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Autorin und Verlag danken für die Unterstützung

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© 2018 edition bücherlese, Luzern

www.buecherlese.ch

Lektorat: Birgit Fritsch Baur

Korrektorat: Karin Büchler

Autorinnenfoto: Katrin Freisager

Umschlagbild: Die Thalschaft St. Antönien im

Prättigau in ihren wirtschaftlichen und pflanzengeographischen Verhältnissen, 1895. ETH-Bibliothek Zürich, Alte und Seltene Drucke

eISBN 978-3-906907-18-5

1. Auflage 2018

Anita Hansemann

Widerschein

Roman

Glossar am Ende des Buches

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Für Renata und Hitsch

Inhalt

I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

I

1

Die Kälte hatte den Wasserfall in ein Koboldgesicht verwandelt. Eis krachte ins Schanielatobel hinab. Auf dem Weg lagen Schneeschollen und lose Felsbrocken. Erde klebte an ihnen. Viid kickte einen Stein weg und schaute zu, wie er hoch in die Luft flog, mehrmals am Boden aufschlug und hinter einer Felskante verschwand. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Vielleicht stand sie dort unten. Dieser Stein, von seinem Stiefel in Bewegung versetzt, konnte ihren Schädel, ihre Schulter, ihren ganzen Körper zerschmettern.

Viid hatte seine Pelzmütze tief über die Ohren gezogen. Wieder ein Krachen. Direkt vor seiner Nase schoss Geröll vorbei. Er lachte. Einer wie er fürchtete sich nicht vor den polternden Steinen des Frühlings. Weder Fels noch Eis konnten ihm etwas anhaben. Er besaß die Flinkheit eines Luchses, den Spürsinn eines Wolfes, die Geduld eines Falken. Diesen Weg kannte er wie seine Westentasche. Seit er sich erinnern konnte, war er hier durchgegangen. Bereits als kleiner Junge hatte Öhi Happ ihn auf den Schultern ins Täli hochgetragen. Huckepack auf den Spuren eines wilden Tiers.

Viid beschleunigte seinen Schritt. Sie war wieder da. Die weiße Gämse trieb sich in den Felswänden Partnuns herum. Er wusste, wo sie sich aufhielt. Die Schöne, die Weiße. Er war ihr einmal begegnet. Über den Höhlen hatte sie sich in der Wand gehalten. Ihre Hörner gezackt, die Ohren gereckt, hatte sie ihn angesehen, war in den Fels gesprungen und verschwunden. Und er? Hatte dagestanden, allein auf der Fluh, ihr Ruf in sich drin: »Komm mit, komm mit.«

Diesmal würde sie ihm nicht davonkommen. Er würde sie kriegen. Es war Frühling, er nutzte die Gelegenheit, war als Erster hinter ihr her. Was scherte es ihn, wenn er das Jagdgesetz übertrat? Er verstaute sein Klappmesser tief in der Innentasche, verbarg die Flinte an seiner Brust unter dem Mantel. Keiner würde ihn abhalten, ihn, Viid Kollegger, den besten Jäger des Tals.

Er erreichte das Egg und blieb stehen. Zahllose Lawinen hatten über die Jahre eine Schneise in den Wald geschlagen. Im Herbst röhrten hier nachts die Hirsche. Gerade lag Ruhe über dem Hang, kein Vogel zwitscherte. Die Spuren verloren sich, keine führte über den Schnee. Viid zögerte. Sollte er wie die Tiere die Lichtung umgehen? Er hatte es eilig, er musste Partnun noch vor dem Mittag erreichen, sonst würde er kaum Gelegenheit haben, die Gämse heute noch zu sichten. Er würde den Hang so schnell wie möglich überqueren und an der Stelle hinunterstechen, wo der Wald in die Lichtung hineinwuchs.

Der Boden brach unter ihm weg. Er hatte die Schneewehe übersehen. Er warf sich nach hinten, griff nach einem Strauch. Die Lawine rauschte unter ihm in die Schlucht, riss Tännlein und Steine mit sich, pfiff und polterte. Der Lärm verklang. Die Luft roch nach Erde. Schneestaub legte sich über die Fichten. Viid prüfte vorsichtig, ob nichts gebrochen war. Er erhob sich ächzend und klopfte sich den Schnee von Mantel und Rucksack. Verdammt, er hatte Glück gehabt und nur eine kleine Lawine ausgelöst. Er musste hier weg.

Bald hatte er das Wildasyl hinter sich. Nach drei Kurven fiel der Weg steil zum Bremboden ab. Unten rauschte der Bach. Milchig grau schäumte er über die Steine, höhlte Löcher in das vereiste Ufer. Die Schneeschmelze entfaltete ihre volle Kraft. Um ins Täli zu gelangen, wollte Viid bis zur Landstraße dem Uferweg folgen. Er stapfte den Hang hinab, atmete im Rhythmus seines Schritts. Er hatte es eilig, drosselte nicht, kam plötzlich ins Rutschen, fing sich wieder.

Auf dem Bremboden lag Schnee. Eine Hasenspur führte quer zum Waldrand hinauf. Ein Lawinenkegel mit schmutzig braunen Schollen zog sich das Seitentobel herab. An der Uferböschung des Bachs wuchsen pilzartig die weiß-rötlichen Blütentrauben der Alpen-Pestwurz. Huflattiche streckten ihre gelben Köpfchen durch die braunen Graswasen im tauenden Schnee. Rehe und Hirsche hatten sich am Bachufer ihren Weg gebahnt. Viid musterte den Abdruck einer Pfote, die sich über eine Hirschspur gelegt hatte. Das war keine Katzenpfote. War hier vor Kurzem ein Luchs durchspaziert? Er äugte nach dem Raubtier, das ihn vermutlich heimlich durch das Geäst einer alten Fichte beobachtete. Nichts. Er folgte weiter der Wildspur. Seine Schritte verursachten glucksende Geräusche und hinterließen schlammige Tritte im Schnee. Er kam stetig voran.

In Ascharina hielt er inne. Über dem Wald erhob sich das Chüenihorn. Lawinenverbauungen zeichneten dunkle Bänder quer über seinen verschneiten Buckel. Viids Augen richteten sich auf den hintersten Winkel des Tälis. Die Schijaflue lag im Schatten. Trieb die Gämse sich dort herum? Er würde es herausfinden. Wenn nicht heute, dann morgen oder an einem anderen Tag. Es war nicht das erste Mal, dass er durchhielt, zäh bis zum Schluss.

Bevor Viid in den Wald einbog, kam er an einer Säge mit angebautem Kleinkraftwerk vorbei. Das Gebäude glich von außen einer Scheune, wäre da nicht dieser Holzmast mit den Isolatoren und Drähten gewesen. Ob das Werk noch in Betrieb war? Viid warf einen Blick durch die trüben Fensterscheiben. Eine Turbine stand mitten im Raum. Im vorderen Teil wartete eine alte Säge auf ihren Einsatz, ihre verrosteten Schienen führten unter dem Tor hindurch auf den Vorplatz hinaus. Eine Leiter lag umgekippt auf dem Boden, darunter lugte eine Axt hervor. In einer Ecke lehnte eine Brechstange, daneben lagen ein Vorschlaghammer, eine Handsäge, lose Nägel. Jede Oberfläche war mit Sägespänen und Staub bedeckt. Als hätte jemand während der Arbeit alles fallen und liegen lassen und sich davongemacht. Etwas erhöht stand ein Wohnhaus mit angebautem Hühnerstall. Holunder und Brombeergestrüpp wucherten an der Seitenwand empor. Das Hühnerhaus wirkte zerfallen. Sein Schindeldach war eingebrochen, das Törchen hing in den Angeln, im Gehege stritten sich Brennnesseln und Alpen-Ampfer um einen Sonnenplatz. Ein Krähenpaar hatte sich in einem Ahorn eingenistet. Viid bemerkte die beiden Futterhäuschen, die vor dem Küchenfenster baumelten. Vögel flogen sie abwechselnd an und sausten mit vollem Schnabel wieder davon. Weiter oben am Berghang weidete auf einer schneefreien Wiese ein Rudel Hirsche. Von einem der Höfe herab vernahm Viid den vertrauten Klang eines Bauern, der Holz hackte. Eine Motorsäge brummte. Er wandte sich der Landstraße zu und verschwand zwischen den Fichten im Wald. Dort empfing ihn der Bach. Dröhnendes Rauschen erfüllte die Luft. Gischt spritzte über Viid hinweg, als er die eiserne Brücke überquerte. Sein Schaffellmantel trotzte Regen und Schnee, die Lederstiefel hielten Beine und Füße trocken, trotzdem, er war froh, als er den Wald hinter sich hatte. Er kam unter dem Heimwesen der Härtli-Brüder vorbei. Die beiden lebten zusammen, obwohl sie derart zerstritten waren, dass sie zwei Zugangswege aus ihrer Wiese herausgebrochen hatten, für jeden der Brüder einen.

Nach der Höh Halda machte die Straße eine Kurve. Vor Viid öffnete sich das Hochtal. Weit hinten schimmerte grau die Schijaflue. Wie sich duckende Luchse kauerten die Einzelgehöfte mit ihren breiten Dächern verstreut an den Berghängen. Auf dem Platz, dem ehemaligen Versammlungsort des Tälis, drängten sich die Holzhäuser aneinander, als bildeten sie gemeinsam mit dem Berghang einen Schutzwall für die Kirche. Diese stand frei und reckte ihren jahrhundertealten Schieferturm zum Himmel. Die Häuser auf dem Platz, wie auch die anderen Bauernhöfe, waren halb in die Hänge gebaut oder durch einen Schutzwall aus Erde oder Beton vor den hinabbrausenden Lawinen geschützt. Diese Ebenhöche bremsten den Druck des herabstürzenden Schnees, leiteten ihn um die Gebäude herum oder darüber hinweg und retteten so Mensch und Tier.

Viid schritt über den Platz vor der Kirche. Zwei Bauern kamen ihm bei der Postautohaltestelle entgegen. Sie schauten nicht auf, als sie ihn passierten. Keiner erwiderte seinen Gruß. Ungehobelte Böcke, genau wie früher, dachte er. Er ging am Dorfladen mit der Benzinzapfsäule vorbei, erreichte die Anhöhe mit dem Schulhaus, dessen Ebenhöch aus Beton ihn an den Schwanz eines Drachen erinnerte, und wählte bei der Weggabelung die Straße Richtung Rüti und Partnun. Nach der Kurve blieb er stehen. Dort wo der Schnee weggeschmolzen war, überzogen Krokusse die Wiesen wie weißer und violetter Flaum. Weiter oben an den Berghängen konnte Viid die braunen Abbruchstellen der Lawinen erkennen. Er zog die Pelzmütze vom Kopf und strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Er atmete tief durch, schloss für einen Moment die Augen. Ihm war schwindlig. War er zu schnell gelaufen? Gegen seinen Willen blieb sein Blick am Oberst Hof hängen. Dieser stand weit oben am Wiesenhang. Viids Herz klopfte ihm bis zum Hals.

Er sah Mia vor sich, als wäre es gestern gewesen. Mit einem Kalb am Strick war sie ihm beim Büelbrüggli begegnet. Trotz des festen Stoffes hatten sich ihre jugendlichen Brüste unter der Arbeitskutte abgezeichnet. Sie hatte ihr kupferrotes Haar unter einer schwarzen Zipfelmütze verborgen. Eine Strähne hatte sich gelöst und kräuselte sich um ihren weißen Hals. Mias Gesicht, ihre Wangen, ihre Augen, alles an ihr hatte gestrahlt, als sie ihn fragte:

»Treffen wir uns heute Abend bei der Chilchhöli, Viid?«

Er fuhr sich über die Augen. Das war vor dreißig Jahren, du Kindskopf, schalt er sich. Du trauriger Träumer, alles nur Trugbilder. Dass nichts aus ihm und Mia geworden war, dafür hatte die Alte gesorgt. Er war sich sicher, Nutini war damals mit dem Fernglas am Fenster ihrer Kammer gestanden, hatte zum Büelbrüggli auf ihn und ihre Tochter heruntergespäht, ihre Sprüche gemurmelt und sie gerufen. Die weiße Gämse.

Der Oberst Hof, seit Jahrhunderten von der Familie Flütsch bewohnt, lag da wie früher. Wie ein Schutzmantel breitete sich das ausladende Dach über Haus und Stall. Weiter oben wuchs der Wald bis hinauf unter die Alp und schützte das Anwesen und die beiden weiter unten am Hang liegenden Gebäude vor den Lawinen des Chüenihorns. Der Stall des Bauernhofs war halb in den Hang gebaut. Das zweistöckige Wohnhaus stand seitwärts versetzt davor, verbunden durch die gedeckte Stallbrücke, damit man bei Regen oder Schnee trockenen Fußes zur Haustür gelangen konnte. Mit seinen sonnenverbrannten Holzwänden und den neun Fenstern wirkte das Haus wie ein düsteres Wesen, das über das Täli wacht. Die Föhre, die Mia zur Geburt ihres kleinen Bruders gepflanzt hatte und an die Viid sich nur als schmächtiges Tännlein erinnerte, stand stattlich daneben. In ihrem Geäst saß ein Habicht. Der Miststock vor dem Stall dampfte in der Sonne. Aus dem Schornstein des Wohnhauses stieg Rauch. Sonst rührte sich nichts. Viid zuckte zusammen. Nutini stand am offenen Fenster ihrer Kammer. Ihre langen Zöpfe hatte sie mehrmals um den Kopf gewunden wie früher, aber anstatt dick und dunkelbraun waren sie heute weiß und dünn wie Seile. Ihre schwarzen Kleider schlotterten um ihren mageren Leib. Sie war von einer stattlichen Frau zu einer grauen Maus zerfallen.

Nutini. Die konnte ihn nicht hinters Licht führen. Er kniff die Augen zusammen. Was zum Teufel hielt sie sich vors Gesicht? Ihr Fernglas. Es war hinauf zur Schijaflue gerichtet. Diese alte Hexe, schon als er ein Junge gewesen war, hatte sie ihn stets misstrauisch beäugt.

Reglos spähte sie hinauf zur Fluh. Sie durfte ihn nicht bemerken, auf keinen Fall durfte sie mitkriegen, dass er zurückgekehrt war. Er blickte sich um. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste den Umweg hinunter zum Bach nehmen. Nur hinter der Uferböschung war er vor ihren Blicken geschützt. Er stahl sich hundert Meter zurück, bis er hinter einem Hügel vor ihr verborgen war, und stach den Hang hinunter. Der Bach hatte sich in die Erde gefressen. Ahorn, Weiden und Gestrüpp wuchsen entlang seines Ufers. Viid strauchelte, griff nach einem Ast. Dieser brach, Viids Fuß glitt aus. Er landete auf seinem Hintern, rutschte, seine Hände griffen Halt suchend in Dreck. Vor seinen Sohlen sammelten sich Geröll und Schlamm. Er konnte nur mit Mühe abbremsen. Unter ihm schäumte der Bach. Eine umgestürzte Fichte lag quer darüber. Wasser sprudelte über ihren Stamm hinweg. Viid richtete sich auf. Seine Handballen brannten. Mantel und Hose strotzten vor Dreck. Er wischte die Erde mit etwas Schnee, so gut es ging, von Händen und Kleidern, schlug den Mantel über sein Gewehr, schulterte den Rucksack und stieg bergan. Er würde sich so lange wie möglich im Schutz des Bachufers halten.

2

Der Habicht blinzelte nicht. Seine orangen Augen fixierten die ihren. Er schlug mit seinen Krallen zu, traf ihren Unterarm. Mia empfand keinen Schmerz, nur diese Hitze, das Rauschen des Bluts in den Adern. Noch nie hatte sie eine solche Wut verspürt. Sie zitterte. Der Raubvogel musste sterben. Hinter ihr drängten sich die Hühner in die Ecke des Stalls. Ihr Gegacker begleitete den Kampf, es klang wie Applaus in ihren Ohren. Sein rechter Flügel hatte sich im Maschendrahtzaun des Geheges verfangen. Er hing fest. Flatterte. Ein Habicht ergibt sich nicht. Mia umklammerte die Eisenstange. Sein freier Flügel hielt ihn im Gleichgewicht. Wieder griff er an, holte mit den Fängen aus. Seine Krallen trafen die Luft. Sie war vorsichtig, hielt sich um Armeslänge entfernt. Er verharrte einen Augenblick. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, schwang die Stange über den Kopf. Sie traf ihn seitlich an der Brust, die Stange rutschte ab, schlitterte zu Boden. Jetzt griff er an, hackte mit dem Schnabel auf ihre Schulter ein, bohrte seine Krallen in ihren Arm. Sie schrie auf, griff nach der Eisenstange, schlug nochmals zu und traf mit voller Wucht.

Sein Kopf hing schräg zur Seite, er rührte sich nicht mehr. Mia sackte zusammen. War er tot? Sein freier Flügel zuckte ein letztes Mal. Sein Blick brach.

»Nicht weinen.«

Mia spürte eine Hand an ihrer Schulter.

»Mia soll aufstehen. Steh auf.«

Sie presste ihre Stirn an Jakobs Arm. Er roch nach einem Gemisch aus Stall, säuerlicher Milch und Tabak.

»Ich hatte diese Wut, Jakob. Kannst du dir diese Wut vorstellen? Nein, du kannst es nicht.«

»Mia ist stark. Mia beschützt uns, Trix und mich. Auch Raubvögel können uns nichts anhaben, solange Mia bei uns ist.«

Sie schaute ihn an. Es tat gut, sein Gesicht zu betrachten. Das blonde Kraushaar, die schmale Stirn, seine abstehenden Ohren, die lustigen Fältchen um Nase und Mund. Er kaute auf einem kalten Stumpen herum, wie dies der Ätti früher getan hatte. Besonders in seinen Gesten erinnerte Jakob sie an ihren Vater. Konnte es sein, dass ihr Bruder mit seinen vierzig Jahren nur gerade vier Jahre jünger war, als der Ätti es gewesen war, als er starb?

Hinter ihnen meckerte Jakobs alte Ziege Trix. Ihr struppiges, weißes Fell hatte seinen Glanz verloren, Schulter- und Hüftknochen standen von ihrem mageren Körper ab. Sie stupste Jakob am Arm. Er griff in seine Hosentasche und holte ein Stück trockenes Brot hervor. Blitzschnell verschwand es in ihrem Maul. Mia erhob sich und hakte sich bei ihrem Bruder unter. Er stand ruhig neben ihr. Die Anspannung fiel von ihr ab. Zusammen mit Jakob ertrug sie den Anblick des toten Tiers, ohne dass sie von Schaudern erfasst wurde. Ein erlegter Vogel, sein Flug unterbrochen, die Augen leer. Mit ihrem Bruder an der Seite konnte sie dem Tod in die Augen sehen.

Jakob, von Engeln gestreift.

Ein weiterer Habicht zog in einem großen Bogen über den Oberst Hof hinweg und verschwand gegen Partnun im Wald. Er erschien Mia grösser und kräftiger, als der erschlagene Vogel, also musste es ein Weibchen sein. Ob sie ein Paar gewesen waren?

»Mia blutet«, hörte sie Jakob sagen.

Erst jetzt wurde sich Mia ihrer Wunden bewusst. Ihr Arbeitshemd hing in Fetzen, über ihren rechten Unterarm rann Blut, sammelte sich an Mittel- und Ringfinger und tropfte zu Boden. Der Habicht hatte sie in dem Augenblick am ärgsten mit seinen Krallen erwischt, als sie mit der Eisenstange zum Todesschlag ausgeholt hatte. Mia zerriss ihren zerfetzten Ärmel und wickelte den Stoff um ihren Arm. Das Blut gerann nur langsam.

An dem Tag, als Viid und sie Freunde geworden waren, hatte sie auch am Arm geblutet. Sie sah die Singertanne vor sich, als wäre es gestern gewesen. Die Rottanne, unter der die jungen Altjahrsänger ihr Lied geübt hatten, bevor sie bei den ledigen Mädchen in der Engi mit ihrem Singen und Wünschen begannen, war inzwischen gefällt worden. Trotzdem hätte Mia jeden Ast aufzeichnen können. Heute standen dort drei Ferienhäuser mit schwarz bemalter Fassade, weißen Fensterrahmen und roten Läden, umgeben von diesen immergrünen Gärten, die nie brachlagen. Stapfa-Hitti hatte es nicht lassen können und seinen Boden verkauft, nachdem dieser zu Bauland umgezont worden war. Das große Geld hatte er damit nicht gemacht. Mia stand da, neben Jakob, die Hühner wagten sich leise gackernd aus dem Stall. Eine Kraft erfasste sie, sie fühlte sich unbändig und frei, als wäre sie wieder das Mädchen von neun Jahren.

Arme vor, den Ast packen und hochziehen. Ihre nackten Füße kraxeln den Stamm hinauf, ihre Hände wechseln sich ab. Rechts, links, hoch mit ihr, eins, zwei, drei. Bei neun will sie oben sein, keine Sekunde länger will sie dafür brauchen. Ihre Hose verheddert sich an einem Aststumpf. Sie stoppt und lässt sich baumeln. Wieder nicht geschafft. Sie wird es weiter versuchen, auch wenn es zu dämmern beginnt, auch wenn ihre Mutter nach ihr sucht, ihr kleiner Bruder um sie weint. Sie wird es versuchen, bis sie in der Zeit oben ist, die sie sich vorgenommen hat. Mia blickt am Stamm der Tanne hoch. Sie geht jede Bewegung im Kopf genau durch, spannt ihren Körper. Sie ist so weit, jetzt. Sie schnellt hoch. Bei drei ist sie weiter oben denn je, bei sechs hangelt sie sich am Aststumpf vorbei, bei neun hängt sie bäuchlings über dem dicksten Ast, genau dort, wo sie hinwollte. Sie zappelt, sie jauchzt. Ihr Haar hängt wie eine kupferrote Fahne in der Luft. Kopf vornüber blickt sie in die Welt. Sie bleibt so, mit geschlossenen Augen, ohne zu atmen.

Sie vernimmt ein Wimmern. Oder eher ein Winseln? Das Fiepen eines Rehkitzes im Gras? Sie blinzelt. Ihr Haar verdeckt ihr die Sicht. Da ist es wieder. Sie stemmt den Oberkörper hoch und sucht mit den Augen die Allmend ab. In sich zusammengesackt, die Hände vor das Gesicht geschlagen, hockt zwischen den überwucherten Kalksteinen ein Junge. Sein Hütestecken liegt neben ihm im Gras. Es ist Viid. Sie besuchen dieselbe Klasse. In Mias Klasse sind sie sogar zu siebt. Sie, Chlaas, Viid, Deti und die Zwillinge sowie Stäfi, der eine Klasse wiederholen musste. Mia ist stolz auf ihre große dritte Klasse. Bei vierzig Schülern verteilt auf neun Klassen bedeuten sieben Schüler viel. Wenn Viid nur nicht so verschlossen wäre. Sie hat es mehrmals versucht, aber mit diesem mürrischen Jungen lässt sich einfach kein Gespräch anfangen. Nie schlägt er in der Pause ein Spiel vor, nie begleitet er sie und Chlaas auf dem Nachhauseweg hinauf in die Rüti. Kaum bimmelt die Schulglocke, ist Viid bereits zur Tür hinaus und läuft vornübergebeugt mit seinem geschulterten Ranzen am Dorfladen vorbei zum Hotel Rhätia hinunter, wo er auf seine Mutter Franziska warten muss, bis sie die Zimmer gereinigt hat. Manchmal werden Mia und Chlaas auf dem Nachhauseweg von ihrem Moped überholt. Franziska am Lenkrad winkt. Aber ihr Sohn? Der klammert sich am Gepäckträger fest und schaut weder nach rechts noch nach links.

Wieder vernimmt Mia sein Schluchzen. Sie klettert zwei Äste tiefer und äugt durch die Zweige. Viid stolpert heulend über die bucklige Allmend auf sie zu. Er rutscht aus, fällt hin, rappelt sich hoch und geht weinend weiter. Mia packt mit beiden Händen den Ast und schwingt sich herum. Ihr Haar fliegt durch die Luft. Ein Sprung, ihre Füße landen im Gras. Ein Wiesel huscht zwischen den Steinen davon.

Sie tritt vor Viid. Augenblicklich hört er auf zu weinen.

»Vielleicht sind sie schon tot«, stößt er hervor.

Erschrocken über die Bedeutung seiner eigenen Worte wird er wieder von Schluchzern geschüttelt. Mia überkommt ein mulmiges Gefühl. Ein Junge wie Viid weint nicht einfach so, schon gar nicht vor einem Mädchen. Sie verlagert ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, blickt ratlos in sein gerötetes Gesicht.

»Mit erhobenen Schwänzen sind sie gerannt. Alle werden sie in den Bach stürzen.«

Sicher meint er das Jungvieh des Büel-Chrischtn. Mia hat Viid vor zwei Stunden beobachtet, wie er die Herde von der Rüti hier herauf getrieben hat. Büel-Chrischtn ist der grimmigste Bauer im Täli. Sobald ein Kind ihm zu nahe kommt, legt sich seine Stirn in Falten. Er stößt Verwünschungen aus, fuchtelt abwehrend mit den Armen und hört nicht eher auf, als bis es aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Kein Kind wagt sich in seine Nähe. Mia fragt sich, warum Viid ausgerechnet bei diesem Bauern arbeiten muss. Hat es damit zu tun, dass das Haus im Mattelti, in dem er mit seiner Mutter wohnt, Büel-Chrischtn gehört? Nicht nur mit Kindern, auch mit Erwachsenen geht der Bauer oft grob um. Nur seinen Esel scheint er zu mögen. Mia hat ihn bereits mehrmals dabei beobachtet, wie er vor ihm stand, die langen, samtenen Ohren des Tiers in den groben Pranken, und scheinbar ausführlich mit ihm plauderte. Wie gerne hätte sie erfahren, was er da erzählte.

Vielleicht hat Viid das mit dem Esel auch irgendwann beobachtet. Vielleicht arbeitet er deshalb für den Mann, damit er wenigstens lernt, sich mit einem Tier zu unterhalten. Jetzt hat er die Bescherung. Mia will sich lieber nicht ausmalen, was geschehen wird, wenn er ohne das Jungvieh vor Büel- Chrischtn treten muss. Sie muss ihm helfen.

»Wir gehen sie suchen.«

»Dann stürzen wir alle ab.«

»Ich kann klettern, hast du vorhin nicht zugeschaut?«

Er hat wie immer rein gar nichts bemerkt. Er schaut das erste Mal auf. Sein Blick zerreißt ihr das Herz.

»Ich weiß doch, wie steil die Rüfi zum Bach abfällt. Und der Schnee, alles nass und rutschig. Nicht einmal die Rinder wollten gehorchen. Dabei hat Büel-Chrischtn mir extra befohlen, beim Schrägzaun aufzupassen, damit die Tiere nicht ausschären, und sie vorsichtig zum Stall hinüberzulenken. Er wollte nachkommen, aber nach einer halben Stunde war er immer noch nicht da.«

So viele Sätze hat Mia ihn noch nie freiwillig aneinanderreihen gehört. Was war Büel-Chrischtn nur für ein Mensch? Einen Buben alleine mit seinem Jungvieh zum Feldstall hinaufzuschicken. So etwas hätte nicht einmal ihre Mutter Mia zugemutet.

Etwas abseits steht ein von Flechten und Moos überwachsener Ahorn, und ihr ist, als äuge dahinter das Äbifräuli hervor und zwinkere ihr zu, um ihr zu bedeuten, dass alles nur halb so schlimm sei. Ob sie wegen Viids Schluchzen extra aus der abschüssigen Äbi in Partnun herübergestiegen ist? Die Leute sagen ihr nach, dass sie die letzte der wilden Fänggen sei, die früher hier in der Gegend gelebt und für einen Schluck Milch oder ein Stück Käse das Vieh gehütet und die Tiere an gefährlichen Stellen vor dem Sturz bewahrt hatten.

»Wohin genau sind sie gerannt?«

»Dem Schrägzaun nach immer weiter hinab. Ich bin ihnen nachgesprungen, aber es hat nichts genützt.«

»Was bist du für ein Hüterbub? Dem Vieh hinterherspringen. Das weiß doch jeder, dass es dann umso schneller rennt.«

Viid starrt mit zusammengepressten Lippen vor sich hin. Sein Kinn zittert.

»Rechts oder links vom Zaun?«

»Zuerst durch den Wald hinab, dann weiter, immer weiter. Ach, ich weiß auch nicht.«

Mia erschaudert. Einen Moment lang sieht sie vor ihrem inneren Auge, wie die Tiere zwischen den Bäumen und Wurzeln Halt suchen, auf dem Schnee und der feuchten Erde unweigerlich zu rutschen beginnen, sich überschlagen und brüllend in den Bach hinunterstürzen. Sie spürt förmlich, wie ihre Körper aufschlagen, hört das Geräusch ihrer brechenden Rippen. Gebannt von dieser Vorstellung meint sie das Totenvolk zu sehen, wie es um Mitternacht durch den Rütiwald zieht, ein Gemurmel wie Bienensummen. Alle sind schwarz gekleidet und tragen rote Strümpfe, zuvorderst schreitet der Pfarrer mit seinem roten Hut. Abseits geht Viid im zweifarbigen Hemd. Der Pfarrer fasst ihn bei der Hand und die Gesellschaft verschwindet zusammen mit dem Vieh zwischen den Stämmen im finsteren Wald.

Mia muss sich zusammenreißen. Wieder glaubt sie, das Äbifräuli äuge hinter dem knorrigen Ahorn hervor. Sie macht einen Schritt zur Seite, um sie zu erwischen, und blickt unvermittelt einem Kalb in die Augen. Es steht nur fünfzig Meter entfernt am Waldrand und schaut zwischen den Stämmen zu ihnen herüber. Sie horcht. Der Klang von Schellengebimmel dringt an ihr Ohr. Auf der Anhöhe erscheint ein weiteres Kalb. Es bleibt stehen und muht.

»Lercha.«

Erleichtert will Viid losrennen. Doch Mia bedeutet ihm mit einer knappen Handbewegung, stehen zu bleiben. Er gehorcht

»Chom buschi buschi!«, beginnt er die Tiere mit gedehnten Vokalen zu locken und lenkt sie zu Büel-Chrischtns Feldstall hinüber. Mia fällt mit ein, und gehorsam folgen die Tiere ihnen, zuvorderst die Kälber, dann die drei tragenden Rinder und zum Schluss die einjährigen Jungrinder, die sich necken und stoßen.

Vor dem Stall bleiben die Tiere stehen. Die Kälber muhen. Zum Glück biegt Büel-Chrischtn auf seinem Motorrad um die Kurve. Er parkiert das Fahrzeug am Straßenrand, schultert den Rucksack und schreitet über den schmalen Weg auf sie zu. Mia duckt sich hinter Viids Rücken und macht sich so klein wie möglich.

»Das habt ihr gut gemacht«, sagt der Bauer und zwickt Viid in die Wange. »Helft mir noch, die Tiere im Stall anzubinden, dann seid ihr entlassen.«

Büel-Chrischtn steigt über die Treppe der Stallbrücke auf den Heuboden hinauf, um das Futter zu schroten. Mia hat es eilig und rennt. Erst beim Schrägzaun wartet sie, bis Viid sie erreicht. Er blickt zu Boden, räuspert sich.

»Danke«, sagt er.

»Komm.« Mia nimmt seine Hand.

Sie rennen, sie hüpfen, sie lassen einander nicht los. Mia zieht Viid zur Wiese, wo der Schnee bereits weggeschmolzen ist, und wirft sich seitwärts zu Boden. Sie zieht die Fäuste an die Brust und rollt. Viid tut es ihr nach, zusammen rollen sie die Moräne hinunter, eine Alpenbraunelle flattert vor den purzelnden Kindern davon. An der steilsten Stelle prallen sie ineinander. Der Schlag wirft Mia zur Seite, sie rammt die Kante eines Steins. Ein beißender Schmerz durchfährt ihren Arm. Sie richtet sich auf, sieht, wie das Blut über ihren Unterarm rinnt und in der Erde versickert. Viid verliert kein Wort, opfert sein Hemd, wickelt die Fetzen um die Wunde und bringt es zustande, dass diese sich bereits nach fünf Minuten zu schließen beginnt. Er sitzt neben ihr, seine kühle Hand auf ihrem Arm lindert ihren Schmerz, wenigstens kommt es ihr so vor. Sie blickt nicht auf, sie reden kaum, sitzen einfach still nebeneinander.

Mia spürte eine Hand an ihrer Schulter und schreckte aus den Kindheitserinnerungen auf.

»Mia muss ihren Arm hochhalten, damit es aufhört, sonst hört es nie auf«, drang Jakobs Stimme an ihr Ohr.

Es gab Menschen, denen Verletzung oder der Tod keine Furcht einflößten. Jakob und Viid waren solche Menschen. Ihr Bruder zog Mia zur Haustür. Er nickte mit dem Kinn zum Habicht.

»Jakob kümmert sich nachher darum.«

Mia würde ihm seinen Willen lassen. Die Mutter kriegte solche Dinge nicht mehr mit. Mia wollte zuerst ihre Armwunde behandeln, danach würde sie der Mutter einen Kamillentee hinauf in die Kammer bringen, sie überreden, den Zwieback zu essen, und trotz ihres Protestes das Zimmer lüften.

Nach dem Mittagessen hing der Habicht kopfvoran am Stalltor. Jakob hatte das Gefieder gereinigt, zurechtgezupft und das Blut abgewaschen. Von der Wunde war nichts mehr zu sehen. Mia wusste, er würde den Kadaver ein paar Tage hängen lassen, zur Abschreckung gegen weitere Greifvögel und böse Geister.

3

Lief dort die Gämse über das Felsenband hinauf? Viid musste sich getäuscht haben. Nur der Schatten einer Wolke war über die Schijaflue geglitten. Unter ihm lag silbergrün der Bergsee. Schnee füllt seine Mitte aus. Eisschollen schwammen reglos auf seiner Oberfläche. Die Luft war erfüllt vom Rauschen der Bäche, die an den Schneehängen heruntersprudelten, aus ihren vereisten Gängen auftauchten, wieder verschwanden und beim Eintauchen in den See wirbelnde Schlünde in die Eisdecke höhlten. Die nasse Erde glitzerte. Noch überwog der Schnee an Hängen und Felswasen, doch bald würden die Frühlingsblumen ihre bunten Köpfe übermütig durch den Boden stoßen, überall dort, wo er gerade wegschmolz, und mit ihren starken Farben die Insekten anlocken. Viid meinte das Geräusch eines erwachenden Murmeltiers in seinem Bau zu vernehmen. Oder war es das Äbifräuli, das sich einen Ausflug aus der schattigen Äbi hier herauf in den sonnenbeschienenen Felskessel gönnte und von ihm überrascht worden war?

Er fischte die Thermosflasche aus seinem Rucksack und trank den süßen, starken Schwarztee. Er wandte sich um und blickte zur Sulzfluh hoch. Er ließ sich nicht täuschen. Irgendwo stand sie, äugte hinter einem Felsen hervor, dieses hinterhältige Tier, und beobachtete ihn. Er saß mit dem Rücken zu ihr. Er würde sich nicht mehr umschauen, ruhig auf diesem Stein sitzen bleiben und warten. Sein Körper fühlte sich schwer an. Müdigkeit überkam ihn. Er schloss die Augen, meinte plötzlich Kinderlachen vom See zu hören, den schweren Sommerduft von Alpenkräutern und wilder Pfefferminze zu riechen.

Eine Fliege summt. Ein Turmfalke hält sich scheinbar reglos im Rüttelflug in der Luft.

»Ki ki ki ki!«, lässt er seinen Ruf ertönen und gleitet über den tiefblauen Himmel. Ein Augusttag, an dem selbst die Erwachsenen vergessen, dass die Kinder zum Arbeiten da sind. Mia steht in ihrer Unterhose bis zu den Knien im eiskalten Wasser, blickt Viid erwartungsvoll an, holt tief Luft und taucht unter. Er taucht ihr nach, schwimmt mit kräftigen Zügen nach unten, holt sie ein. Sie rudern mit Armen und Beinen, halten sich möglichst lange am Grund des Sees. Sie fassen sich an den Händen, blicken sich an, stoßen sich dann an den glitschigen Steinen ab und tauchen gleichzeitig wieder hoch. Sie prusten, lachen und schwimmen mit klappernden Zähnen unter den Warnpfiffen der Murmeltiere ans Ufer. Es dauert eine Weile, bis sie zu schlottern aufhören und ihre klammen Glieder in die Kleider kriegen.

Sie sitzen nebeneinander auf der Weide im Gras. Mias Hand liegt warm in seiner.

»Kommt ihr am Sonntag ans Alpfest? Alle werden da sein. Sogar vom Tal unten werden welche heraufkommen, hat Ätti gesagt. Weil der Handorgel-Hitsch aufspielen wird.«

»Meine Mutter tanzt nicht.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Sie hasst es. Hat sie selber gesagt.«

»Wer sagt denn, dass man tanzen muss?«

»Sie muss arbeiten. Im Hotel Rhätia sind neue Sommergäste eingetroffen. Hast du das nicht bemerkt?«

»Dann kommst du alleine. Du isst mit uns am Tisch. Ätti hat bestimmt nichts dagegen, das weiß ich. Und Mama?« Sie zieht eine Grimasse, aber er kann die Furcht in ihren Augen sehen. »Die wird das gar nicht merken. Sie kommt ja nie mit. Und Ätti? Der kann schweigen wie ein Grab.«

Natürlich, Öhi Happ würde sich freuen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Viid mit ihm heimlich einen Tag verbringt. Er wirft Mia einen Seitenblick zu. Wieso beharrt sie darauf, wo sie doch genau weiß, dass er und seine Mutter stets fehlen, wenn die Bauern im Täli ihre Feste feiern?

»Du kannst auch bei der Kurve auf mich warten und ich hole dich ab. Nur weil deine Mutter arbeiten muss, heißt das noch lange nicht, dass du nicht dabei sein kannst.«

»Die prügeln sich nur.«

»Ach, nein. Letztes Jahr, das war nur wegen …«

»Nein«, unterbricht Viid sie.

Er rückt weg. Ihre Hand rutscht aus seiner. Er spürt ihren Blick auf sich und macht sich an seinem Schnürsenkel zu schaffen.

»Weißt du denn nicht, was Kollegger für ein Name ist?«

»Na und? Du bist von hier oder etwa nicht?«

Er springt auf, packt einen flachen Stein und lässt ihn über den See hüpfen, als hätte er die Beine einer Wasserlaus. Wellen breiten sich über die moorschwarze Oberfläche aus, in der die Felswände sich spiegeln. Mia tritt so lange gegen den Stiel einer Silberdistel, bis der Blütenkopf davonfliegt. Sie hebt ihn mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig hoch und beginnt die stacheligen Blätter abzuschälen, bis das Distelherz auf ihrer flachen Hand liegt, hellgelb und frisch, obenherum mit etwas Flaum bedeckt. Mit einem Kopfnicken fordert sie ihn dazu auf, sich wieder zu setzen und es zu verspeisen. Er lässt sich neben sie fallen, schüttelt aber den Kopf. Sie beißt selber hinein, steckt ihm die andere Hälfte in den Mund. Zusammen kauen sie und das Distelherz entfaltet seinen süßlich-herben Geschmack. Sie sitzen da, Schulter an Schulter.

»Ich will nicht«, sagt Viid.

»Wieso?«

Wenn sie doch endlich aufhören würde, denkt er und springt erneut auf die Beine.

»Sag’s mir! Weil du nicht mit mir tanzen willst?«

Er dreht sich auf dem Holzsteg um.

»Seine Lieder«, ruft er zurück und rennt den Berghang hinab. »Wir mögen Handorgel-Hitschs Lieder nicht.«

Viid ächzte und schlug die Augen auf. Sein Mantel war verrutscht, die Flinte lugte hervor. Er hockte sich auf und sah zur Sulzfluh empor. Auf dem Gipfel stand das Holzkreuz in der Sonne. Er schulterte den Rucksack und stieg langsam den steinigen Pfad über die Alpweide bergan, der über eine Felsklippe in die Gruoba hineinführte. Ein Murmeltier pfiff. Es stand aufrecht auf einem Kalkstein und äugte so lange herüber, bis das Weibchen verschwunden war, dann folgte es ihm in den Bau. Viid schaute weg. Kleintiere interessierten ihn nicht. Er hatte noch nie einen Auerhahn geschossen, geschweige denn einen Hasen oder ein Murmeltier. Er hielt sich an die Großen, Wilden, besonders die Weißen. Koste es, was es wolle. Er würde sie kriegen. Auch wenn der Winter noch auf dem Berg hockte wie ein Riese, der nicht von seinem Platz weichen will. Viid würde hier oben verharren, bis es so weit war. In seinem Innern vernahm er bereits den entscheidenden Schuss seiner Flinte, sah, wie die Weiße in die Luft sprang, ihr Kopf zwischen die Vorderbeine einschlug, sie fiel. Er würde warten, bis sie den letzten Atemzug tat, sich dann zu ihr niederknien, ihr Gehörn packen, den Kopf zu sich drehen und ihr in die gebrochenen Augen schauen.

Er riss sich lachend aus dieser Fantasie. Da vernahm er ein Krachen. Eis brach, es kam aus dem Berg. Einmal nur, dann war es still. Er blieb stehen. Sein Kiefer mahlte. Bisher hatte er es zu vermeiden gewusst, mit aller Kraft seinen Weg so gewählt, dass er nicht hinschauen musste, zu der Stelle, wo die Höhlen lagen. Er blickte zur Chilchhöli hoch. Sein Herz setzte aus. Vor dem Eingang bewegte sich etwas Weißes, ein heller Umriss. Eine Sekunde nur, und die Erscheinung war im Berg verschwunden. Er war sich sicher, das war sie. Die weiße Gämse hatte gerade heruntergeschaut auf ihn, war in seinen Kopf eingedrungen mit ihrem Blick, hatte seine Gedanken gelesen, sie gelenkt, sein Herz beeinflusst. Sie hatte ihn gezwungen hochzublicken.