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Ellen Sell

Ohne Hund?
Geht gar nicht!

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www.net-verlag.de
Erste Auflage 2018
© net-Verlag, 09125 Chemnitz
Coverbild: Marc Wilken
Covergestaltung: Maria Weise
Foto: Rückseite und Bearbeitung der Innenfotos:
Alexandra Sell
Copyrights: siehe Anhang
printed in the EU
ISBN 978-3-95720-203-1
eISBN 978-3-95720-204-8

Wer nie einen Hund gehabt hat, weiß nicht, was lieben und geliebt werden heißt.

Arthur Schopenhauer

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Senta I und Senta II

Arienne

Joschi

Fleurie 1. Teil

Fleurie 2. Teil

Fleurie & Jorass 1. Teil

Fleurie & Jorass 2. Teil

Jorass

Jorass & Chablis 1. Teil

Jorass & Chablis 2. Teil

Jorass & Chablis 3. Teil

Chablis 1. Teil

Chablis 2. Teil

Margaux 1. Teil

Margaux 2. Teil

Margaux’ beste Freunde

Margaux’ Weggefährten 1. Teil

Margaux’ Weggefährten 2. Teil

Margaux 3. Teil

Verzeichnis Copyrights

Danksagung

Über die Autorin Ellen Sell

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Veröffentlichungen in Anthologien

Buchempfehlungen net-Verlag

Vorwort

Unsere Familie ist ein Paradebeispiel für die frühkindliche Prägung.

Im Elternhaus meines Mannes gab es nacheinander den Dobermann Wodan, die Dobermann-Hündin Dina und den Fox-Terrier Lumpi, den ich noch erleben konnte.

Die Dobermänner waren in ihrem Verhalten unauffällig und sehr lieb, erzählte mir mein Mann. Ganz untypisch gegenüber der heutigen Einschätzung dieser Hunderasse.

Dagegen sorgte der Nachfolger Lumpi für so manche Aufregung. Er war gern als Jäger in der Nachbarschaft unterwegs. Neben Ratten und Mäusen jagte er sogar Katzen. Eine Nachbarskatze hatte null Chancen, als er sie als Jagdobjekt auserkor und damit das vorher sehr gute nachbarschaftliche Verhältnis ins Wanken brachte.

Bedauerlicherweise gibt es Leute, die sich nicht vorstellen können, was Tiere, besonders Hunde, vielen Menschen bedeuten und was sie bewirken. Ich habe öfter erlebt, dass Hunde das Leben ihrer sehr kranken Menschen verlängerten und wie sie die verwitweten Ehepartner vor Einsamkeit bewahrten.

Es kam sogar vor, dass Hunde ihren verstorbenen Menschen folgten. Danach nahmen die Hinterbliebenen meistens wieder einen neuen Hund ins Haus.

So wie ein über achtzigjähriger Nachbar. Nach dem Tod seiner Frau und seines Dackels Charly, der seiner Frau nach zwei Monaten gefolgt war, las der Witwer in einer Tageszeitung eine Anzeige. Für einen acht Jahre alten Dackel, der zufällig auch Charly hieß, wurde dringend ein neues Zuhause gesucht.

»Den Hund wollte ich unbedingt haben«, erzählte er mir. »Unser Männerhaushalt funktionierte von Anfang an prima. Die Chemie zwischen uns stimmte, und vom Alter her passen wir gut zusammen.« Er streichelte seinen Hund und fügte hinzu: »Und wenn Charly mich überleben sollte, wird meine Tochter ihn zu sich nehmen.«

Gestern wurde in den Nachrichten über den Hurrikan, der sich auf Miami zu bewegte, und von der Evakuierung der Bewohner berichtet. Unter anderem von einer jungen Frau, die ihre Wohnung nicht verlassen wollte, weil sie ihren Hund nicht hätte mitnehmen können. Sie hatte sich ausreichend mit Wasser und Lebensmitteln für fünf Tage eingerichtet.

So würde ich auch handeln. Niemals würde ich und die meisten Hundebesitzer, die ich kenne, ihre Hunde allein zurücklassen.

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Wir wohnen jedoch in einem Stadtteil mit Einzelhausbebauung auf einem Endmoränenhügel. Ich genieße bei Spaziergängen durch die Straßen die Gärten mit Blumen, Sträuchern und Bäumen, in denen Vögel zwitschern und Eichhörnchen von Baum zu Baum springen. Währenddessen schnüffelt mein Hund an Hecken und Grasbüscheln, pinkelt gegen Baumstämme oder begrüßt Hunde, denen wir begegnen. Ich mag alle Hunde, nicht nur meine eigenen. Es gibt welche, die ein biblisches Alter erreichen. Wie Carlotta, genannt Lotti. Eine schwarze Labradorhündin, von der ich noch ausführlicher berichten werde. Sie wurde gerade sechzehn Jahre alt.

Viele Hunde, die ich jahrelang kannte, leben nicht mehr. Vergessen habe ich keinen. Beispielsweise die Mischlingshündin Ronja II. Sie starb mit vierzehn Jahren am 24. Dezember 2010 nach einem wundervollen, langen Leben in einer Familie, für die sie ihr ein und alles war.

Der Abschied war so schwer, dass die Familie bis heute ohne Hund blieb.

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Ich weiß, wie schmerzhaft der Tod eines Hundes ist, der im Laufe seines Lebens immer mehr zu einem geliebten Familienangehörigen wurde. Ohne Hund? Geht gar nicht! Ich habe es wirklich versucht. Sogar mehrmals. Unerträglich war dann die Stille im Haus und im Garten. Ich vermisste die gemeinsamen Spaziergänge, Wanderungen durch die Lüneburger Heide und an der Ostsee und die Gespräche mit den Hundebesitzern. Natürlich kreisten die um Hunde, jedoch nicht ausschließlich. Deshalb entwickeln sich nicht nur Freundschaften unter den Vierbeinern, sondern auch unter den Zweibeinern. Manchmal wurden Hunde sogar Vermittler von Lebenspartnerschaften.

Ich beobachtete außerdem, dass sich die Lebenslust und die Fröhlichkeit eines Hundes auf seine Menschen übertrug. Verbitterte, Griesgrämige verwandelten sich in umgängliche, gutgelaunte Weggefährten.

Das Leben der Hundehalter könnte jedoch schöner sein, wenn einige Leute sie nicht verbal oder durch Blicke diffamieren würden.

Ein Beispiel: Ich wollte am Straßenrand die Losung unseres Hundes mit einem Beutel aufnehmen. Plötzlich giftete mich ein Passant an: »Das tun Sie doch nur, weil ich gerade vorbeigehe.« Er verharrte so lange neben mir, bis ich die Hinterlassenschaft meines Hundes in den von der Stadt zur Verfügung gestellten Plastikbeutel verschwinden ließ.

Wir hatten Jahrzehnte lang zwei Labradore. Als ich eines Tages mit beiden Hunden durch die Straßen spazierte, kam uns eine Frau entgegen. Bewundernd blieb sie neben uns stehen.

»Oh, das sind ja schöne Tiere! Und dann gleich zwei.«

Ich nickte.

Daraufhin meinte sie: »Na, dann haben Sie bestimmt keine Kinder.«

Ich schmunzelnd: »Doch. Sogar zwei Töchter und drei Enkel.«

»Aha«, murmelte sie.

Als ich daraufhin zu den Hunden sagte: »So, jetzt geht Mama mit euch in den Wald«, zog sie die Augenbrauen hoch und ging kopfschüttelnd weiter.

Wir waren und sind für unsere Hunde wie für unsere Kinder, Papa und Mama – aus praktischen Gründen.

Als wir es bei einem der nachfolgenden Hunde verändern wollten, hatten wir keinen Erfolg. Das lag nicht am Hund, sondern an der Macht der Gewohnheit.

Ich beobachtete, dass die Diffamierungen Hunden und ihren Besitzern gegenüber gewaltig zunahmen, wenn wieder eine Kampagne gegen Hunde lief. Zum Beispiel, wenn in den Medien berichtet wurde, dass im Wald eine gewisse Hunderasse ein Reh gerissen hatte.

Schlechte Zeiten also für alle Hundebesitzer, während ihre Vierbeiner ahnungslos an Gräsern und Büschen schnüffelten oder mit anderen Artgenossen spielten.

Seit gut dreiundzwanzig Jahren wohnen wir sieben Gehminuten von einem Wald entfernt. Während dieser Zeit hörte oder las ich erst zwei Mal von solchen Vorfällen.

Ich weiß, dass Hundebesitzer, denen die Jagdleidenschaft ihrer Tiere bekannt ist, sie generell anleinen. Eigentlich müssten es alle tun, aber welcher Hundebesitzer bringt es fertig? Hunde brauchen viel Freiheit, sonst verändert sich ihr Verhalten. Jene, die nur an der Leine gehalten werden, sind meistens die, die gegenüber ihren Artgenossen aggressiv reagieren.

Andererseits muss man, wie ich, bereit sein, ein Bußgeld in Höhe von 75 Euro für einen Waldspaziergang von einer Stunde in Kauf zu nehmen. Was tut man nicht alles für sein geliebtes Tier, das keinem Wildtier etwas antun würde. Leider glauben das die wenigsten.

Auch mein Mann und andere Hundebesitzer lassen ihre Hunde zumindest eine Weile frei herumlaufen, damit sie mit ihren Artgenossen herumtollen oder sich ein geeignetes Plätzchen zum Lösen suchen können. Das machen wir Menschen doch auch.

Der Einsatz als Blinden-, Therapie-, Rettungs-, Hypo- und Drogenspürhunde wird natürlich anerkannt. Und wenn ein Hund auf der Autobahn herumirrt oder ein Artgenosse im Kaninchenbau stundenlang verschwindet, zeigen alle Menschen Mitgefühl mit dem Hund und dem Besitzer oder der Besitzerin, die manchmal eine Stunde auf die Rückkehr ihres Lieblings vorm Kaninchenloch ausharren oder letztendlich die Feuerwehr rufen müssen.

Die Liebe zum Hund könnte sich im frühesten Kindesalter entwickeln, wenn ihre Begleitpersonen keine Angst vor Hunde hätten. Die überträgt sich leider oft auf die Kinder. Wenn ich aber erzählte, dass mein Labrador Kinder sehr mag, dass ich Enkelkinder habe und so weiter, dann änderte sich die Situation.

Andererseits gibt es verhaltensgestörte Hunde, weil jemand am anderen Ende der Leine dazu beigetragen hatte. Dann ist natürlich Vorsicht angebracht.

Bekanntlich gibt es viele Hundefreunde, die sich der ausgesetzten, oft auf der Straße zur Welt gekommenen und streunenden Hunde annehmen. Es sind häufig welche aus ost- oder südeuropäischen Ländern, die vor der Tötung gerettet und über deutsche Tierheime und Pflegefamilien weitervermittelt werden.

So wie Anuschka, eine Mischlingshündin aus Rumänien. Von ihr werde ich noch ausführlicher berichten.

Ebenso vermitteln deutsche Tierschutzorganisationen Tiere, die im europäischen Ausland Tierheime errichtet haben. Die deutschen Mitarbeiter achten darauf, dass diese Heime gut geführt werden. Es gibt nur sehr selten Beanstandungen, denn die überwiegend einheimischen Tierpfleger sind hochmotiviert und sorgen wirklich vorbildlich für die ihnen anvertrauten Tiere.

Solche Heime, wie zum Beispiel die von Pro Animal, stehen den Tierfreunden, die diese Heime finanziell unterstützen, selbstverständlich für Besuche offen.

Von Besuchern las ich im Internet, dass die Tiere und Heime in einem erfreulich vorbildlichen Zustand waren.

Die ersten Hunde in unserer Familie waren Geschenke aus der Nachbarschaft: Senta I und Senta II. Zwei Schäferhündinnen.

Senta I und Senta II

Senta I hatte die Welpenzeit hinter sich und entwickelte sich zu einer süßen Junghündin.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter aus Unkenntnis oder aus finanziellen Gründen Senta nicht impfen ließ. Vielleicht auch, weil man in den fünfziger Jahren anders als heutzutage mit den Haustieren umging.

Als sie an der Staupe erkrankte, konnte ihr der Tierarzt nicht mehr helfen.

Die Trauer um diese kleine Hündin ist jetzt beim Schreiben wieder so gegenwärtig wie damals.

Ein anderer Nachbar schenkte uns jedoch bald darauf wieder einen Schäferhund-Welpen, wieder eine Senta, wieder ohne Stammbaum.

Solche Hunde gelten auch heutzutage als zweitklassig. Das hängt natürlich mit den strengen Vorschriften für die Zucht von Rassehunden zusammen.

Für uns spielte das natürlich keine Rolle. Wir waren einfach nur glücklich, dass Senta II bei uns war.

Sie wurde sofort geimpft und gedieh prächtig, wenngleich ihre Nahrung überwiegend aus Essensresten bestand.

Unser Haus hatte nur eine Grundfläche von sechzig Quadratmetern: drei kleine Zimmer, eine etwas größere Wohnküche, WC und Speisekammer sowie einen Windfang. Meine Mutter hatte es noch vor dem Kriegsende im Frühjahr 1945 von ihren letzten Ersparnissen bauen wollen, weil Nachbarn, die ebenfalls auf ihren Wochenendgrundstücken Häuser bauten, ihre Hilfe anboten. Außerdem halfen Russen aus einem Gefangenenlager, das sich in der Nähe befand. Dieser Hausbau war eine mutige und beachtliche Leistung für eine Kriegswitwe, die nicht nur ihren Mann in Russland, sondern auch noch ihre Wohnung bei den verheerenden Angriffen im Juli 1943 verloren hatte und für zwei kleine Kinder und ihre recht betagten Eltern sorgen musste.

Trotzdem nahm sie Senta I und nach deren Tod Senta II ins Haus, weil sie sich von einem Hund Schutz versprach. Die Hündinnen lebten nicht im Haus, sondern im Zwinger mit einer Hundehütte. Der Zwinger war so groß wie unsere Terrasse oder anders ausgedrückt: Unsere Terrasse wurde zum Zwinger umfunktioniert.

Wenn ich im Garten lesen wollte, stellte ich den Liegestuhl zwischen Gemüsebeete und duftende Kräuter. Und den Sonntagskuchen aßen wir bei schönstem Sommerwetter nicht im Garten, sondern bei geöffnetem Fenster in der Küche.

Meine praktisch veranlagte Mutter konnte die Reste vom Mittagessen zeitsparend aus dem Küchenfenster in den Fressnapf schütten. Aber sie kochte für Senta auch Pansen oder Euter mit Bruchreis. Ich erinnere mich an den gewöhnungsbedürftigen Geruch, den das Hundefutter beim Kochen verströmte und der bis zum nächsten Tag in den Gardinen haftete. Wenngleich Hundebesitzer hart im Nehmen sind (davon später mehr!), war ich froh, wenn das Futter nicht auf dem Holzkohleofen köchelte, während wir aßen.

Schaffte meine berufstätige Mutter es nicht, das Futter zu kochen, mussten wir Kinder es übernehmen. Unsere Aufgabe war es auch, Sentas Fell zu bürsten und die Hütte zu säubern. So lernten wir, für unsere Hündin verantwortlich zu sein.

Wir hielten zu der Zeit auch Hühner, Kaninchen und das Schaf Lieschen. Unsere Tiere wurden von meiner Mutter in aller Herrgottsfrühe gefüttert. Erst danach frühstückten wir.

Das lehrten uns die Märchen, die unsere Mutter uns abends, wenn sie nicht zu müde war, vorlas.

Für mich war Senta eine Vertraute, der ich von all meinen Geheimnissen, Kümmernissen und Freuden erzählte und an die ich mich kuschelte, wenn ich mich mit meiner Mutter oder meinem Bruder gestritten hatte.

Als im Winter zwanzig Grad minus herrschten, holte meine Mutter Senta abends ins Haus. Doch unsere Hündin fühlte sich in der Wärme überhaupt nicht wohl. Immer wieder ging sie zur Küchentür. Als meine Mutter sie in den Windfang ließ, blieb sie vor der Haustür so lange sitzen, bis meine Mutter sie zum Zwinger brachte. Sibirische Kälte war also kein Problem für unsere abgehärtete Senta.

Zum Tierarzt gingen wir mit ihr nur, wenn eine Impfung nötig war, denn sie strotzte vor Gesundheit.

Sie war eine intelligente, gelehrige und absolut friedliche Schäferhündin. Nie kam es bei Spaziergängen mit ihr zu Zwischenfällen. Kindern gegenüber war sie freundlich, und wenn ich mit ihr mit der Hochbahn von der Station Trabrennbahn nach Meiendorf oder Ohlstedt-Wohldorf zum Wandern fuhr, benahm sie sich unauffällig, verhielt sich mitfahrenden Vierbeinern und natürlich auch Zweibeinern gegenüber stets vorbildlich.

Als Senta schon elf Jahre alt war, überraschte sie uns mit einem Geschenk.

Wie immer weckte mich meine Mutter an jenem Morgen, öffnete das Zimmerfenster, das sich auch auf der Seite des Zwingers befand, und fragte leise: »Hörst du es?«

»Was?« Ich rekelte mich schlaftrunken hin und her.

»Das Wimmern! Es kommt aus der Hundehütte.«

Ich kroch aus dem Bett und horchte. Es gab keinen Zweifel. Das Wimmern kam tatsächlich daher.

»Meinst du, das ist Senta? Aber weshalb kommt sie nicht raus?«, flüsterte ich, doch meine Mutter hörte mich schon nicht mehr, weil sie das Zimmer verlassen hatte. Ich schaute wieder aus dem Fenster und sah meine Mutter, die auf allen vieren in die Hundehütte kroch und mit einem kleinen Fellbündel in der Hand wieder herauskam.

Mein Bruder stand plötzlich neben mir. »Was ist denn hier los?«, fragte er und verlor dann für Sekunden die Sprache, als meine Mutter uns das Fellbündel aus der Nähe zeigte. »Das ist ja ein kleiner Hund!«, rief er freudig. »Sind in der Hütte noch mehr?«

»Nein, ich habe nur dieses Kleine gefunden. Senta hat alle Spuren der Geburt beseitigt, scheint sehr erschöpft zu sein.«

»Vielleicht hat sie die anderen gefressen«, entgegnete mein Bruder.

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Ich schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Doch! Weil Senta womöglich spürte, dass sie für mehr Welpen viel zu alt sei. Das Säugen strengt bestimmt an.«

»Es scheint wirklich nur ein Welpe gewesen zu sein«, mischte sich unsere Mutter ein, »sonst hätten wir sicherlich bemerkt, dass sie trächtig war.«

Wir freuten uns alle sehr über Sentas Baby. Es war ein Rüde, den wir auf den Namen Cadeaux (Geschenk) tauften.

Hinter unserem Grundstück gab es eine wundervolle Obstbaumwiese. Dort spielte ich oft mit Senta Ball, oder wir saßen unter einem Apfelbaum, wo ich die Bienen und Hummeln in den weiß-rosa Blüten beobachtete. Manchmal bekamen wir Besuch von Sentas Schäferhundfreundin und ihrem Herrchen. Oder Senta lag mit ihrem Sohn auf dem Hauptweg in unserem Garten, von dem links und rechts die Gemüsebeete von meiner Mutter angelegt waren.

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Es fiel uns sehr schwer, Cadeaux, als er acht Wochen alt war, von seiner Mama zu trennen. Ihr schien es jedoch weniger auszumachen, als ihm und uns. Vielleicht war sie froh, wieder allein zu sein, denn der kleine Racker hielt sie ganz schön auf Trab. Uns tröstete, dass Cadeaux es bei einer Familie in der Nachbarschaft wunderschön hatte und wir ihn öfter sehen konnten. Er wurde ein stattlicher Hund mit einem lieben Wesen und starb mit dreizehn Jahren.

Bis heute frage ich mich, wie es einem Rüden gelingen konnte, unsere Senta zu decken. Der Zwinger war mit einem zwei Meter hohen Maschendrahtzaun gesichert, sodass Senta für Rüden eigentlich unerreichbar gewesen war. Und auszubüxen war ihr nie in den Sinn gekommen, weder aus dem Zwinger noch bei Spaziergängen.

Arienne

Ich wuchs also im zerbombten Hamburg in der Kriegs- und Nachkriegszeit mit meinem Bruder und ohne Vater auf, der in Russland gefallen war.

Weil meine Mutter mir kein Studium ermöglichen konnte, wurde ich nicht Lehrerin, sondern Industriekauffrau. Ich hatte in dem Hamburger Stahlmöbelwerk Alfred Thomsen 1957 die Lehre zum Industriekaufmann erfolgreich mit dem Kaufmannsgehilfenbrief abgeschlossen und anschließend bis 1958 die Buchhaltung für das Zweigwerk in Winsen an der Luhe übernommen. Danach bewarb ich mich beim Atlantik-Film-Studio und Kopierwerk, weil ich mich beruflich weiterentwickeln wollte. Ich bekam eine positive Nachricht. Bei der persönlichen Vorstellung erfuhr ich, dass die Stelle nur noch frei sei, weil eine Buchhalterin, die eingestellt werden sollte, sich anderweitig entschieden hatte.

Dieser unbekannten Frau verdankte ich also, dass ich am 1. Oktober 1958 beim Atlantik-Film als Buchhalterin beginnen konnte und dass es dadurch zu unvorhersehbaren Veränderungen in meinem Leben kommen sollte.

Erst einmal folgten zweieinhalb wundervolle Berufsjahre, die plötzlich endeten, weil sich mein verheirateter Vorgesetzter, Vater zweier kleiner Kinder, in mich verliebte und ich mich in ihn. Unser Chef erfuhr davon und rief mich zu sich. Er sagte, dass er unser Verhältnis in seinem Betrieb nicht dulden könne und schlug mir vor, unverzüglich die Kündigung einzureichen.

Ich wundere mich noch heute über meinen Mut, was ich ihm daraufhin erwiderte: »Unsere Beziehung haben wir inzwischen beendet, weil ich mit meinem Bruder ohne Vater aufwuchs und das den beiden Kindern ersparen möchte.«

Doch das war noch nicht alles. Plötzlich sprudelte es aus mir heraus: »Ihr Verhalten mir gegenüber finde ich unbegreiflich! Ihnen ist doch Ähnliches passiert, erzählten mir Kollegen. Demnach sind Sie ohne Ihre erste Frau zum Skilaufen ins Allgäu gefahren und dort auf der Piste verunglückt, in ein Münchener Krankenhaus gekommen, wo sie sich in eine Krankenschwester verliebten. Mit ihr sind Sie jetzt verheiratet – und die Sekräterin in ihrem Vorzimmer ist Ihre erste Frau.«

Er schwieg, und wir erhoben uns synchron von den Stühlen.

Nur eine Kollegin aus unserer Abteilung, die von unserer Beziehung schon sehr früh wusste, stand uns verständnisvoll mit Rat und Tat zur Seite.

So tolerant reagierten weder meine Mutter noch mein Bruder. Unser Familienleben veränderte sich schlagartig. Sie verurteilten mich. Täglich gab es heftige verletzende Diskussionen.

Ich liebte schon zu der Zeit Lyrik und fand Trost bei Goethe. Ihm schienen Schicksalschläge nicht fremd zu sein. So schrieb er in einem Brief an die Gräfin Auguste Stolberg:

Alles geben die Götter, die unendlichen,

Ihren Lieblingen ganz,

Alle Freuden, die unendlichen,

Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

Nachdem ich über meine Kündigung mit meiner Mutter gesprochen hatte, meinte sie: »Am besten gehst du für einige Zeit ins Ausland. Vielleicht auch nach England, wie Julia, als Au-pair-Mädchen.«

Sie war meine Cousine. Die Idee fand ich gut. Aber ich wollte lieber in die Schweiz, weil ich seit dem Kinderbuch Heidi Sehnsucht nach den Bergen hatte.

Ich bewarb mich als Kindermädchen bei einer Familie Bucher, die in der Nordschweiz, in der Kleinstadt Flawil, in einem Einzelhaus auf dem Rosenhügel wohnte.

Ausschlaggebend dafür war meine Liebe zu Kindern und das Eingebundensein in eine Familie.

Die Buchers hatten drei Kinder: Urs (dreizehn Jahre) Yvonne (acht Jahre) und Jürg (drei Jahre). Ich sollte mit ihnen Schriftdeutsch sprechen, in der Küche helfen, plätten, stopfen, einkaufen und so weiter.

Zur Familie gehörte außerdem die English Springer Spaniel-Hündin Arienne. Durch sie würde sich hoffentlich mein Heimweh nach Senta in Grenzen halten. Außerdem klang der Rosenhügel wunderschön und verlockend. Ich sah vor meinem geistigen Auge ein Haus, umrahmt von einem Rosengarten, wie es Adelbert Stifter im Roman Der Nachsommer beschrieb.

Trotzdem hatte ich mich bei zwei weiteren Familien beworben.

Die erste Zusage kam aus Bern, doch ich favorisierte Flawil. Weil danach eine Absage aus Zürich kam, rief ich bei Buchers an. Frau Bucher war am Apparat und sehr erfreut, mich zu hören. Sie hätte gerade mit ihrem Mann über mich gesprochen. »Wenn Sie möchten, können Sie Anfang Mai bei uns beginnen«, sagte sie. »Wir suchen allerdings ein Mädchen für mindestens ein Jahr.«

Damit war ich einverstanden und bekam ein paar Tage später einen per Telefon schon angekündigten Brief. Ich musste mich noch ärztlich untersuchen lassen und ein Foto schicken, erfuhr die Höhe des Salärs und war danach fest eingestellt.

Am 1. Mai 1961 war es so weit. Meine Mutter, mein Bruder und Senta sowie zwei Freundinnen begleiteten mich abends zum Hauptbahnhof. Nach einer unruhigen Nacht auf einer Liege und der Passkontrolle in Basel am nächsten Morgen kam ich nach der Weiterfahrt über Zürich in Flawil an.

Es war Mittag und sehr warm, der Bahnhof fast menschenleer. Mir fiel sofort eine junge, große und schlanke Frau auf, die mit einem Gepäckwagen geradewegs auf mich zusteuerte und mich mit »Grüezi« begrüßte. »Sie sind bestimmt die Eelen. Ich habe mein Auto vor dem Bahnhof parkiert.«

Das waren die ersten Wörter auf Schwyzerdütsch, die mir bewusst machten, dass ich mich nun wirklich in der Schweiz befand.

Frau Bucher war mir auf Anhieb sympathisch, und das Schwyzerdütsch gefiel mir sehr. Ihr Auto war ein weißes amerikanisches Cabrio mit roten Ledersitzen. Auf dem Rücksitz lag Arienne.

Welch ein Empfang! Ich kam mir vor wie in einem Hollywoodfilm und setzte mich zur Hündin. Sie wedelte mit dem Schwanz, als ich sie streichelte.

Wenn es so atemberaubend schön beginnt, könnte es gern so weitergehen, dachte ich.

Was ich zu dem Zeitpunkt jedoch nicht wusste, war, dass Yvonne von Kindermädchen die Nase voll hatte. Meine Vorgängerin hatte Yvonne, als sie sich danebenbenahm, in den Keller gesperrt.

Wenn die Ellen nicht nett sei, würde sie ihr Stachelbeerzweige ins Bett legen, meinte sie daher. Yvonne besaß nämlich ein eigenes Stachelbeerbäumchen, weil es ihre Lieblingsfrüchte waren. »Ans Fußende natürlich«, hatte sie gebrummt, als die Eltern den Kindern erzählten, dass bald ein neues Kindermädchen, das Ellen hieß, ins Haus käme.

Urs wollte erst einmal abwarten. »Vielleicht ist die Ellen viel netter als das vorige Mädchen.« Und Jürg freute sich auf die Gutenachtgeschichte, die sie ihnen bestimmt vorlesen würde.

Doch nun hielt Frau Bucher vor einem großen, weiß getünchten Haus. Ein Rosenstock neben dem Eingang hatte schon viele rote Knospen, und davor spielten drei Kinder.

Die Begrüßung fiel unterschiedlich aus. Yvonne quälte nur ein kaum verständliches »Grüerzi« heraus. Die Jungen waren freundlich und lächelten mich beim Begrüßen an. Im Haus verteilte ich meine Mitbringsel. Urs freute sich über ein »Spiele-Buch«, Arienne bekam eine Tüte Hundekekse, Yvonne und Jürg je eine Plüschkatze. Als ich Yvonne die graue und Jürg die schwarze überreichte, gab es Streit. Yvonne gefiel die schwarze besser.

»Das ist meine!«, schrie Jürg, als seine Schwester danach griff.

In dem Moment dachte ich wirklich, später hoffentlich mal drei Jungen zu bekommen. Es wurden zwei tolle Mädchen und drei Enkelsöhne.

Den Katzenstreit wusste ich zu beenden, indem ich vorschlug, das Zankobjekt auszulosen. Jürg durfte zuerst raten, in welcher Hand sich die schwarze befände. Leider hatte er Pech, und Yvonne triumphierte. Danach schenkte sie mir ihr erstes Lächeln. Und von Tag zu Tag hatten wir vier immer mehr Spaß miteinander. Nicht nur, weil ich die mitgebrachten Tafeln Schoggi jeden Morgen stückchenweise verteilte, denn die Eltern hatten es nicht gern, wenn die drei naschten.

»Das ist nicht gut für eure Zähne«, sagte ihnen der Vater und erklärte ihnen warum.

Wegen Arienne musste ich unbedingt Schwyzerdütsch lernen, denn als ich zu ihr sagte: »Arienne, geh nach draußen, blieb sie in der Küche im Körbchen sitzen. Kein Wunder, denn ich hätte sagen müssen: »Arienne, gang vorussen!«

Gleich am ersten Abend machte ich, nachdem ich den Kindern die Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, um Punkt 19:30 Uhr mit Arienne den Abendspaziergang. Das genossen wir beide sehr. Unser bevorzugter Weg schlängelte sich durch eine liebliche Hügellandschaft und setzte sich fort in ein noch höher gelegenes Waldgebiet. Darauf verzichtete ich und trat mit Arienne den Rückweg an.

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Sehr schnell gewöhnte sie sich daran und saß pünktlich um 19:30 Uhr ausgehbereit neben dem Heizkörper in der Diele, an der ihre Leine hing.

Wie mit Frau Bucher abgemacht, sprach ich mit den Kindern Schriftdeutsch, las ihnen abends aus entsprechenden Büchern vor und übte nebenbei hochdeutsche Wörter oder gebräuchliche Redewendungen.

Doch eines Abends meinte Yvonne, dass sie es niemals schaffen könnte, so ein tolles Schriftdeutsch wie ich zu sprechen. Sie schlug mir vor, lieber schwyzerdütsche Geschichten vorzulesen. Dann könnte mich Arienne viel besser verstehen.