1. Kapitel

 

Wie so oft hatte der Wecker mich nicht aus meinen Träumen reißen können – dafür meine Mutter. Sie hätte locker bei der Bundeswehr arbeiten und den Weckruf übernehmen können, doch stattdessen arbeitete sie in einem Callcenter. Mamas genervtes Stöhnen schien wahrhaftig aus allen Ecken gleichzeitig zu kommen. Vielleicht hatte ich aber auch am Abend nur einen Joint zu viel geraucht. Das Kissen über den Kopf zu drücken, brachte leider nicht wirklich viel, denn Muddern zog mir die Decke weg und riss die rotfarbenen Seidentücher zur Seite, die ich provisorisch als Vorhänge nutzte.

„Olli! Aufstehen jetzt!“ Hätte ich auf dem Rücken gelegen, wäre Mutter beim Anblick meiner morgendlichen Latte vermutlich wieder in eine Art Schockstarre gefallen. Hochrot wäre sie angelaufen, hätte folglich gekichert und amüsiert gefragt, ob ich einen feuchten Traum gehabt hätte. Als sie aus meinem Zimmer hastete, fluchte sie noch über meine Unfähigkeit, morgens nicht pünktlich aus dem Bett zu kommen. Mit meinen siebzehn Jahren solle ich gefälligst mehr Verantwortung für mein Leben übernehmen und so ‘n Zeugs, das halt nur Erwachsene von sich geben können.

„Olli!“

Gähnend streckte ich meine Gliedmaßen, setzte mich augenreibend auf und bemerkte, dass meine Klöten aus der Brief geflutscht waren. Die wenigen Haaren am Sack störten mich und so beschloss ich, mir im Bad die Eier zu rasieren. Danach gönnte ich mir eine wohltuende, heiße Dusche und zupfte mir die Augenbrauen. Sicherlich nahm das ganze Prozedere etwas Zeit in Anspruch, aber die hielt ich für angemessen. Leider sah meine Alte dies ein wenig anders. Keine Ahnung, warum sie morgens andauernd so gestresst ist. Ihrer Meinung nach muss alles immer zügig vonstattengehen. Dass ich das ein wenig anders sehe, hatte sie noch nie verstehen können, aber das ist mir ziemlich egal. Hektik ist nichts für mich und wird es auch nie sein. Manchmal wünschte ich, Mutter und viele andere Menschen würden sich ein Beispiel an mir nehmen. Gechillt in den Tag starten, kein Stress, alles easy.

Mit dem Rucksack in der Hand ging ich die Spindeltreppe hinunter und betrat die Küche, wo meine kleine Schwester Sabrina in ihrem Kinderstuhl neben Muddern am Esstisch saß und betete. Ja, meine Mutter ist sehr gläubig – zumindest bei manchen Sachen. Sie spricht jeden Morgen zu Gott und dankt ihm unter anderem für den unterbezahlten Job, was ich ehrlich gesagt ziemlich absurd finde. Ich bete schon seit Langem nicht mehr, was Mama natürlich nicht wirklich passt. Als sie den Grund erfuhr, warum ich Gott den Rücken zugekehrt habe, konnte sie nur verständnislos mit dem Kopf schütteln und mir eine Woche Hausarrest aufs Auge drücken. Wenn sie gewusst hätte, dass dies eigentlich keine Bestrafung, sondern ehr eine Belohnung war, dass ich nach der Schule den ganzen Tag über zocken konnte, hätte sie sich wahrscheinlich schnell etwas anderes ausgedacht, um mich zu bestrafen. Nicht, dass meine Mom eine total bösartige Person war, aber manchmal übertrieb sie es halt. Jedenfalls seitdem ich herausgefunden habe, dass Gott sich auf Schafott reimt, glaube ich nicht mehr an den allmächtigen Herrn. Ich meine, denkt mal drüber nach. Das Wort Gott reimt sich tatsächlich auf Schafott. Eindeutiger geht’s doch wirklich nicht mehr.

Mutterherz endete ihr Gebet und sah zu mir auf. „Jetzt aber schnell!“ Und schon war sie aufgesprungen, um mal wieder irgendetwas in der Wohnung zu suchen.

„Morgen“, begrüßte ich mein Schwesterchen mit einem Bussi auf die Wange. Sie kicherte und klatschte erfreut in die Hände. Ja, Sabrina freute sich tierisch darüber, nach zwei langen Tagen wieder in den Kindergarten gehen zu können. Manchmal glaube ich, dass sie lieber dort leben würde als bei uns.

„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, fragte Muddern, während sie am Türrahmen stand und sich die Schuhe anzog.

„Natürlich“, schwindelte ich beim Schmieren eines Marmeladenbrots. Ich konnte recht gut flunkern.

„Ganz sicher?“

„Jupp.“ Ich biss von meinem Brot ab und gab einen genussvollen Laut von mir. Ja, ich habe eine große Leidenschaft für Marmelade, was allerdings im Grunde genommen für alles Essbare gilt. Ohne Marmelade bekommt mich zumindest keiner aus dem Haus. Diesen seltsamen, aber auch irgendwie lustigen Tick habe ich von meiner Mutter in die Wiege gelegt bekommen. Zum Glück habe ich mehr von meinem dauerhaft abwesenden Vater als von ihr. Muddern braucht das Essen nämlich nur anzuschauen, um breiter zu werden. Ich hingegen kann mampfen, was ich will, und nehme trotzdem kein Gramm zu. Viele halten mich für zu dünn, aber das bin ich nicht. Es ist viel mehr so, dass ein Großteil derer, die unter Fettleibigkeit leiden, die Schuld für ihr Aussehen bei anderen sucht.

„Bist du jetzt endlich soweit?“, hetzte Mama weiter.

Ich nickte, auch wenn ich gern verneint hätte.

„Kindergarten!“, freute Sabrina sich unüberhörbar. Sie stützte sich mit ihrer kleinen Hand auf meinem Oberschenkel ab und sprang vom Stuhl. Unweigerlich musste ich über diese Freude schmunzeln, denn ich hatte nie solch ein euphorisches Gefühl verspürt, als ich noch in den Kindergarten gehen musste. Im Gegenteil. Mich fand man meistens abseits der anderen Kinder, worauf man mich für absonderlich erklärte und freiwillig mied. Viele Freunde hatte ich also keineswegs und das änderte sich auch nicht, als die Schule begann. Sicherlich habe ich ein paar Freunde, aber in einer Gruppe hatte ich mich nie wohl gefühlt. Ich bin kein Miesepeter, falls ihr das denken solltet. Dinge, die Leute in meinem Alter für gewöhnlich tun, interessieren mich meist einfach nicht. Sich sinnlos zu besaufen oder Leute anzupöbeln, ist nicht meine Welt. Ich versuche mich von solchen Menschen fernzuhalten, was sich oftmals als sehr schwierig herausstellt.

„Olli!!“

„Ich komme ja schon.“ Seufzend erhob ich mich. Als ich auf Mama zulief, bedachte sie mich mit einem merkwürdigen Blick. „Was ist?“

„Kannst du die Hose nicht mal zur Abwechslung über der Socke tragen, anstatt umgekehrt?“

Ich blickte auf mich hinab und zuckte gleichgültig die Achseln.

„Also echt. Was sollen denn die Leute denken?“

Ja, was sollen nur die Leute denken, wenn sie mich sehen? Als ob es mich interessieren würde, was Menschen, mit denen ich so überhaupt nichts zu tun habe, über mich denken. „Chill mal“, meinte ich und griff an die Türklinke.

„Das sieht dämlich aus.“

„Dämlich“, echote meine Schwester. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht einmal wusste, was sie da eigentlich wiederholte.

Warum die Alte oder sonst wer oftmals meint, dass ich mich anders kleiden solle, verstehe ich keinesfalls. Es ist doch meine Entscheidung, was ich trage und was nicht. Abgesehen davon gibt es wirklich Schlimmeres als eine graue Jogginghose, einen luftig weißen Hoodie mit Reißverschluss und Sneakers. Und dass ich das linke Hosenbein in die Socke stecke, ist halt mein Ding. Mein Style, mein Leben, meine Entscheidungen.

„So viele Ringe.“ Ja, Mama war in vielen Dingen recht engstirnig.

Abermals zuckte ich nur die Achseln. Es muss ja weder ihr noch sonst wem gefallen, dass ich auf Schmuck stehe. Abgesehen davon finde ich drei Ringe alles andere als übertrieben.

„Naja“, meinte Mutter mit einem leicht abwertenden Unterton, „musst du wissen.“

Gerade als ich mir im Hausflur eine Fluppe anzünden wollte, hielt Muddern mich mit lauten Worten davon ab. „Nicht im Hausflur!“

Erschrocken zuckte ich zusammen. Sicherlich hätte ich nun eine sinnlose Diskussion anfangen können, die Muttchen erst dann beendet hätte, wenn sie Recht bekommen hätte, aber dazu verspürte ich absolut keine Lust. Allerdings fand ich ihr Verhalten schon ein wenig absonderlich, denn bis vor wenigen Tagen hatte sie selbst noch im Hausflur gequalmt. Aber jetzt, da jemand die gegenüberliegende Wohnung gemietet hatte und in einigen Tagen einziehen würde, wollte sie wohl einen guten Eindruck schinden. Fraglich, warum jemand freiwillig in dieses Haus zieht. Das Gebäude ist nämlich alles andere als schick. Die Fassade scheint älter als Mutter, der Keller stand schon einige Male unter Wasser und der Hausflur hätte auch einen neuen Anstrich gebrauchen können. Allein schon die schwere Haustür, die beim Zugehen so krass knallt, dass die Eingangstür der Kneipe, die sich im Erdgeschoss und neben dem gigantischen Stromkasten befindet, wackelt, sollte einem zu denken geben. Im Haus selbst gibt es vier Wohnungen. Eine liegt direkt über der Kneipe, drei weitere in der obersten Etage. Unsere ist auf zwei Ebenen verteilt, die andern beiden müssten so an die 40 Quadratmeter groß sein. Ich hoffte ja, dass der neue Mieter keine Frau ist. Nicht, dass ich etwas gegen Frauen habe, aber sie können mitunter sehr anstrengend werden. Und damit meine ich nicht nur meine Alte. Meine Freundin Elly ähnelt Mama nämlich sehr, und wenn ich eines in meinem jungen Leben gelernt habe, dann das, dass man bei Frauen nie wissen kann, was sie eigentlich wollen. Erst neulich habe ich wieder so eine seltsame Erfahrung mit Elly machen müssen. Sie stand vorm Spiegel und betrachtete kritisch ihre Figur. Sie fragte mich, ob sie dicker geworden sei, was ich verneinte. Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie fragte wieder und wieder, was mich irgendwann dazu verleitete, ihr zuzustimmen. Der darauffolgende Ärger war kaum zu ertragen. Sie machte mir eine Szene, als sei ich ihr fremd gegangen. Elly war sodann sogar der Ansicht, dass ich sie nicht so akzeptieren würde, wie sie ist, und am Ende war sie sogar der festen Überzeugung, dass ich sie nicht lieben würde. Aus diesem Schlamassel rauszukommen, war kein Leichtes und ohne einen Joint wahrscheinlich nicht möglich gewesen. In solchen Momenten denke ich, dass Männer und Frauen gar nicht zusammenpassen. Sieht man ja an meinen Eltern. Dad ließ Mutter sitzen, da sie ständig was zu meckern hatte und ständig auf Streit aus war. Egal, was Paps auch sagte, Mutter hörte nur das, was sie hören wollte und drehte Sätze so um, dass sie für und nicht gegen sie sprachen. Einerseits wünschte ich Paps lange Zeit zum Teufel, andererseits konnte ich ihn im Nachhinein verstehen.

„Viel Spaß in der Schule!“, hörte ich Muddern noch rufen, ehe die Haustür hinter mir zuschlug. Mit der Kippe im Mund lief ich gelassen über den schmalen Pflasterweg. Links ist unser Garten, der von einer Hecke umgeben ist, rechts der von den Nachbarn. Auf dem Hinterhof, der zu mehreren Häusern gehört, stehen meist nur wenige Autos, wovon eines meiner Alten gehört. Bevor ich den Hinterhof verließ, sah ich aus dem Augenwinkel noch, wie Schwesterchen zum Wagen rannte. War ich froh, in entgegengesetzter Richtung gehen zu müssen. Wäre dem nicht so gewesen, hätte Muddern mich, wie sie es eine Zeit lang getan hatte, zur Schule gefahren. Glaubt mir: Es gibt nichts Peinlicheres, als wenn die Mutter den fast volljährigen Sohn zur Schule bringt. Bei Erstklässlerin kann ich es ja noch verstehen, aber nicht bei jemanden wie mir, der die 10. Klasse besucht.

Wahnsinn, oder?