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Virginia Helbling

Am Abend fließt die Mutter aus dem Krug

Roman

Aus dem Italienischen von Jacqueline Aerne

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Übersetzerin und Verlag danken für die Unterstützung

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Die Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel
Dove nascono le madri bei Gabriele Capelli Editore erschienen.

© 2016 Gabriele Capelli Editore, Mendrisio

Lektorat: Liliane Studer

Umschlagbild: birdys / photocase.de

eISBN 978-3 906907-16-1

Inhalt

Krankenhaus

Daheim

Draußen

Ferne

Weitergehen

Krankenhaus

Dürrer Herbst aus zerbröseltem Laub und leeren Kastanienigeln. Draußen trocknet der Wind die Augen aus. Eingehüllt in ein staubiges, zähes Licht, halte ich die Hände im Schoß. Ich trage ein Nachthemd. Meine Tochter war vor wenigen Stunden noch nicht da, nun schläft sie, die Fäuste geschlossen wie Muscheln, ihr Mund saugt im Schlaf. Ich habe einen kleinen Kopf geschaffen und eine Brust, die sich hebt und senkt, Hände und winzige Füße, zwei Knie und eine perfekte Wirbelsäule, Nägelchen an Nägelchen. Die anderen Kinder scheinen mir nicht so bestaunenswert. Sie kaut im Schlaf und schluckt. Sie seufzt. Ihr Atem ist kaum hörbar, ich schaue nach, ob sie noch lebt. Sie ist rund, warm, rosa und gelb. Riecht nach geronnener Milch und nach Schlaf. Hat zu dünne Beine und einen aufgeblähten Bauch: ein Fötus auf dem Trockenen. In meinem Leib war sie ein Teil von mir, mir vertraut und zugewandt, nun entfernt sich dieses kleine Wesen, verschließt sich allmählich meinem Verständnis, verwandelt sich in ein Rätsel. Ich schaue sie an und versuche ein Erdenwesen auf Kurs zu bringen, das heute seinen Lauf geändert hat und mich halb in der Luft schweben lässt, zwischen Traum und Wirklichkeit, in jenem zeitenthobenen Raum, wo Gebete entstehen. Und Mütter geboren werden.

Erschöpft. Geruch nach Blut und Schweiß. Unter der Dusche wird mir schwindlig, ich lehne mich an die Kacheln, während der Wasserstrahl auf meinen Rücken hämmert und meine Haut sich fröstelnd zusammenzieht. Sie tut weh, wenn ich sie bloß berühre, eine Fieberhaut, die Haut einer alten Frau. Ich traue mich nicht, mir zwischen die Beine zu fassen. Das Wasser gleitet sanft an mir ab, und der Duft von Seife löscht meinen Tiergeruch. Langsam kehre ich zu mir selbst zurück, werde wieder ich. Drüben wartet sie auf mich, oder vielleicht auch nicht: Sie hat mich vergessen, flüchtet sich in einen Schlaf, der sie seit Stunden umhüllt. Sie hat bläuliche, hufeisenförmige Spuren auf den Wangen, dort, wo der Arzt sie mit seinen Instrumenten gepackt hat, um sie aus meinem Bauch zu ziehen, wie eine Wurzel.

Sie ist dort, in ihrem Bettchen, die Knie angewinkelt, ich bin unter der Dusche, mein Bauch ist noch aufgeschwollen, aber leer. Ich werde nie mehr die sein, die ich war. Selbst aus der Distanz, außerhalb von mir, hält sie mich fest. Die Ohren überwinden das Wassergeräusch und dehnen sich lauschend hinüber zum Bettchen. Ich halte den Atem an: Ich höre hin, hinter den prasselnden Vorhang, hinter die Wände, die uns trennen. Instinktiv ist das Gehör schärfer geworden, nimmt die Bedürfnisse der Kleinen in unmerklichen Luftbewegungen wahr, in der Spannung und Dichte des Luftstroms. Ich drehe den Wasserhahn zu, um mich zu vergewissern, dass sie nicht weint. Schiebe den Vorhang zur Seite. Nichts. Die Gemeinschaftsdusche ist mit feuchten Handtüchern übersät. Einige hängen mit Blut und Wasser verschmiert an den Haken, andere liegen zusammengeballt auf dem Boden: Über sie musste ich steigen, als ich hereinkam. Der Duschvorhang klebt an meiner Hüfte und an den Schultern, mit seinen Schneckenlippen saugt er sich kalt an mir fest. Im Dampf vermischen sich Schleim, Salben, Körpersäfte. Ich will weder berühren noch berührt werden. Alles, was in den Abfluss soll, schwebt in diesen feuchten vier Wänden umher, verfängt sich in einem klebrigen Dunstgeflecht. Von der Decke tropft ein dickflüssiges Sekret, durchtränkt die Textilien und rinnt über den Spiegel. Mich ekelt es so, dass ich mich selbst nach dem Waschen schmutzig fühle. Das matte Licht über dem Lavabo lässt die Flecken auf der Oberfläche noch schmieriger erscheinen.

Zum ersten Mal sehe ich mich gespiegelt: eine dumpfe Masse mitten im Nebel. Mein Anblick überrascht mich, ich erkenne mich nicht wieder. Das Gesäß, der Rücken, das Gesicht, alles scheint aus verformtem Gummi. Ein bisschen habe ich Mitleid mit diesem abrupt gealterten Körper, der sich nun entspannen kann, der sein Bestes gegeben hat, schließlich ausrangiert wird. Der Körper hat alles beherrscht, selbst die Gedanken, weggefegt von den Wehen, in nacktes Überleben verwandelt. Alleine ritt er auf einer Umlaufbahn zwischen Leben und Tod und brachte mich heil zurück, mit einem Mädchen auf dem Arm.

Drüben kommen die ersten Besucher. Jedes Mal, wenn jemand eintritt, bewegt sich der Vorhang, der mich vom Zimmer abtrennt. Ich befürchte, dass man im Gegenlicht meinen nackten Körper erahnen kann. Regungslos stehe ich da, wie ein aufgespürtes Tier, und lausche den Stimmen. Sie haben vergessen, mir ein Handtuch zu geben, oder jemand hat irrtümlicherweise meins benutzt. Mit meinem verschwitzten Nachthemd wische ich mir den Körper ab.

Patientinnen schlurfen den Flur hoch und runter. Ich kann keinen Gedanken fassen. Die Luft im Zimmer ist abgestanden, hinter dem Bett wacht still ein Lichtkreis. Die Frau neben mir schluckt geräuschvoll beim Essen. Mich ekelt der Dampf des Abendessens, der sich unter dem Plastikdeckel verflüssigt und wieder in den Teller tropft, sich mit dem Geflüster und dem Gähnen vermengt, die Zungen in einen schmatzenden Brei taucht und das Brot aufschwemmt. Ausgestreckt auf dem Bett schließe ich die Augen, um mich herum taumeln gelbe, mollige Körper, zerknitterte, aufgetürmte Laken.

Meine Mutter stürmt aufgeregt herein: »Wie geht es dir?«, fragt sie mich außer Atem. »Gut.« Eiskalte Luft umhüllt sie, die sich sofort auflöst, als sie mich auf die Stirn küsst. »Warum hast du mich nicht angerufen? Ich hätte dich doch abgeholt«, sagt sie. »Warum hast du alles alleine gemacht?« »Es war vier Uhr morgens, ich habe ein Taxi bestellt.« Sie beugt sich über das Kind, zieht Jacke und Schal aus. »Mein Gott, ist sie winzig!«, sagt sie gerührt. »Willst du sie hochnehmen?«, frage ich sie. »Nein, sie schläft«, gleich darauf aber: »Darf ich trotzdem?« Sie reibt sich die Hände warm, und Helena wacht nicht einmal auf, als sie aus dem Bettchen gehoben wird. Eine kleine Grimasse im Schlaf, und schon igelt sie sich in den Armen meiner Mutter ein, als würde sie sich in ein Nest einmummeln. »Wie ging die Geburt?« »Es ist vorbei.« »Schwierig?« »Sehr lange.« »Wenn du mich nur angerufen hättest …« Ich hätte dich nicht hereingelassen, denke ich, sage es aber nicht. »Und Erik, kommt er nicht?«, fragt sie mich. »Vor morgen schafft er es nicht, heute Abend ist das Konzert.« »Na, so was!«, sagt sie abrupt, schwenkt aber gleich zurück: »Du hättest mich anrufen sollen!«

Stattdessen habe ich eine unwirkliche Taxifahrt durchgemacht. Der Mann, der mich hierhergebracht hat, umfuhr sämtliche Schachtdeckel auf der Fahrbahn: »Wie geht es Ihnen, Signora?« Er fuhr schnell. »Schlecht, aber gut.« Er hat mir wohl von seiner Frau erzählt, von seinen Kindern, von seiner Mutter womöglich auch, ich habe nichts verstanden, da waren die Wehen, der Lärm des Motors. Er wollte nicht bezahlt werden.

«Wenn du mich angerufen hättest, wäre ich bei dir geblieben«, beteuert meine Mutter. »Ich weiß, aber es war Nacht«, versuche ich ihr zu erklären, »und mir kam einfach das Taxi in den Sinn.« Sie verzieht den Mund, verärgert. »Das nächste Mal rufe ich dich an, versprochen.« Darauf lächelt sie und schaut das Kind an. Ich beobachte sie und – einen Augenblick lang – bin ich verwirrt. Meine Mutter strahlt ein neues Licht aus. Sie sieht aus wie eine Madonna mit Kind, eine Großmutter-Mutter, eine Sarah. Bis heute habe ich sie vielleicht nie richtig angeschaut oder, falls ich es getan habe, dann ohne Abstand; ihr Gesicht war nur der Spiegel meiner Gefühle. Ich habe meine Mutter immer einzig und allein als meine Mutter betrachtet, nie als eigenständige Person, losgelöst von mir. »Früher war es nicht üblich, die Neugeborenen neben dem Bett zu lassen«, sagt sie und bricht damit das Schweigen, »sie schliefen alle in einem großen Gemeinschaftssaal, sie wurden den Müttern einzig fürs Stillen gebracht. Wie gerne hätte ich dich damals länger bei mir behalten! So erfand ich Ausreden, belog die Nonnen wie eine Primarschülerin und konnte mir eine weitere Viertelstunde herausschinden.«

Es ist, als würde ich träumen, als befände ich mich in einem eigenartigen Halbschlaf, die Augen hellwach, der Kopf schlafend. Die Stimme meiner Mutter, die Anwesenheit meiner Tochter und in der Ferne, in Schwarzweiß, das Bild der Nonnen, die Eisenbettchen in Reih und Glied im Schlafsaal mit den hohen Fenstern: Der Lauf der Dinge löst sich auf, verschwimmt zu einem undefinierbaren Punkt. Stumm ziehen Generationen vorbei, Großmüttergesichter auf vergilbten Lichtbildern. Aus den Tiefen meines Bewusstseins taucht ein Faden der Geschichte auf, und so stehe ich an der Kreuzung sowohl mit jener, die mir vorausgegangen war, wie jener, die kommen wird: der Geschichte anvertraut, an meinem ganz eigenen Platz. Zusammen mit meiner Tochter bin auch ich ein wenig geboren worden.

Es ist tiefe Nacht, Helena ist bei den Krankenschwestern. Es gelang mir nicht, den Grund ihres Weinens zu verstehen. Nach dem Stillen fing sie an zu schreien und strampelte wild mit den Beinen. Wieder stand mir bloß eine halbe Nacht bevor. Wegen des ständigen Hin und Her konnte ich mich tagsüber nicht ausruhen. Halb halluzinierend und einwattiert habe ich vorhin das Klingeln der Alarmglocke mit dem Backofen-Timer daheim verwechselt. Alles kann mich im Moment aufwühlen: Ich weine, weil ich erschöpft bin, weil ich heute ein Mädchen geboren habe und alles schon so weit weg ist. Draußen ist eine Mondsichel, und die vom Wind verwehten Wolken leuchten in türkisblauem Licht. Erik ist weit weg, ferngehalten vom Konzert. »Sie ist wunderschön«, sage ich am Telefon, »sie hat ein Gesicht wie ein Troll«, und ich spüre, wie auch er auf der anderen Seite der Leitung weint.

Ich stehe auf und hole mir meine Tochter zurück, ohne sie fühle ich mich entblößt.

«Bussaaaaaard!!!« Ich lief los und sammelte die im Hof vor dem Haus verstreuten Kätzlein ein. Die aufrechten Schwänze auf den schwankenden Pfoten, diesen rosigen Samtkissen der Frischgeborenen, zittern noch, doch schon machen sich alle davon, verlassen den Korb mit der schlafenden, ihren Bauch nach oben streckenden Mutter und ziehen los, die Welt zu erkunden mit ihren blauen, wässrigen Augen, in denen sich der Himmel spiegelt wie in Regenlachen morgens im Wald.

Ein Schatten pflügt kreisend über die Häuser, und weit oben, wachsam, jagend, belauert er zielstrebig das Umherstreifen der Katzen, er, der majestätische grausame König: der Bussard.

Ich habe einen schnellen Flügelschlag gehört, einen aus dem Nichts herunterstürzenden Frost. Ich war dort, ein Mädchen zwischen sieben kleinen Kätzchen. Ich spielte, er sank herab, ich spielte mit ihnen, und er kam. Unerbittlich. Krumm der Schnabel, das Auge ein Krieg, er schrammte die Wolken, zerriss die Luft. Ich war dort, und er nahm es, er raubte ein Kätzchen. Ich schrie und schrie und schrie.

Draußen zerzaust ein heftiger Wind die Bäume. Ich wünschte mir, neben Erik aufgewacht zu sein, er würde mich beruhigen und ich könnte ihm von all den Bildern erzählen, die seit gestern Nacht aus dem Abgrund meiner Kindheit auftauchen. Angsttreibende, verschlungene Träume mit erdrosselten oder mit Insektenvertilger umgebrachten Katzen. Ich war schlagartig wach, und mein erster Impuls war, nachzuschauen, ob Helena noch atmet. Mit dem Zeigefinger stupste ich ihre Schulter an, bis sie die Stirn mit einem tiefen Seufzer zusammenzog. Danach habe ich kein Auge mehr zugetan. Ich erinnere mich, wie meine Mutter früher, wenn der Wurf der Katze besonders groß war, einige Kätzchen wegnahm und sie unserer Nachbarin brachte, die sie in einem Eimer ersäufte. »Sie hat nicht genügend Milch für alle«, sagte sie mir jeweils. Den Kummer über alle die ersäuften Katzen werde ich bis heute nicht los.

Helena weint. Ich weiß nicht einmal, wie ich sie halten soll, ich hatte noch nie ein Neugeborenes im Arm. Ich rufe eine Krankenschwester, währenddessen stecke ich meine Hände unter die Decke, um ihren Bauch zu berühren und sie zu beruhigen – vergebens –, meine Finger scheinen aus Gips. Die Schreie meiner Tochter haben einen Urinstinkt in mir geweckt, der nun beschützen und ernähren will. Ich war überzeugt, mir würden die seit Urzeiten den Frauen bekannten Gesten auf Anhieb einfallen, doch nun muss ich mich aus dem Nichts heraus als Mutter erfinden. Helena sucht angestrengt nach meiner Brustwarze. Ein baumelnder Kopf, ein vorgestrecktes Gesicht, schwankend, und doch entschlossen: Die ganze Anspannung endet in einem offenen Mund. Sie kennt die Schritte, die zu mir führen, ich bin diejenige, die sie vergessen hat.

Ich wache wieder auf, der Traum trug den Nachhall eines Gewitters, das Geräusch jedoch ist das eines Bettes: Sie haben eine weitere Frau gebracht. Sie hat noch nicht entbunden, und sie haben ihr das Gerät, das die Herztöne des Ungeborenen misst, auf dem Bauch festgemacht. Aus der Ferne höre ich einen Galopp, manchmal beschleunigt er seinen Lauf. Ihr Mann ist bei ihr, er sieht wie ein fülliger Schutzengel in Lederjacke aus. Sie tuscheln, lachen leise. Eine Krankenschwester kommt herein, kontrolliert das Gerät, und als sie wieder geht, trübt ein Beichtstuhlgeschnatter mit Küsschen und Schluchzern meinen Schlaf. »Die Schuhe mit dem Fell«, »Den Pulli auf dem Wäscheständer«, »Nur ein paar Sachen«, »Die Jacke«, »Die Päckchen«, »Die Papiere«, »Rufst du an?«. Er wird sich um alles kümmern, ihr alles bringen, was sie braucht, die Pflanzen gießen, sie kann beruhigt sein, der Schutzengel wacht und arbeitet, und sie ist gut aufgehoben, behütet, geborgen.

Sie lutschen Bonbons, das Rascheln des Papiers und das Schmatzen der Zunge, die den Zucker abschmirgelt, zerknittern meine ersten Traumbilder und bringen mich zurück. Stanniol, Küsse, ferner Galopp, jemand kramt in einer Ledertasche: In der abgestandenen Luft ist jedes Geräusch intensiver. Er geht, als es schon tagt. Sie lässt das Licht noch an und schaut auf das Handy. Schließlich knipst sie es aus, schläft ein und schnarcht. Ich stecke mir Stöpsel in die Ohren und habe Mühe, den Schlaf zu finden.

Bei mir zu Hause, wenn es tagt, ist das Licht smaragdgrün, und bevor es sich auf die Dinge legt, lässt es die Fenster erklingen. Eine Amsel singt hoch oben auf einem Apfelbaum. Nur wenige Minuten, und da beginnen auch die anderen Vögel mit ihrem freudigen Plaudern und begleiten den Sonnenaufgang. Eine Krankenschwester schlurft laut herein und verteilt Fiebermesser. Ein gedämpftes Weiß verwässert den Schlaf, Kinderweinen in der Ferne. Mir ist, als würde ich aus einem Glassplitterbad aufwachen. Augen, Ohren und Kopf sind voll mit spitzen Körnchen. Die in der Nacht hergebrachte Frau ist nicht mehr da. Sie haben sie samt Bett abgeholt. Die anderen Frauen sind zum Duschen aufgestanden, im Schrank oder im Koffer suchen sie nach einem sauberen Nachthemd, nach einer Haarspange. Sie haben schmerzende Brüste. Ich nicke wieder ein, draußen flimmert das Licht, mein Mund ist breiig, mein Gesicht geschwollen.

Ich habe das Bett beschmutzt, es ist voller Blut. Die Krankenschwester schaut mich nicht einmal an, reißt die Bettbezüge weg, als würde sie Unkraut ausrupfen. »Sogar diese haben sie vollgemacht?« Die Wolldecke. »Mist!«, sagt sie, noch immer, ohne mich anzuschauen. Ich stehe da, mir ist schwindlig: »Ich bezahle sie.« »Nein, machen Sie sich keine Sorgen, bezahlen müssen Sie sie nicht, aber sauber wird sie nicht mehr. Tragen Sie denn keine Binden?« »Doch, natürlich.« Sie zieht die Augenbrauen hoch, ballt aus dem schmutzigen Bettzeug einen großen Knäuel und stellt ihn in einem Plastiksack auf den Flur. Sie kommt mit sauberen Laken und einer Kollegin zurück. Schweigend machen sie das Bett. »Passen Sie auf, dass Sie diese nicht auch noch schmutzig machen«, sagt sie, während sie eine neue Decke aufs Bett legt. »Ich brauche sie nicht, nehmen Sie sie ruhig weg.« Sie hält inne, schaut mich streng an: »Wie Sie wünschen.« Sie nimmt sie und geht.

Helena blinzelt leicht, sie schläft. Einzig Hunger oder Bauchschmerzen wecken sie. Sie lebt im Schlaf. Ihr Universum ist ganz nach innen gekehrt, das Körperliche ist fast alles, was von ihr da ist.

Eine Hebamme zeigt mir, wie ich sie halten soll. Ich habe Angst, sie würde mir hinunterrutschen oder ich würde ihr beim Anziehen einen Arm brechen. Sie ist ein Blütenblatt, ein Grashalm, die Ranke einer Dufterbse. »Sie sind nicht so zerbrechlich, wie sie aussehen«, beruhigt mich die Hebamme, während Helena sich dem lauwarmen Wasser hingibt, die Beine auf dem Unterleib zusammengezogen. Ich trockne sie ab, ziehe sie an, ich nehme sie zu mir ins Bett und stille sie, ich schlafe mit ihr ein, sie liegt an meiner Brust.

Mit Mühe und Not habe ich etwas Tee hinuntergekriegt. Ich habe keinen Appetit. Der Morgen ist drückend, eine Glocke milchigen Lichts verdrängt die Sonne hinter die Häuser, mein Kopf ist innerlich erfroren: Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Eisfarben, die Bilder sind starr, sie kleben an den Lidern und sind außerstande, als Gedanke hervorzutreten. Mein einziger Wunsch ist es, im Schlaf das mich einkesselnde beklemmende Weiß zu tilgen, erst am Nachmittag wieder aufzutauchen, im Halbdunkel, im süßlichen Geruch von Blumen, die in Spitalvasen welken. Helena schlummert auf meiner Brust, ihren Kopf hat sie in die Vertiefung des Halses gesteckt. Um ihre vollkommene Ruhe ja nicht zu stören, rege ich mich nicht mehr, und langsam gleite ich in eine kühle Ecke, dunkel und traumlos.

«Sie müssen essen.« Das Quietschen des Wägelchens mit dem Mittagessen scheucht mich aus dem Schatten; immer noch drängt dasselbe Weiß hinter die Augäpfel und unter die Lider. Die Krankenschwester stellt ein Tablett neben mein Bett und nimmt Helena auf. »So schwitzt sie viel zu stark«, sagt sie und legt sie wieder ins Bettchen. Auf dem Hals und auf der Brust hinterlässt Helena eine warme, runde Spur, dort, wo sie geschlafen hat. »Stehen Sie zum Essen auf oder soll ich Ihnen das Tablett ans Bett stellen?« »Ich stehe auf.« Die anderen schneiden bereits ihr Fleisch in den Tellern. Klappern von Geschirr und Besteck. Auch die Frau, die letzte Nacht Bonbons lutschte, ist wieder da. Sie isst schweigend, im Bett. Das Kind haben sie ihr noch nicht gebracht. Vom Tablett fische ich mir die Trauben und das Brot, lege sie zur Seite. Gerne würde ich den pfirsichfarbenen Vorhang, der an meinem Bett hängt, zuziehen, ich mag es nicht, vor allen einzunicken, doch ich traue mich nicht. Sich abzusondern wäre unhöflich. Ich bedecke mein Gesicht mit dem Kissen und schlafe ein, wie ein unter einem Laubhaufen verstecktes Insekt.

Erik weckt mich. Eine Art Erscheinung. Er ist so schön, dass es mir einen Stich ins Herz versetzt. »Wie geht es dir?« Es ist Besuchszeit, und die Betten verschwinden hinter Zäunen von Menschen. Helena schläft noch. Erik streicht sich durchs Haar und deutet auf sie, als wollte er fragen: »Ist sie das?« Er nähert sich ihr, zieht die Schultern hoch, vielleicht, um sich kleiner zu machen und sie nicht zu erschrecken. Er nimmt ihre Hand: Kern und Schale, Perle das Kind, Auster der Vater. »Wie geht es dir?«, wiederholt er. »Wie war’s?« »Anstrengend«, sage ich, »und das Konzert?« »Wie immer.« Mit dem Zeigefinger streicht er über Helenas Wange, er wagt es nicht, sie aufzunehmen. »Wie schön sie ist!«, sagt er leise. Ich lege sie ihm in die Arme, eingebettet in die weißen Hemdfalten wie in ein flauschiges Leintuch. »Sie ist federleicht«, und auch er scheint dabei leicht, fast verlegen: »Komm schon, erzähl mir.« Ich weiß nicht genau, was ich sagen soll, es sind Dinge, die durch Wörter ihre Kraft verlieren.