Khaled Hosseini
Tausend strahlende Sonnen
Roman
Aus dem Englischen
von Michael Windgassen
FISCHER E-Books
Khaled Hosseini schrieb die Romane ›Drachenläufer‹, ›Tausend strahlende Sonnen‹ und ›Traumsammler‹. Sie erschienen in 70 Ländern und wurden zu Welterfolgen.
Hosseini wurde 1965 in Kabul geboren. Nach Einmarsch der Sowjets in Afghanistan ging seine Familie ins Exil nach Amerika. Khaled Hosseini studierte Medizin und arbeitete als Internist. Heute ist er Sonderbotschafter der Vereinten Nationen und gründete die Khaled Hosseini Foundation, die Menschen in Afghanistan humanitäre Hilfe bietet. Er lebt in Kalifornien. Mehr über seine Stiftung erfahren Sie auf www.khaledhosseinifoundation.org und www.khaledhosseini.com.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Getty Images
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2007
unter dem Titel ›A Thousand Splendid Suns‹
bei Riverhead, New York
© Khaled Hosseini, 2007
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403076-0
Mariam war fünf, als sie zum ersten Mal das Wort »harami« hörte.
Es war an einem Donnerstag, zweifelsohne, denn Mariam erinnerte sich, dass sie aufgeregt und mit ihren Gedanken woanders gewesen war, wie immer an Donnerstagen, wenn Jalil in der kolba zu Besuch kam. Sie sehnte sich danach, ihn endlich im kniehohen Gras der Lichtung winkend näher kommen zu sehen, und hatte, um sich die Zeit zu vertreiben, das Teeservice aus dem Schrank geholt. Für ihre Mutter Nana war das Teeservice das einzige Andenken an die eigene Mutter, die zwei Jahre nach Nanas Geburt gestorben war. Nana hielt jedes Einzelteil aus blauem und weißem Porzellan in Ehren, die Kanne mit der elegant geschwungenen Tülle, den handgemalten Finken und Chrysanthemen, und das Zuckerschälchen mit dem Drachen, der böse Geister fernhalten sollte.
Ausgerechnet dieses Zuckerschälchen glitt Mariam aus der Hand, fiel auf die Holzdielen der kolba und zersprang in tausend Stücke.
Als Nana die Scherben sah, verfärbte sich ihr Gesicht dunkelrot, die Unterlippe bebte, und die Augen, das lidlahme ebenso wie das gesunde, trafen Mariam mit hartem, starrem Blick. Sie war so wütend, dass Mariam fürchtete, der Dschinn würde wieder Besitz von ihr ergreifen. Doch der Dschinn kam nicht, diesmal nicht. Stattdessen packte Nana Mariam bei den Händen, zog sie nah zu sich heran und stieß zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Du ungeschickter kleiner harami. Das ist wohl der Dank für das, was ich alles ertragen musste. Zerbrichst mir mein Erbe, du ungeschickter kleiner harami.«
Damals verstand Mariam nicht. Sie wusste weder, was harami bedeutete, noch war sie alt genug zu begreifen, wie ungerecht der Vorwurf war, denn schließlich hatten sich die Erzeuger schuldig gemacht und nicht der harami – der Bankert –, dessen einziges Vergehen darin bestand, auf die Welt gekommen zu sein. Der Tonfall ihrer Mutter ließ allerdings vermuten, dass ein harami etwas Hässliches, Widerwärtiges war, so etwas wie ein Insekt, wie die krabbelnden Kakerlaken, die Nana immer fluchend aus der kolba fegte.
Später konnte sich Mariam sehr wohl einen Begriff davon machen. Die Art, in der Nana das Wort aussprach – oder vielmehr ausspuckte –, ließ Mariam den Stachel spüren, der darin steckte. Sie verstand nun, was Nana meinte, dass nämlich ein harami etwas Unerwünschtes ist, dass sie, Mariam, als uneheliches Kind nie einen Anspruch auf das haben würde, was für andere ganz selbstverständlich war, Dinge wie Liebe, Familie, ein Zuhause und Anerkennung.
Jalil beschimpfte Mariam nie mit diesem Namen. Jalil nannte sie seine kleine Blume. Es gefiel ihm, sie auf seinen Schoß zu setzen und ihr Geschichten zu erzählen wie zuletzt von Herat, der Stadt, in der Mariam 1959 zur Welt gekommen war; sie sei, so hatte er gesagt, die Wiege der persischen Kultur, die Wohnstätte der Schriftsteller, Maler und Sufis.
»Man kann dort kein Bein ausstrecken, ohne dabei einem Dichter in den Hintern zu treten«, hatte er lachend gesagt.
Jalil erzählte ihr auch die Geschichte der Königin Gauhar Schad, die im 15. Jahrhundert die berühmten Minarette zum Zeichen ihrer Liebe zu Herat hatte errichten lassen. Er beschrieb ihr die grünen Weizenfelder von Herat, die Obsthaine, die Weinstöcke voll reifer Trauben und das Gewimmel in den überdachten Basaren.
»Da gibt es einen Pistazienbaum«, sagte er einmal, »und darunter, Mariam jo, liegt kein anderer als der große Dichter Jami begraben.« Er beugte sich über sie und flüsterte: »Jami lebte vor über fünfhundert Jahren. Wirklich wahr. Ich habe dich einmal zu dem Baum hingeführt. Da warst du noch klein. Du wirst dich nicht erinnern.«
Nein, Mariam erinnerte sich nicht. Und obwohl sie die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens ganz in der Nähe von Herat wohnte, bekam sie den berühmten Baum nicht zu Gesicht. Sie sah auch nie die berühmten Minarette von nahem, noch pflückte sie jemals eine Frucht von einem der Bäume in Herats Obsthainen oder wanderte durch die Weizenfelder. Wenn aber Jalil davon erzählte, hörte Mariam immer wie verzaubert zu. Sie bewunderte ihn dafür, dass er so viel wusste von der Welt, und es machte sie sehr stolz, einen solchen Vater zu haben.
»Nichts als Lügen«, sagte Nana, als Jalil gegangen war. »Reiche Männer lügen üppig. Er hat dich nie zu irgendeinem Baum hingeführt. Lass dich nicht kirre machen von ihm. Er hat uns betrogen, dein lieber Vater. Er hat uns vor die Tür gesetzt, aus seinem großen, vornehmen Haus geworfen, als wären wir nichts für ihn. Es war ihm ein Vergnügen, uns loszuwerden.«
Wenn Nana schimpfte, hörte Mariam immer brav zu. Sie wagte nicht zu sagen, dass sie es nicht mochte, wenn ihre Mutter über Jalil herzog. Im Beisein von Jalil kam sich Mariam nämlich nie wie ein harami vor. Wenn er donnerstags kam, immer lächelnd, mit Geschenken und Aufmerksamkeiten, hatte Mariam für eine oder zwei Stunden das Gefühl, an der Schönheit und den Schätzen des Lebens teilhaben zu dürfen. Dafür liebte sie Jalil.
Dass sie ihn mit anderen teilen musste, tat ihrer Liebe keinen Abbruch.
Jalil hatte drei Frauen und neun Kinder, neun eheliche Kinder. Für Mariam waren sie allesamt Fremde. Jalil zählte zu den wohlhabenden Männern Herats. Er betrieb ein Kino, das Mariam nie gesehen hatte, aber auf ihr Drängen hin hatte Jalil es ihr beschrieben, und so wusste sie, dass es eine Fassade aus blauen und sandfarbenen Terrakotta-Kacheln hatte, Logenplätze und eine mit Kattun verkleidete Decke. Doppelflügelige Schwingtüren öffneten sich in ein gefliestes Foyer, wo in Glasvitrinen Poster von Hindi-Filmen ausgestellt waren. Dienstags, so sagte Jalil einmal, bekämen Kinder am Eintrittskartenschalter Eiscreme spendiert.
Nana verzog das Gesicht, als er das sagte. Sie wartete, bis er die kolba verlassen hatte, feixte dann und sagte: »Kinder von Fremden kriegen Eis. Und was bekommst du, Mariam? Geschichten über Eiscreme.«
Außer dem Kino besaß Jalil auch Ländereien in Karokh und in Farah, drei Teppichhandlungen, einen Tuchladen und einen alten 1956er Buick Roadmaster. Er unterhielt beste Beziehungen, war sowohl mit dem Bürgermeister von Herat als auch mit dem Provinzgouverneur befreundet. Er hatte einen Koch, einen Chauffeur und drei Hausangestellte.
Nana war auch einmal eine seiner Angestellten gewesen. Bis schließlich ihr Bauch rund wurde.
Als das passierte, sagte Nana, sei bei alldem Gerede über Jalils Familie die Luft in Herat knapp geworden. Seine Schwäger schworen, Blut fließen zu lassen, während seine Frauen verlangten, dass er sie aus dem Haus warf. Sogar ihr eigener Vater, der in dem nahe gelegenen Dorf Gul Daman ein kleines Steinmetzhandwerk betrieb, verstieß sie, und weil er ebenfalls in Ungnade gefallen war, packte er seine Sachen, bestieg einen Bus, der Richtung Iran fuhr, und war seitdem spurlos verschwunden.
»Manchmal«, sagte Nana eines frühen Morgens, als sie die Hühner vor der kolba fütterte, »wünschte ich, mein Vater hätte den Mumm gehabt, eines seiner Messer zu wetzen und der Ehre Genüge zu tun. Es wäre womöglich besser für mich gewesen.« Sie warf eine weitere Handvoll Körner ins Gehege, hielt plötzlich inne und schaute Mariam an. »Besser auch für dich, vielleicht. Dir wäre der Kummer erspart geblieben, zu wissen, was du bist. Aber er war ein Feigling, mein Vater. Es fehlte ihm einfach an dil.«
Auch Jalil habe kein dil, sagte Nana, nicht den Mut, zu tun, was die Ehre verlangte, seiner Familie, seinen Frauen und Schwägern gegenüber aufzustehen und Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen war hinter verschlossenen Türen und in aller Schnelle ein Abkommen getroffen worden, das sein Gesicht wahren sollte. Am nächsten Tag hatte er sie aufgefordert, ihre Sachen aus der Dienstbotenwohnung zu holen, und weggeschickt.
»Weißt du, was er seinen Frauen zu seiner Entschuldigung gesagt hat? Dass ich mich ihm aufgedrängt hätte. Dass es meine Schuld gewesen wäre. Didi? Verstehst du? Verstehst du, was es bedeutet, in dieser Welt eine Frau zu sein?«
Nana setzte die Schale mit dem Hühnerfutter ab. Sie streckte die Hand aus und hob Mariams Kinn in die Höhe.
»Schau mich an, Mariam.«
Mariam gehorchte widerstrebend.
»Lass dir das eine Lehre sein, meine Tochter«, sagte Nana. »So wie eine Kompassnadel immer nach Norden zeigt, wird der anklagende Finger eines Mannes immer eine Frau finden. Immer. Denk daran, Mariam.«
»Für Jalil und seine Frauen war ich nichts weiter als eine Quecke. Gemeiner Beifuß. Das Gleiche gilt für dich. Schon als du noch gar nicht geboren warst.«
»Was ist gemeiner Beifuß?«, fragte Mariam.
»Ein Unkraut«, antwortete Nana. »Etwas, das man ausreißt und wegwirft.«
Innerlich runzelte Mariam die Stirn. Sie fühlte sich von Jalil nie wie Unkraut behandelt, hielt es aber für klüger, ihren Einspruch für sich zu behalten.
»Im Unterschied zu Unkraut musste ich allerdings umgepflanzt und versorgt werden. Deinetwegen, verstehst du? Das war die Abmachung zwischen Jalil und seiner Familie.«
Nana sagte, sie habe sich geweigert, in Herat wohnen zu bleiben.
»Wozu auch? Um ihn mit seinen kinchini-Frauen den ganzen Tag durch die Stadt kutschieren zu sehen?«
Genauso wenig hatte sie im leerstehenden Haus ihres Vaters wohnen wollen, in dem kleinen Kaff Gul Daman, das auf einem steilen Hügel zwei Kilometer nördlich vor Herat lag. Sie sagte, sie habe irgendwo abseits leben wollen, an einem entlegenen Ort, wo ihr die Nachbarn nicht auf den Bauch starren, mit dem Finger auf sie zeigen, sich über sie lustig machen oder, schlimmer noch, sie mit geheuchelter Freundlichkeit überschütten würden.
»Und glaube mir«, sagte Nana, »es war eine große Erleichterung für deinen Vater, mich nicht mehr in seinem Blickfeld zu haben. Das kam ihm sehr gelegen.«
Es war Jalils ältester Sohn Muhsin mit seiner ersten Frau Khadija gewesen, der den Einfall mit der Lichtung hatte. Sie lag am Rand von Gul Daman und war nur über eine holprige Schotterpiste zu erreichen, die von der Hauptstraße zwischen Herat und Gul Daman abzweigte. Zu beiden Seiten der Piste erstreckten sich Felder kniehohen Grases mit Flecken weiß und gelb blühender Blumen. Sie schlängelte sich bergan und führte auf ein Plateau voller Buschwerk, hoher Pappeln und Weiden. Von der Anhöhe aus konnte man zur Linken die verrosteten Flügelspitzen der Windmühle von Gul Daman sehen und zur anderen Seite hin ganz Herat. Die Piste endete im rechten Winkel vor einem breiten Fluss, der sich von den Safid-koh-Bergen ergoss und voller Forellen war. Knapp zweihundert Meter flussaufwärts stand ein kreisförmiger Hain aus Trauerweiden. In deren Mitte, im Schatten der Bäume, befand sich die Lichtung.
Jalil hatte sich vor Ort umgesehen. Als er zurückgekehrt sei, sagte Nana, habe er wie ein Wärter geklungen, der sich voller Stolz darüber auslasse, wie sauber und frisch das Gefängnis sei.
»Und dann hat er uns dieses Rattenloch gebaut.«
Im Alter von fünfzehn Jahren hätte Nana fast geheiratet. Der Bewerber war ein junger Mann aus Shindand gewesen, der mit Papageien handelte. Mariam erfuhr durch Nana davon, und obwohl ihre Mutter diese Geschichte als Episode abtat, erkannte man an ihrem wehmütigen Blick, dass sie sich auf die Ehe gefreut hatte. Vielleicht war sie, als es auf die Hochzeit zuging, zum ersten und bislang einzigen Mal in ihrem Leben glücklich gewesen.
Als Nana die Geschichte erzählte, saß Mariam auf ihrem Schoß und malte sich aus, wie ihre Mutter in einem Brautkleid ausgesehen hätte, auf dem Rücken eines Pferdes, mit scheuem Lächeln hinter einem grünen Schleier, die Handflächen mit Henna bemalt, das Haar mit Silberstaub gescheitelt und die Zöpfe zusammengehalten mit einem Haarfestiger aus Baumharz. Sie sah Musikanten auf der shahnai-Flöte blasen und dohol-Trommeln schlagen und Straßenkinder johlend um die Wette laufen.
Dann, eine Woche vor der Hochzeit, war ein Dschinn in Nanas Körper gefahren. Mariam brauchte keine weitere Erklärung, sie hatte oft genug mit angesehen, wie Nana plötzlich zusammenbrach und verkrampfte, wie sich die Augen nach oben wegdrehten, Arme und Beine zappelten, als würde sie von innen gewürgt, wie ihr Schaum vor den Mund trat, weißer Schaum, der manchmal mit Blut vermischt war. Und danach die Mattigkeit, die beängstigende Verwirrung, das unzusammenhängende Gestammel.
Als man in Shindand davon erfuhr, sagte die Familie des Papageienhändlers die Hochzeit ab.
»Es hat sie gegruselt«, pflegte Nana zu sagen.
Das Hochzeitskleid wurde weggepackt. Weitere Bewerber gab es nicht.
Jalil und seine Söhne Farhad und Muhsin bauten auf der Lichtung eine kleine kolba, in der Mariam die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens verbrachte. Die Hütte war mit luftgetrockneten Ziegeln aufgemauert und mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh verputzt worden. Im Inneren befanden sich zwei Schlafstellen, ein Holztisch, zwei Stühle mit gerader Lehne und an die Wand genagelte Regale, in denen Nana Tongeschirr und ihr geliebtes Teeservice aus Porzellan aufbewahrte. Jalil hatte ein gusseisernes Öfchen für den Winter besorgt und einen Vorrat an Holzscheiten hinter der kolba aufgeschichtet. Er brachte auch ein paar Schafe und baute ihnen einen Futtertrog. Vor der Tür stand ein tandoor zum Brotbacken; dahinter befand sich der eingezäunte Laufstall für die Hühner. Am Rand des Weidenhains, rund hundert Meter von der Hütte entfernt, hob er mit Farhad und Muhsin ein tiefes Loch aus und baute ein Plumpsklodarüber.
Zum Bau der kolba hätte Jalil, wie Nana sagte, auch Arbeiter anheuern können, was er aber nicht tat.
»Das ist seine Vorstellung von Buße.«
Laut Nana hatte sie am Tag der Geburt ihrer Tochter keinerlei Hilfe gehabt. Es sei an einem feuchten, wolkenverhangenen Tag im Frühjahr 1959 gewesen, sagte sie, im sechsundzwanzigsten Jahr der vierzig Jahre währenden und fast durchweg ereignislosen Regentschaft von König Sahir Schah. Sie sagte, Jalil habe sich nicht um einen Arzt gekümmert, nicht einmal um eine Hebamme, obwohl er wusste, dass der Dschinn in sie einzufahren und ein Anfall die Geburt zu gefährden drohte. Sie lag mutterseelenallein und mit schweißnassem Körper auf dem Boden der kolba, ein Messer griffbereit.
»Wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren, habe ich in ein Kissen gebissen und mich heiser geschrien. Und es kam niemand, der mir den Schweiß vom Gesicht gewischt oder zu trinken gegeben hätte. Und du, Mariam jo, hattest keine Eile. Du hast mich fast zwei Tage lang auf dem kalten, harten Boden liegen lassen. Ich konnte weder essen noch schlafen; ich konnte nur pressen und beten, dass du bald kommen würdest.«
»Tut mir leid, Nana.«
»Ich habe eigenhändig die Nabelschnur durchtrennt. Dafür hatte ich das Messer.«
»Tut mir leid.«
Nana trug immer ein müdes, gequältes Lächeln im Gesicht; ob es von stillen Vorwürfen zeugte oder von der zögerlichen Bereitschaft zu verzeihen, wusste Mariam nie zu unterscheiden. Es kam der jungen Mariam nicht in den Sinn, es als unfair zu erachten, dass sie sich für die Umstände ihrer Geburt entschuldigen musste.
Als ihr dieser Gedanke dann doch schließlich in den Sinn kam – um die Zeit, als sie zehn Jahre alt wurde –, mochte sie an die Geschichte ihrer schweren Geburt nicht mehr glauben. Sie glaubte vielmehr der Version Jalils, der sagte, dass er zwar nicht zugegen gewesen sei, aber für Nanas Betreuung in einem Krankenhaus in Herat gesorgt habe, wo ihr in einem hellen Zimmer ein frisch bezogenes Bett zur Verfügung gestellt worden sei. Als Mariam ihm von dem Messer erzählte, schüttelte Jalil nur traurig den Kopf.
Mariam fing auch daran zu zweifeln an, dass sie die Mutter zwei volle Tage hatte leiden lassen.
»Mir wurde gesagt, dass es keine Stunde gedauert hat«, erklärte Jalil. »Du bist ein gutes Mädchen, Mariam jo. Schon bei der Geburt warst du ein gutes Mädchen.«
»Er war nicht einmal zur Stelle!«, spuckte Nana aus. »Er war im Takht-e-Safar, auf einem Ausritt mit seinen teuren Freunden.«
Als ihm von der Geburt seiner Tochter berichtet worden sei, sagte Nana, habe Jalil nur mit den Schultern gezuckt, den Hals seines Pferdes getätschelt und noch weitere zwei Tage im Takht-e-Safar zugebracht.
»Tatsache ist, dass du schon einen Monat alt warst, als er dich das erste Mal auf den Arm nahm, und das auch nur, um einen einzigen Blick auf dich zu werfen und sich über dein längliches Gesicht zu mokieren. Dann gab er dich mir zurück.«
Auch an diesem Teil der Geschichte begann Mariam zu zweifeln. Zugegeben, sagte Jalil, er sei im Park von Takht-e-Safar gewesen, habe aber nicht mit den Schultern gezuckt, als ihm Mariams Geburt mitgeteilt worden sei. Nein, er habe sich sofort in den Sattel geschwungen und sei nach Herat zurückgeritten. Er habe sie in seinen Armen geschaukelt, mit dem Daumen ihre flockigen Augenbrauen nachgezeichnet und ein Wiegenlied gesummt. Mariam konnte sich nicht vorstellen, dass Jalil eine abfällige Bemerkung über ihr Gesicht gemacht hatte, obwohl es in der Tat recht lang geraten war.
Nana behauptete, dass sie den Namen Mariam gewählt habe, weil das der Name ihrer Mutter gewesen sei. Jalil hingegen sagte, er sei auf den Namen gekommen, denn Mariam werde auch die Nachthyazinthe genannt, und das sei eine wunderschöne Blume.
»Deine Lieblingsblume?«, fragte Mariam.
»Nun, eine meiner Lieblingsblumen«, antwortete er und lächelte.
Eine der am weitesten zurückreichenden Erinnerungen von Mariam war das Geräusch eisenbeschlagener Karrenräder auf felsigem Grund. Einmal im Monat kam dieser Karren, beladen mit Reis, Mehl, Tee, Zucker, Speiseöl, Seife und Zahnpasta. Er wurde geschoben von zwei Halbbrüdern Mariams, meist von Muhsin und Ramin, manchmal auch von Ramin und Farhad. Auf der steilen Strecke bergan wechselten sich die Jungen beim Schieben ab, bis sie den Fluss erreichten, wo der Karren geleert und seine Ladung per Hand übers Wasser getragen wurde. Dann brachten die Brüder auch den Karren auf die andere Uferseite, beluden ihn erneut und schoben ihn die restlichen zweihundert Meter zur kolba, nun durch dichtes, hohes Gras und vorbei an dornigen Büschen, schreckten dabei Frösche auf und wischten sich Stechmücken von den verschwitzten Gesichtern.
»Er hat doch Dienstboten«, sagte Mariam. »Warum schickt er die nicht?«
»Das ist seine Art von Buße«, antwortete Nana.
Die Geräusche des Karrens lockten Mariam und Nana ins Freie. Unvergessen für Mariam blieb, wie Nana an solchen Tagen der monatlichen Zuteilung aussah: eine großgewachsene, hagere Frau, barfüßig wartend vor der Türschwelle, das lidlahme Auge spöttisch bis zu einem Schlitz verengt, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt und ihr kurzgeschorenes krauses Haar unverhüllt im Sonnenlicht. Das übergroße Hemd war bis zum Hals zugeknöpft. In den Taschen steckten walnussgroße Steine.
Die Jungen hockten wartend am Ufer, während Mariam und Nana den Proviant in die kolba trugen. Sie wagten es nicht, näher als bis auf dreißig Schritt heranzukommen, obwohl sie wussten, dass Nana weder gut zielen noch weit werfen konnte. Wenn sie die Sachen schleppte, brüllte sie die Jungen an und bedachte sie mit Ausdrücken, die Mariam nicht verstand. Sie verfluchte deren Mütter und schnitt hasserfüllte Grimassen. Die Jungen antworteten auf ihre Beleidigungen nie.
Mariam hatte Mitleid mit ihren Halbbrüdern. Wie müde und erschöpft sie nach diesem langen, beschwerlichen Weg doch sein mussten, dachte sie und wünschte, sie dürfte ihnen zumindest einen Schluck Wasser anbieten. Aber sie sagte nie etwas, und wenn sie ihr zuwinkten, verzichtete sie darauf, zurückzuwinken. Um ihrer Mutter zu gefallen, brüllte sie Muhsin sogar einmal zu, dass sein Mund wie der Arsch einer Echse aussehe – und war danach voller Schuldgefühle, Scham und Angst, sie könnten Jalil davon berichten. Nana aber lachte so ausgelassen, dass ihre faulenden Schneidezähne sichtbar wurden und Mariam befürchte, sie könnte wieder einen ihrer Anfälle bekommen. Als sie sich beruhigt hatte, richtete sie ihren Blick auf Mariam und sagte: »Du bist eine gute Tochter.«
Wenn der Karren geleert war, zogen die Jungen wieder ab. Mariam schaute ihnen nach, bis sie im hohen Gras und den blühenden Kräutern verschwunden waren.
»Kommst du?«
»Ja, Nana.«
»Sie lachen über dich. Das tun sie. Ich hör’s.«
»Ich komme.«
»Glaubst du mir etwa nicht?«
»Ich bin da.«
»Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Mariam jo.«
Morgens weckte sie das ferne Blöken von Schafen und das helle Pfeifen einer Flöte, wenn die Schäfer von Gul Daman ihre Herde auf den Berghang führten. Mariam und Nana melkten ihre Ziegen, fütterten die Hühner und sammelten Eier ein. Gemeinsam backten sie Brot. Nana zeigte ihr, wie der Teig zu kneten, der tandoor zu befeuern und die Teigfladen auf die Innenseite der tönernen Ofenwand zu kleben waren. Nana brachte ihr auch bei, zu nähen, Reis zu kochen und all die verschiedenen Beilagen zuzubereiten: shalqam- Eintopf mit Rüben, Spinat-sabzi oder Blumenkohl mit Ingwer.
Nana machte kein Hehl daraus, dass sie nicht besucht werden wollte. Im Grunde war ihr niemand willkommen, ausgenommen einige wenige, so etwa das Oberhaupt von Gul Daman, der Dorf-arbab Habib Khan, ein bärtiger Mann mit kleinem Kopf und großem Bauch, der einmal im Monat kam, begleitet von einer Dienerin, die ein Hühnchen mitbrachte, manchmal einen Topf kichiri-Reis oder ein Körbchen voll gefärbter Eier für Mariam.
Dann war da eine kugelrunde Frau, die von Nana Bibi jo genannt wurde; ihr verstorbener Mann, ein Steinmetz, war ein Freund von Nanas Vater gewesen. Bibi jo kam immer in Begleitung einer ihrer sechs Schwiegertöchter und eines oder zweier Enkelkinder. Sie humpelte und keuchte über die Lichtung und nahm dann mit großem Getue und schmerzhaftem Seufzen auf dem von Nana zurechtgerückten Stuhl Platz. Auch Bibi jo brachte Mariam immer etwas mit, eine Schachtel dishlemeh-Bonbons oder einen Korb mit Quitten. Nana bekam zunächst Klagen über Bibis angegriffene Gesundheit zu hören, dann den neuesten Klatsch aus Herat und Gul Daman, in aller Ausführlichkeit genüsslich vorgetragen, während die Schwiegertochter ehrerbietig hinter ihr saß und schwieg.
Am meisten freute sich Mariam, abgesehen von Jalil, auf Mullah Faizullah, den akhund des Dorfes, den Koranlehrer. Er kam ein- oder zweimal in der Woche, um sie in den fünf täglichen namaz-Gebeten zu unterweisen und ihr den Koran näherzubringen; er hatte auch schon Nana unterrichtet, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Mullah Faizullah hatte Mariam zu lesen beigebracht und ihr geduldig über die Schulter geschaut, wenn ihre Lippen die Silben tonlos formulierten und der Zeigefinger unter jedem Wort verharrte, so fest aufs Papier gedrückt, dass das Nagelbett weiß wurde. Es schien, als versuchte sie, die Bedeutung aus den Zeichen herauszupressen. Mullah Faizullah war es gewesen, der ihr die Hand gehalten und den Stift geführt hatte, bei der Aufwärtsbewegung eines jeden alef, der Kurve eines jeden beh und den drei Punkten eines jeden seh.
Er war ein hagerer, vornübergebeugter alter Mann mit zahnlosem Lächeln und einem weißen Bart, der ihm bis zum Nabel reichte. Für gewöhnlich kam er allein, manchmal aber auch in Begleitung seines Sohnes Hamza, der ein paar Jahre älter war als Mariam und rotblondes Haar hatte. Wenn Mullah Faizullah die kolba betrat, küsste Mariam ihm die Hand, die sich unter ihren Lippen anfühlte wie ein mit dünnem Papier überzogenes Bündel Zweige. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor sie am Tisch Platz nahmen und mit der Lektion begannen. Danach setzten sie sich vor die Hütte, knabberten Pinienkerne, tranken grünen Tee und beobachteten die von Baum zu Baum schwirrenden Bülbül. Manchmal spazierten sie über das bronzefarbene Laub, vorbei an den Erlenbüschen und den Fluss entlang auf die Berge zu. Unterwegs befingerte er die Perlen seines tasbeh-Rosenkranzes und erzählte Mariam mit zitternder Stimme aus seiner Jugend, von der zweiköpfigen Schlange, die er im iranischen Isfahan auf der Brücke mit ihren dreiunddreißig Bögen entdeckt hatte, oder von der Wassermelone, die er vor der blauen Moschee in Mazar aufgeschnitten und die Samenkörner darin so vorgefunden hatte, dass sie auf der einen Seite das Wort »Allah« bildeten und auf der anderen das Wort
»Akbar«.
Mullah Faizullah gab Mariam gegenüber zu, dass er den Sinn der arabischen Worte im Koran nicht verstehe, wohl aber ihren Klang zu schätzen wisse. Er sagte, sie trösteten ihn und erleichterten sein Herz.
»Auch dich werden sie trösten, Mariam jo«, sagte er. »Du kannst sie aufrufen, wenn du Kummer hast. Und du wirst nicht enttäuscht sein, denn Gottes Worte täuschen nie, mein Mädchen.«
Mullah Faizullah konnte nicht nur gut erzählen, sondern auch zuhören. Wenn Mariam redete, war er immer ganz Ohr. Er wiegte dabei langsam den Kopf, lächelte und zeigte sich so dankbar, als würde ihm ein großes Privileg gewährt. Ihm konnte Mariam bedenkenlos anvertrauen, was sie Nana nicht zu sagen gewagt hätte.
Eines Tages, als sie wieder einmal spazieren gingen, sagte Mariam, dass sie sich wünschte, die Schule besuchen zu dürfen.
»Ich meine eine wirkliche Schule, akhund sahib. In einem Klassenzimmer. Wie auch die anderen Kinder meines Vaters.«
Mullah Faizullah blieb stehen.
Zwei Wochen zuvor hatte Bibi jo berichtet, Jalils Töchter Saideh und Naheed seien von der Mehri-Schule für Mädchen in Herat aufgenommen worden. Seither spukten Bilder von Schulbänken und Lehrern durch Mariams Kopf, Bilder von Heften mit linierten Seiten, Spalten voller Zahlen und Tinte, die dunkle Zeichen auf dem Papier hinterließ. Sie malte sich aus, mit anderen Mädchen ihres Alters in einem Klassenzimmer zu sitzen, und sehnte sich danach, ein Lineal aufs Heft legen und wichtig aussehende Zeilen unterstreichen zu können.
»Ist dir das ein ernster Wunsch?«, fragte Mullah Faizullah und betrachtete sie mit seinen sanften wässrigen Augen. Er hatte die Hände hinter dem krummen Rücken verschränkt, und der Schatten seines Turbans fiel auf einen Flecken leuchtender Butterblumen.
»Ja.«
»Und jetzt willst du, dass ich deine Mutter um Erlaubnis bitte, nicht wahr?«
Mariam lächelte. Außer Jalil gab es, wie sie dachte, keinen Menschen auf der Welt, der sie so gut verstand wie ihr alter Lehrer.
»Was bliebe mir also anderes übrig? Gott in seiner Weisheit hat jedem von uns Schwächen mit auf den Weg gegeben, und die größte meiner vielen Schwächen ist, dass ich dir, Mariam jo, nichts ausschlagen kann«, erwiderte er und tippte ihr mit einem gichtigen Finger auf die Wange.
Doch als er sich später an Nana wandte, ließ diese das Messer fallen, mit dem sie gerade Zwiebeln schnitt, und fragte: »Wozu?«
»Lass das Mädchen lernen, wenn es das möchte. Gib ihr die Chance auf eine Ausbildung, meine Teure.«
»Lernen? Was denn, Mullah sahib?«, entgegnete Nana in scharfem Tonfall. »Was gäbe es da zu lernen?« Sie warf ihrer Tochter einen grimmigen Blick zu.
Mariam schaute zu Boden.
»Was für einen Sinn hätte es, ein Mädchen wie dich zu unterrichten. Genauso gut könnte man einen Spucknapf polieren. Außerdem kann man in diesen Lehranstalten nichts lernen, was von Wert wäre. Es gibt nur eines, was Frauen wie wir in diesem Leben können müssen, und das bekommt man nicht in der Schule beigebracht. Sieh mich an.«
»Du solltest so nicht mit ihr reden, mein Kind«, sagte Mullah Faizullah.
»Sieh mich an!«
Mariam gehorchte.
»Nur eines muss sie können. Und das ist: tahamul. Aushalten.«
»Aushalten? Was denn, Nana?«
»Ach, machen Sie sich mal darüber keine Sorgen«, antwortete Nana. »Da fände sich einiges, und das nicht zu knapp.«
Und dann beschwerte sie sich darüber, von Jalils Frauen als hässliche, armselige Steinmetztochter beschimpft worden zu sein, oder wie man sie gezwungen habe, bei Frost Wäsche zu waschen, bis ihr das Gesicht abgefroren sei und die Fingerspitzen gebrannt hätten.
»Das ist unser Los, Mariam. Das Los von Frauen wie uns. Wir müssen aushalten. Mehr ist nicht drin. Verstanden? Außerdem würden sie dich in der Schule doch nur auslachen. Glaub mir. Sie würden dich einen harami nennen und die hässlichsten Dinge über dich sagen. Das lasse ich nicht zu.«
Mariam nickte.
»Von Schule will ich nichts mehr hören. Du bist alles, was ich habe. Dich will ich nicht an die anderen verlieren. Sieh mich an. Kein Wort mehr über Schule.«
»Sei vernünftig. Ich bitte dich. Wenn ein Mädchen den Wunsch hat …«
»Und Sie, akhund sahib, bei allem Respekt, Sie sollten sich hüten, ihr solche Flausen einzureden. Wenn Ihnen wirklich an ihr gelegen ist, sollten Sie ihr klarmachen, dass sie hierhergehört, zu ihrer Mutter. Da draußen ist nichts für sie zu holen. Nichts außer Ablehnung und Schmerz. Ich weiß, wovon ich spreche, akhund sahib. Ich weiß es.«
Mariam freute sich über jeden Besuch in der kolba, über den Dorfarbab und seine Geschenke, Bibi jo mit ihren schmerzenden Hüftgelenken und endlosen Klatschgeschichten und natürlich über Mullah Faizullah. Doch es gab niemanden, wirklich niemanden, den Mariam sehnlicher zu sehen wünschte als Jalil.
Schon dienstags abends setzte die Unruhe ein. Mariam konnte kaum einschlafen aus Sorge, dass Jalils Besuch am Donnerstag womöglich aus irgendwelchen geschäftlichen Gründen ausfallen könnte und sie eine weitere Woche würde warten müssen, bis sie ihn endlich wiedersähe. Mittwochs konnte sie keinen Moment lang stillsitzen; sie marschierte um die kolba herum, warf wahllos Hühnerfutter ins Gehege, streunte umher, zupfte Blütenblätter und schlug nach den Mücken, die ihr in die Arme zu stechen versuchten. Donnerstags endlich hockte sie schon morgens vor der Tür, die Augen unverwandt auf die Furt gerichtet, und wartete. Wenn sich Jalil verspätete, bekam sie es mit der Angst zu tun. Dann wurden ihr die Knie weich, und sie musste sich flach auf den Boden legen.
Schließlich würde Nana rufen: »Da ist er ja, dein Vater. In all seiner Herrlichkeit.«
Wenn sie ihn, lachend und überschwänglich winkend, über die Steine im Fluss hüpfen sah, sprang Mariam vom Boden auf. Sie wusste, dass Nana ein Auge auf sie hatte und jede ihrer Regungen ganz genau beobachtete, und es kostete sie immer viel Überwindung, in der Tür stehen zu bleiben, zu warten, anstatt auf ihn zuzulaufen. Sie hielt sich zurück und blickte ihm geduldig entgegen, wenn er, die Anzugjacke über die Schulter geworfen, durch das hohe Gras schritt und seine rote Krawatte im Wind flatterte.
Wenn Jalil die Lichtung erreichte, warf er seine Jacke auf den tandoor und breitete die Arme aus. Mariam ging auf ihn zu, zuerst langsam, dann im Laufschritt. Er fing sie unter den Achseln auf und warf sie hoch in die Luft. Mariam quietschte dann vor Vergnügen.
Gestützt von seinen Armen, blickte sie ihm von oben ins emporgewandte Gesicht mit seinem breiten verschmitzten Lächeln, dem spitzen Haaransatz und dem Grübchen im Kinn. Sie mochte seinen sorgfältig gestutzten Schnauzbart, und es gefiel ihr, dass er bei jedem Wetter einen Anzug trug – dunkelbraun, seine Lieblingsfarbe, mit einem weißen dreieckig gefalteten Taschentuch in der Brusttasche –, auch Manschettenknöpfe und eine Krawatte, meist rot, die immer ein bisschen gelockert war. Mariam sah sich dann auch selbst, gespiegelt in seinen braunen Augen: das sich bauschende Haar, ein vor Glück strahlendes Gesicht und den Himmel im Rücken.
Nana sagte, dass sie ihm eines Tages, wenn er sie verfehlte, aus den Händen gleiten, zu Boden stürzen und sich einen Knochen brechen würde. Doch dass er sie fallen lassen könnte, mochte Mariam nicht glauben. Vielmehr war sie überzeugt davon, dass sie in den sauberen, gepflegten Händen ihres Vaters immer sicher landen würde.
Sie saßen im Schatten vor der kolba. Nana servierte Tee. Sie und Jalil tauschten zur Begrüßung allenfalls ein befangenes Lächeln aus und nickten mit dem Kopf. Darauf, dass sie seine Kinder mit Steinen bewarf und verfluchte, kam er nie zu sprechen.
So heftig sie auch in seiner Abwesenheit gegen Jalil wütete, so still und höflich verhielt sie sich, wenn er zu Besuch kam. Ihr Haar war dann immer gewaschen, die Zähne geputzt. Sie trug ihre beste hijab und saß ihm auf einem Stuhl gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet. Wenn sie lachte, versteckte sie den faulen Zahn hinter einer Faust.
Nana erkundigte sich nach seinen Geschäften. Auch nach seinen Frauen. Sie erwähnte, von Bibi jo gehört zu haben, dass Nargis, seine jüngste Frau, ihr drittes Kind erwarte, worauf Jalil, freundlich lächelnd, mit dem Kopf nickte.
»Nun, du bist sicher froh darüber«, sagte Nana. »Wie viele wären’s dann insgesamt? Zehn, nicht wahr, maschallah? Zehn?«
Ja, sagte Jalil, zehn.
»Wenn du Mariam mitrechnetest, wären es natürlich elf.«
Später, als Jalil gegangen war, gerieten Mariam und Nana darüber in Streit. Mariam sagte, sie habe ihn ausgetrickst.
Nach dem Tee mit Nana gingen Mariam und Jalil immer an den Fluss, um zu fischen. Er zeigte ihr, wie die Leine ausgeworfen und ein Fang an Land gezogen werden musste, brachte ihr bei, wie eine Forelle auszunehmen, zu säubern war und wie sich mit einem Griff das Fleisch von den Gräten lösen ließ. Während sie darauf warteten, dass ein Fisch anbeißen würde, malte er Bilder für sie; er konnte mit einem Strich und ohne den Bleistift abzusetzen einen Elefanten zeichnen. Er brachte ihr auch Kinderreime bei. Zusammen sangen sie:
Eine Vogeltränke, klitzeklein,
war gehöhlt in einen Stein.
Vogel saß am Rand und trank,
rutschte aus und – plumps – versank.
Jalil hatte immer Ausschnitte aus der Ittifaq-i Islam, der Tageszeitung von Herat, bei sich und las daraus vor. So erfuhr Mariam, dass es jenseits der Lichtung, Gul Daman und Herat eine weite Welt gab, Regierungsoberhäupter mit unaussprechlichen Namen, Eisenbahnen und Museen, Fußball und Raketen, die die Erde umkreisten und auf dem Mond landeten, und an jedem Donnerstag brachte Jalil ein Stück dieser Welt mit in die kolba.
Von ihm erfuhr sie auch im Sommer 1973 – sie war damals vierzehn –, dass König Sahir Schah, der von Kabul aus über vierzig Jahre lang geherrscht hatte, durch einen unblutigen Staatsstreich gestürzt worden war.
»Dahinter steckte sein Cousin Daoud Khan. Er fädelte die Sache ein, als der König gerade in Italien war, wo er sich wegen einer Krankheit medizinisch behandeln ließ. Du erinnerst dich doch an Daoud Khan, oder? Ich habe dir von ihm erzählt. Er war Premierminister in Kabul, vor deiner Geburt. Wie dem auch sei, Afghanistan ist keine Monarchie mehr, Mariam. Wir sind jetzt eine Republik, und Daoud Khan ist Präsident. Gerüchten zufolge haben ihm die Sozialisten in Kabul zur Macht verholfen. Nicht, dass er selbst Sozialist wäre, nein, aber er hat sich von ihnen unterstützen lassen. So heißt es jedenfalls.«
Mariam wollte wissen, was ein Sozialist sei, und Jalil versuchte es ihr zu erklären. Mariam aber war mit ihren Gedanken woanders.
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja.«
Dann sah er sie auf seine ausgebeulte Jackentasche starren. »Ah. Natürlich. Verstehe. Also dann …«
Er fischte eine kleine Schachtel aus der Tasche und gab sie ihr. So war er, gelegentlich brachte er ihr Geschenke mit. Mal war es ein Armband aus Karmelian, mal ein Halsreif mit Lapislazuliperlen. Als Mariam an diesem Tag die Schachtel öffnete, fand sie darin eine Kette mit herzförmigem Anhänger, an dem winzig kleine Münzen hingen, in die Mond und Sterne eingraviert waren.
»Probier sie mal an, Mariam jo.«
Mariam legte die Kette um den Hals. »Wie steht sie mir?«
Jalil strahlte. »Ich finde, du siehst aus wie eine Königin.«
»Nomadenkram«, sagte Nana später. »Ich habe mal gesehen, wie sie so was herstellen. Sie schmelzen die Münzen ein, die ihnen vor die Füße geworfen werden, und machen Schmuck daraus. Soll er dir doch Gold mitbringen, dein teurer Vater. Das wär mal was.«
Wenn Jalil gehen musste, stand Mariam immer in der Tür und schaute ihm nach, bedrückt von dem Gedanken an die Woche, die wie ein riesiger, unverrückbarer Gegenstand zwischen ihr und seinem nächsten Besuch stand. Wenn er sich auf der Lichtung entfernte, hielt sie so lange wie möglich die Luft an und betete im Stillen, dass Gott ihr mit jeder Sekunde, die sie ohne Atem auskäme, einen weiteren Tag mit Jalil gewähren möge.
Nachts lag sie auf ihrer Pritsche und fragte sich, wie es in seinem Haus in Herat aussehen mochte. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, wenn sie mit ihm zusammenlebte und ihn tagtäglich sehen könnte. Sie stellte sich vor, ihm, wenn er sich rasierte, ein Handtuch zu reichen. Sie würde Tee für ihn aufsetzen, abgerissene Knöpfe wieder annähen. Sie würden zusammen durch Herat spazieren und die Gewölbe des Basars aufsuchen, wo man, wie Jalil sagte, alles kaufen konnte, was das Herz begehrte. Sie würden mit seinem Auto herumkutschieren, und die Leute würden sagen: »Seht mal, da fährt Jalil Khan mit seiner Tochter.« Er würde ihr den berühmten Baum zeigen, unter dem ein Dichter begraben lag.
Irgendwann, möglichst bald, wollte sie ihm alle diese Dinge sagen. Und wenn er sie hörte, wenn er sähe, wie sehr er ihr fehlte, würde er sie bestimmt mit sich nehmen. Sie würde ihm nach Herat folgen und wie seine anderen Kinder in seinem Haus wohnen.
»Ich weiß, was ich mir wünsche«, sagte Mariam zu Jalil.
Es war im Frühjahr 1974, kurz vor Mariams fünfzehntem Geburtstag. Die drei saßen auf Klappstühlen im Schatten der Weiden vor der kolba.
»Zu meinem Geburtstag. Ich weiß, was ich mir wünsche.«
»Tatsächlich?« Jalil lächelte aufmunternd.
Zwei Wochen zuvor hatte er ihr auf ihr Drängen hin mitgeteilt, dass in seinem Kino ein amerikanischer Film gezeigt werde, ein besonderer Film, wie er erklärte, der nur aus Zeichnungen bestehe, aus Tausenden einzelner Zeichnungen, die, wenn man sie zu einem Film zusammenschneide und auf eine Leinwand projiziere, den Eindruck erweckten, als bewegten sie sich. Ein solcher Film werde Cartoon genannt. Dieser Cartoon, fuhr Jalil fort, erzähle die Geschichte eines alten, kinderlosen Erfinders, der sehr einsam sei und sich nichts sehnsüchtiger wünsche als einen Sohn. Also schnitzt er eine Puppe, einen hölzernen Jungen, der dann auf magische Weise zum Leben erwacht. Mariam hatte mehr von dieser Geschichte hören wollen und von Jalil erfahren, dass der alte Mann und seine Puppen jede Menge Abenteuer erlebten, dass es da einen Ort namens Pleasure Island gebe, wo böse Jungs in Esel verwandelt würden. Begeistert hatte Mariam Mullah Faizullah von diesem Film berichtet.
»Ich wünsche mir, dass du mich in dein Kino mitnimmst«, sagte Mariam nun. »Dass ich den Cartoon sehe und den hölzernen Jungen.«
Mariam spürte, wie sich schlagartig die Stimmung änderte. Ihre Eltern rutschten auf ihren Stühlen hin und her und tauschten irritierte Blicke.
»Das ist keine gute Idee«, sagte Nana. Ihre Stimme klang ruhig und beherrscht, wie immer, wenn Jalil zugegen war, doch ihre Miene verriet etwas anderes.
Jalil hustete und räusperte sich.
»Weißt du«, sagte er, »die Bildqualität ist ziemlich schlecht, so auch der Ton, und der Projektor hat in letzter Zeit seine Macken. Vielleicht hat deine Mutter recht. Vielleicht solltest du dir etwas anderes wünschen, Mariam jo.«
»Aneh«, bemerkte Nana. »Siehst du? Dein Vater und ich sind einer Meinung.«
Später am Fluss sagte Mariam: »Nimm mich mit.«
»Hör zu«, entgegnete er. »Ich sorge dafür, dass dich jemand abholt und mit dir ins Kino geht. Da wird man dir einen guten Platz freihalten und so viel Süßigkeiten bringen, wie du willst.«
»Nein. Ich will mit dir ins Kino gehen.«
»Mariam jo …«
»Und ich will, dass auch meine Brüder und Schwestern da sind. Ich möchte sie kennenlernen. Wir sehen uns alle zusammen den Film an. Das ist es, was ich mir wünsche.«
Jalil seufzte. Er wich ihrem Blick aus und schaute in Richtung Berge.
Mariam erinnerte sich, von ihm erfahren zu haben, dass auf einer Leinwand das Gesicht eines Menschen so groß erscheine wie ein Haus, dass, wenn darauf ein Autounfall zu sehen sei, der Zuschauer bis in die Knochen spüre, wie sich das Blech zerknautsche. Sie malte sich aus, neben Jalil und ihren Geschwistern auf einem der Logenplätze zu sitzen und an einem Stieleis zu lecken. »Das ist es, was ich mir wünsche«, sagte sie.
Jalil sah sie traurig an.
»Morgen. Morgen Mittag. Wir treffen uns hier, an dieser Stelle. In Ordnung? Morgen Mittag?«
»Komm her«, sagte er. Er kauerte sich auf den Boden, nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. Nana hatte die Hände zu Fäusten geballt und stampfte mit dem Fuß auf.
»Warum hat mich Gott bloß mit einer so undankbaren Tochter gestraft? Was habe ich nicht alles für dich erlitten? Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, mich im Stich zu lassen, du verräterischer kleiner harami!«
Dann versuchte sie es mit Spott.
»Dummes Ding! Bildest du dir etwa ein, ihm etwas zu bedeuten, in seinem Haus willkommen zu sein? Dass er dich als seine Tochter bei sich aufnimmt? Lass dir eins gesagt sein: Das Herz eines Mannes ist verkommen, Mariam. Im Unterschied zum Mutterschoß blutet es nicht, und es dehnt sich auch nicht aus, um Platz für ein Lebewesen wie dich darin zu machen. Ich bin die Einzige, die dich liebt. Ich bin alles, was du auf dieser Welt hast, Mariam, und wenn ich gegangen bin, wirst du nichts haben. Rein gar nichts. Du bist ein Nichts!«
Schließlich versuchte sie, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.
»Ich sterbe, wenn du gehst. Der Dschinn wird in mich fahren. Ich werde einen Anfall bekommen, werde meine Zunge verschlucken und daran ersticken. Verlass mich nicht, Mariam jo. Bitte bleib. Ich sterbe, wenn du gehst.«
Mariam schwieg.
»Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Mariam jo.«
Mariam sagte, sie wolle einen Spaziergang machen.
Sie fürchtete, wenn sie bliebe, die Mutter mit Worten verletzen zu können, denn sie hätte am liebsten gesagt, dass die Geschichte mit dem Dschinn erlogen war, dass ihre Krankheit, wie sie von Jalil wusste, einen Namen hatte und mit Hilfe von Pillen gelindert werden konnte. Sie hätte Nana womöglich gefragt, warum sie sich weigerte, Jalils Rat zu befolgen und seine Ärzte aufzusuchen. Warum sie nicht die Pillen nahm, die er ihr mitgebracht hatte. Wenn es Mariam möglich gewesen wäre, ihre Gefühle in Worten auszudrücken, hätte sie vielleicht sogar gesagt, dass sie es leid war, benutzt zu werden, die verdrehten Wahrheiten ihrer Mutter hören zu müssen und, als Alibi missbraucht, für ihren Groll gegen die Welt herhalten zu müssen.
Du hast Angst, Nana, hätte sie womöglich gesagt. Du hast Angst, dass ich das Glück finden könnte, das dir versagt geblieben ist. Und du willst nicht, dass ich glücklich bin. Du gönnst mir kein gutes Leben. Du bist von uns beiden diejenige mit dem verkommenen Herzen.
Am Rand der Lichtung gab es einen Aussichtspunkt, den Mariam gern aufsuchte. Dort setzte sie sich auch jetzt ins warme trockene Gras. Wie ein Brettspiel breitete sich Herat in der Ferne aus: der Frauengarten im Norden der Stadt; im Süden der Char-suq-Basar und die Ruinen der alten Zitadelle von Alexander dem Großen. Wie die verstaubten Finger eines Riesen ragten die Minarette in den Himmel, und in den Straßen stellte sie sich ein Gewimmel von Menschen, Karren und Maultieren vor. Über ihr schwirrten Schwalben durch die Luft. Sie beneidete die Vögel. Die waren schon in Herat gewesen, über seine Moscheen und Basare gesegelt. Vielleicht hatten sie sich schon einmal auf den Mauern von Jalils Haus oder auf den Eingangsstufen seines Kinos niedergelassen.
Sie sammelte zehn Kieselsteine auf und ordnete sie in drei senkrechte Reihen. Mit diesem Spiel beschäftigte sie sich manchmal heimlich, wenn Nana nicht zuschaute. Die vier Steine in der ersten Reihe standen für Khadijas Kinder, die drei in der zweiten für Afsoons und die drei in der dritten für Nargis’ Kinder. Dann fügte sie den drei Reihen eine vierte hinzu. Einen einzigen, elften Kieselstein.
Am nächsten Morgen trug Mariam ein cremefarbenes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte, darunter eine Leinenhose. Den Kopf bedeckte sie mit einer grünen hijab, was sie ein wenig grämte, weil die Farbe nicht zum Kleid passte. Aber sie musste sich damit begnügen – die weiße hijab war von Motten zerfressen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, eine alte Uhr zum Aufziehen, mit schwarzen Ziffern auf minzegrünem Grund, ein Geschenk von Mullah Faizullah. Es war neun Uhr. Sie fragte sich, wo Nana sei, und wähnte sie draußen vor der Tür, wagte es aber nicht, ihren gekränkten Blicken zu begegnen. Nana würde sie eine Verräterin schimpfen und sich über die törichten Wünsche der Tochter lustig machen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, setzte sich Mariam an den Tisch und versuchte, einen Elefanten zu zeichnen, so wie Jalil es ihr gezeigt hatte, mit einem einzigen Strich. Immer und immer wieder. Vom langen Sitzen schmerzte ihr Rücken, doch um das Kleid nicht zu zerknittern, verzichtete sie darauf, sich auszustrecken.
Als die Zeiger schließlich auf halb elf standen, steckte Mariam ihre elf Kieselsteine ein und ging nach draußen. Auf dem Weg zum Fluss sah sie Nana unter dem gewölbten Laubdach der Trauerweide auf einem Stuhl sitzen. Es war nicht zu erkennen, ob ihre Mutter sie im Auge hatte oder nicht.
Am Flussufer angekommen, wartete Mariam an der tags zuvor verabredeten Stelle. Über den Himmel zogen ein paar graue, blumenkohlförmige Wolken. Jalil hatte ihr erklärt, dass solche Wolken deshalb grau scheinen, weil ihre dichten oberen Schichten das Sonnenlicht schlucken und einen Schatten auf die unteren Schichten werfen. »Das, was du siehst, Mariam jo«, hatte er hinzugefügt, »ist ihr dunkler Unterleib.«
Es verstrich einige Zeit.
Mariam kehrte zur kolba zurück. Diesmal folgte sie dem Westrand der Lichtung, um Nana aus dem Weg zu gehen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor eins.
Er ist ein Geschäftsmann, dachte Mariam. Irgendetwas hat ihn aufgehalten.
Sie ging wieder zum Fluss und wartete. Schwarzdrosseln flatterten durch die Luft und tauchten dann irgendwo im Gras unter. Sie sah einer Raupe zu, die über die Wurzel einer jungen Distel kroch.
Sie wartete, bis ihr die Beine weh taten. Doch diesmal kehrte sie nicht zur kolba zurück. Sie krempelte sich die Hosenbeine hoch, überquerte den Fluss und marschierte zum ersten Mal in ihrem Leben talwärts Richtung Herat.
Nana irrte auch, was Herat betraf. Keiner zeigte mit dem Finger auf Mariam. Keiner lachte sie aus. In einem nicht abreißenden Strom von Fußgängern, Fahrradfahrern und Maultier-garis schlenderte sie durch zypressengesäumte Alleen, und da war niemand, der sie mit einem Stein beworfen hätte. Keiner nannte sie einen harami. Es nahm sie überhaupt kaum jemand zur Kenntnis. Sie war hier, unerwarteter- und wunderbarerweise, eine ganz gewöhnliche Person.