungen retten konnte oder nicht. Und dennoch ist diese Arbeit kathartisch, trotz des immer offenbleibenden Endes. Er stellt sich jeden Anruf als ein winziges Loch in einer Wand vor, durch das etwas Licht in ein stockdunkles Zimmer fällt. Wenn er sein Auge vor das Loch hält, kann er nach draußen sehen. Er kann das Leben sehen. Er wird vom Licht erhellt.

Ohne jede Vorwarnung offenbart sich das wahre Ausmaß des Kopfschmerzes. Der Stich in der Schläfe, den er zuvor gespürt hatte, war nur ein Warnschuss gewesen. Dieser hier jedoch ist zäh. Massiv. Dove presst seine Finger gegen die grausam hämmernden Klauen in seinen Schläfen, gerade in dem Augenblick, als Cliff vorbeikommt und sich mit der Zunge die Daumenspitzen befeuchtet, um seine Augenbrauen glattzustreichen. Das tut er immer nur dann, wenn er sich irgendeine lustige Bemerkung ausgedacht hat.

»Dove, alles okay bei dir?« Er lässt seinen Blick über die anderen Kabinen schweifen, um sicherzugehen, dass ihm auch alle Kollegen zuhören. Sie senken den Kopf, um nicht in sein Blickfeld zu geraten. »Oder soll ich einen Krankenwagen rufen?« Nachdem er seinen Witz erzählt und so gut wie keine Reaktion damit hervorgerufen hat, geht Cliff mit raschen Schritten wieder in sein Büro. Dove bleibt an seinem Schreibtisch zurück und reibt sich mit beiden Händen den Schädel, als wäre er ein Hellseher, der in seiner Kristallkugel nach Zukunftsvisionen sucht. Er ist fast nie krank. Wer auch immer seine Eltern gewesen sein mögen, sie verfügten anscheinend beide über starke Abwehrkräfte. In Nächten, in denen Dove sich besonders einsam fühlt, verleiht ihm dieser Gedanke ein wenig Hoffnung, dass sie vielleicht noch am Leben sind. Als wäre ihm daran gelegen, sie zu finden. Als hätten sie es verdient, gefunden zu werden.

Dass er sich schlecht fühlt, passiert so selten, dass er sich die Kopfschmerzen unwillkürlich als die ersten, kleinen Schritte des Todes vorstellt. Aber so hatte er sich das Sterben nicht ausgemalt. Er hatte vielmehr geglaubt, es würde ein Ausgießen, ein Entäußern sein. Ein Schritt ins Leere. Aber dies hier fühlt sich eher an, als würde er mit etwas Neuem gefüllt, als würde sich etwas in ihn hineindrängen.

Und dann erinnert er sich wieder an das Moorveilchen. Aber da ist noch mehr. Er erinnert sich an das Moorveilchen und an die Hand, die es damals gepflückt hat. Er erinnert sich an alles, und es schmerzt und ist wunderbar. Er sieht es mit geradezu sengender Schärfe: eine Erinnerung, die nicht ihm gehört und es auch niemals getan hat.

3.

Peter Manyweathers schaute aus seinem Fenster im dritten Stock auf die unter ihm liegende Brooklyn Street und auf den Schweiß, der den vorbeigehenden Menschen von den Gesichtern tropfte. Er stellte sich den Geruch vor, der ihren Achselhöhlen entströmte, und das machte ihn umso dankbarer für den zitronenfrischen Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem er die Küche an diesem Morgen geputzt hatte.

Er steckte das kleine Buch mit der Gebrauchsanleitung für den Umgang mit gefährlichen Chemikalien in seine Arbeitstasche und öffnete den Kühlschrank, aus dem ihm die fast leeren Regale wie eine Reihe glänzender, weißer Zähne entgegengrinsten. Ein so gut wie ausgetrunkener Karton mit Orangensaft, eine halbe Flasche Ketchup und zwei Eier, deren Haltbarkeit seit einer Woche abgelaufen war – also seit dem 8. Juni 1983. In gewisser Weise konnte man das als ausgewogene Ernährung bezeichnen, fand er. Er klammerte sich an diesem Gedanken fest, aß eine Schüssel voll trockener Cornflakes, eine nach der anderen, warf die Eier in den Müll, blätterte seinen Terminkalender durch und dachte daran, was ihm an diesem Tag bevorstand. Wie die meisten anderen Tage würde auch dieser Tag hauptsächlich aus Dreck bestehen.

Er versuchte, seine mausbraunen Haare zu einer vorzeigbaren Frisur zu formen, aber sie waren in letzter Zeit immer widerspenstiger geworden. Also stopfte er sie unter eine Yankees-Mütze, die er leicht schief aufsetzte, was wiederum nicht recht zu seinem Alter passen wollte. Er strich sich mit den Fingern über die Stoppeln an seinem Kinn und drehte sich, um sein Profil im Spiegel zu betrachten. Er wusste sehr wohl, dass es dort draußen viele Männer mittleren Alters gab, die deutlich schlimmer aussahen. Schwabbelnde Bierbäuche. Sich lichtende Schädel. Falsche Zähne. Wenigstens besaß er noch alles, womit er geboren worden war, und das auch noch grob in seiner ursprünglichen Form.

Seine Küche war eng und kompakt. Zwischen Herd und Tür lagen nicht mehr als fünf Schritte. Hier und da fanden sich ein paar spartanische Stoffdekorationen, flüchtig hingetupfte, beiläufige Ornamente. Es blieb ihm noch etwa eine Viertelstunde, bis er zur Arbeit aufbrechen musste. Die wollte er auf keinen Fall verschwenden. Er polierte das Spülbecken, wischte die Arbeitsplatte sauber und putzte den Boden, bis er sich darin spiegeln konnte.

Während er sein Apartment verließ, wiederholte er in Gedanken immer wieder den Satz »auf dem Nachhauseweg unbedingt Milch kaufen«. Es war ein angenehmer, kurzer Spaziergang zu seinem Lagerraum. Die Hitze hatte noch nicht den Punkt erreicht, an dem sie unerträglich wurde, aber sie war zweifellos auf dem besten Weg dorthin. Peter zog die Schlüssel aus seiner Tasche und schloss die riesige Tür zum Lagerraum auf, der viel zu groß für sein Ein-Mann-Unternehmen war, für den er jedoch vor ein paar Jahren einen exzellenten Mietpreis hatte aushandeln können. Er freute sich noch immer jedes Mal über das Schild, das er über der Tür aufgehängt hatte – Reinigungsfirma Eisvogel –, auf dem ein putziges Bild von einem Eisvogel zu sehen war, der einen Staubwedel in seinem Schnabel hielt. Mit einem Lächeln im Gesicht schaltete er das Licht ein. Ein befriedigendes Klicken ertönte, als er den Schalter umlegte. Alles sah tadellos aus, genau so, wie er es zurückgelassen hatte. Er zog seinen blauen Overall an und bereitete sich auf einen weiteren Tag der hygienischen Extreme vor.