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Stefan Keller

Schabowskis Zettel

Roman

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Zum Buch

Berlin, November 1989 Seit den offenkundigen Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai dauern die Proteste an, gleichzeitig fliehen DDR-Bürger zu Tausenden über Ungarn und Prag in den Westen. Der junge Volkspolizist Juri Hoffmann hingegen glaubt noch fest an die DDR. Nadja Worzin wollte eigentlich studieren. Weil sie sich jedoch in Bürgerbewegungen engagiert, bleibt ihr dies verwehrt. Mittlerweile schreibt sie für eine Zeitung der Opposition. Ohne Furcht recherchiert sie die finsteren Geschäfte einiger Funktionäre und bringt sich damit in Lebensgefahr. Eines Nachts trifft Juri auf die verängstigte und blutende Nadja. Sie erzählt ihm, wie sie ein Lagerhaus mit Wertsachen gefunden hat, in dem Volkseigentum lagert, das Stasi-Kader an den Westen verscherbeln wollen. Nadja wurde entdeckt und entkam mit knapper Not. Juri zweifelt am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte. Doch bei einer Sitzung des Politbüros fallen ihm teure Westanzüge und guter Wein auf. Woher stammt das Geld dafür? Und wie kann er Nadja helfen?

Stefan Keller lebt und arbeitet als Schriftsteller, Dozent und Dramaturg in Düsseldorf. Nach seiner Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist und Theaterdramaturg schrieb er unter anderem Hörspiele, Fernsehshows, Drehbücher und Bühnenstücke. Zudem lektorierte er für Filmproduktionen und Fernsehsender. Seit mehreren Jahren unterrichtet er Schreiben an den Universitäten in Köln und Düsseldorf. »Schabowskis Zettel« ist sein siebter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Stirb, Romeo! (2016)

Düsseldorf - Porträt einer Stadt (2017)

Kölner Wahn (2015)

Kölner Grätsche (2014)

Kölner Luden (2013)

Kölner Persönlichkeiten (2012)

Kölner Totenkarneval (2011)

Kölner Kreuzigung (2010)

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2020

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Röhrbein

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5956-6

Vorbemerkung

Dieses Buch ist kein historisches Werk, sondern ein Roman, in dem Fakten und Fiktion eine Einheit eingehen. So tragen zwar manche der handelnden Personen ihre historisch richtigen Namen, aber die individuelle Figurenzeichnung und sämtliche Dialoge sind erfunden …

… vermutlich.

Was in jedem Fall wahr ist: Liebe versetzt nicht nur Berge, sondern bringt auch Mauern zu Fall.




Donnerstag, 9. November 1989

1

Internationales Pressezentrum der DDR, Mohrenstraße, Berlin (Hauptstadt der DDR)

Juri Hoffmann wippte unruhig mit dem Fuß. Nachdem er Günter Schabowski in den Pressesaal gefolgt war, hatte er sich auf der rechten Seite des Raumes hinter den Kameras der Fernsehanstalten positioniert. Hier, im Gedränge vor der holzvertäfelten Wand, würde er niemandem auffallen, so hoffte er. An den Objektiven vorbei sah er auf die Journalisten in den rot gepolsterten Stühlen und auf das Podest mit den eingebauten Lautsprechern, hinter dem fünf Sessel bereitstanden. Von nun an lag ihr Schicksal in der Hand des Parteisekretärs, der neben dem Podium stand und diskutierte.

Freundlich lächelnd machte Juri einer jungen Kameraassistentin Platz, die verzweifelt versuchte, dem Kabelwust in ihren Händen Herr zu werden. »Mein erster Tag«, flüsterte sie entschuldigend, als sie ihm auf den wippenden Fuß trat. Er nickte, wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Stattdessen beobachtete er das Podium, auf dem sich nichts tat. Anders im Saal: Hier wurde gemurmelt und aufgebaut, leise zwischen den Stuhlreihen debattiert. Manche Journalisten studierten Unterlagen, die auf ihrem Schoß lagen. Wenn das Mädchen Glück hatte und sein Plan aufging, würde ihr erster Tag gleich ein historischer Tag werden. Wenn nicht …

Er wollte gar nicht daran denken.

Juri überblickte zwischen den schwarzen Kameras hindurch die voll besetzten Reihen. Noch nie hatte er so viele Menschen aus dem Westen auf einmal gesehen. Sicher kannte er Westdeutsche und hatte als Volkspolizist mit einigen gesprochen, Besucher vor allem, die sich verlaufen hatten und glaubten, die Berliner Polizei sei eine Auskunftei. Doch so zahlreich wie im Pressezentrum waren sie ihm noch nie begegnet. Dutzende Vertreter westdeutscher Medien füllten den Raum. Sogar die Logos britischer, italienischer und amerikanischer Fernsehsender, Radiostationen und Zeitungen konnte er auf den Kameras und Mikrofonen erkennen.

Die Assistentin vor ihm hatte ihre Kabel inzwischen zusammengerollt und hielt sie in der Hand, ihr Blick war konzentriert auf die Kamera vor ihr gerichtet. Günter Schabowski, der nun das Podium betrat, beachtete sie gar nicht. Auch die anderen Journalisten, Briten, Franzosen, Amerikaner, schauten kaum auf, nur langsam kehrte Ruhe im Saal ein.

Der Sekretär für Informationswesen nahm in der Mitte der Bühne Platz, legte Tasche und Zettel vor sich auf die Ablage und richtete ein Mikrofon. Er sah müde aus, fand Juri. Eben war ihm das gar nicht aufgefallen. Vielleicht betonte der blassgrüne Vorhang hinter ihm das Fahle in Schabowskis Gesicht.

Pünktlich um 18 Uhr begann der Sekretär seine Pressekonferenz. Mit klopfendem Herzen hörte Juri seinen Ausführungen zu, wartete auf die alles entscheidende Mitteilung. Auf der anderen Seite des Raumes sah er den italienischen Journalisten, der ihn vor einigen Tagen vor dem ZK-Gebäude angesprochen hatte. Er wirkte gelangweilt, hielt die Arme verschränkt vor dem Körper, den Kopf leicht gesenkt, als würde er dösen. Juri betrachtete dessen Kollegen auf den Sitzen. Kaum jemand schien dem, was Schabowski zu sagen hatte, größere Bedeutung beizumessen.

Tatsächlich verlor der Sekretär kein Wort über das neue Reisegesetz. Juri hatte gedacht, dass er diese Neuigkeit als Erstes bringen würde. Immerhin war sie deutlich spektakulärer als die Themen, über die der frühere Journalist stattdessen redete. Weitschweifig referierte er zu Fragen der Parteireform und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage in der DDR. Die Zeit schritt voran, Juris Fuß wippte immer schneller. Mittlerweile war es zehn vor sieben, er wusste, dass Schabowski seine Pressekonferenz pünktlich beenden würde. Hatte er alles bemerkt, seinen Plan durchschaut und gar nicht mehr die Absicht, sich zur Reiseregelung zu äußern?

*

Günter Schabowski setzte sich auf den mittleren Platz des Podiums und sortierte die Unterlagen für die anstehende Pressekonferenz. Kurz runzelte er die Stirn, als er den Beschluss las, den der junge Volkspolizist ihm soeben in die Hand gedrückt hatte. Er wusste, dass der Zettel von Krenz kam, ihm klangen noch die Ohren wegen des Sturms der Kritik, den die Veröffentlichung des ersten Entwurfes für ein neues Reisegesetz ausgelöst hatte, dennoch las er ihn jetzt staunend:

»Zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR wird festgelegt:

Die Verordnung vom 30. November 1988 über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland (GBl. I Nr. 25 S. 271) findet bis zur Inkraftsetzung des neuen Reisegesetzes keine Anwendung mehr.

Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR in das Ausland in Kraft:

a) Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.

b) Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Die Antragstellung auf ständige Ausreise ist wie bisher auch bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten möglich.

c) Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen.

d) Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.

Schabowski schüttelte unmerklich den Kopf. Er wusste, dass eine neue Reiseregelung im Politbüro diskutiert worden war und dass der Ministerrat darüber entscheiden sollte. Aber wann diese Entscheidung nun getroffen worden war, erschloss sich ihm nicht, schon gar nicht, ab wann sie gelten sollte. Wo war der übliche Sperrvermerk? Er blätterte in den Papieren. Darin fand sich nichts. Nachdenklich notierte er sich in großen Buchstaben »ZEIT« auf einen Zettel. Noch einmal betrachtete er das Dokument. Es war zweifelsohne echt. Für die Richtigkeit bürgte das Sekretariat des Ministerrates mit einer Unterschrift.

Er musste darüber nachdenken, wie er diese Nachricht verkünden konnte. Das würde am besten gelingen, wenn er ausführlich von etwas anderem redete. Am liebsten würde er sie übergehen. Sie erschien ihm reichlich übereilt und zusammengestümpert. Aber einen Beschluss zu verschweigen, der ihm eigens für diese Pressekonferenz übergeben worden war, verstieß gegen alle Gepflogenheiten.

»Wir müssen anfangen«, zischte jemand neben ihm. Schabowski nickte und packte den Beschluss des Ministerrates mit seinem Zettel ganz nach unten.

*

Juri hielt es nicht länger auf seinem Platz hinter den Kameras. Schabowskis Pressekonferenz neigte sich dem Ende zu und der Sekretär für Informationswesen schwieg weiter eisern über die neue Reiseregelung. Als hätte er alle seine Themen abgehakt, begann Schabowski nun sogar, Fragen der Journalisten zu beantworten, immer noch ein unerhörter Vorgang in einer offiziellen Pressekonferenz der SED. Als Schabowski dies bei seinem ersten Auftritt vor den Journalisten eingeführt hatte, war die Verblüffung groß gewesen. Für Juri bedeutete sein Schweigen, dass der Sekretär nicht die Absicht hatte, über die neue Regelung zu sprechen. Lautlos ging er nach hinten, hörte die sonore Stimme, die weiter nicht sagte, was er hören wollte. Er verließ den Saal, aber nur, um ihn auf der anderen Seite wieder zu betreten. Der italienische Journalist saß direkt vor dem Podium. Es sah aus, als habe er die Augen halb geschlossen.

Juri beugte sich zu ihm hinunter. Kaum jemand beachtete ihn, die Journalisten stellten ihre Fragen, Schabowski antwortete weitschweifig. Der Journalist brauchte einen Augenblick, ehe er ihn erkannte. »Wir haben gesprochen«, flüsterte er, »vor dem ZK-Haus. Sie waren der diensthabende Polizist, oder?«

»Ja, schön, dass Sie sich an mich erinnern. Sie sollten Schabowski nach der Reisefreiheit fragen. Es gibt Neuigkeiten.«

Der Italiener zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen. »Reisefreiheit?« Er schnaubte, als habe Juri etwas Unerhörtes gesagt. Dem fiel jetzt auch der Name des Journalisten ein: Riccardo Ehrman. Er hatte sich über diesen für einen Italiener untypischen Familiennamen gewundert. Riccardo hatte ihm erklärt, dass seine Eltern jüdische Polen aus Lemberg waren. Ihre Hochzeitsreise hatte sie nach Florenz geführt und sie waren dort geblieben. Ein Detail, das Juri sich gemerkt hatte: Polen, die ihre Hochzeitsreise in Florenz verbrachten. Vielleicht würde das bald auch für Bürger der DDR Normalität sein. Zumindest wenn der Italiener Juris Aufforderung folgte. Der aber blieb zögerlich.

»Es gibt eine neue Regelung für Ausreisen aus der DDR. Frag Schabowski!«

Um sie herum breitete sich Unruhe aus. Ihr Gespräch störte die anderen Journalisten.

»Woher weißt du davon?«, zweifelte der Journalist weiterhin.

Konnte er nicht einfach Schabowski fragen? Juris Zeit lief ab. Nur noch wenige Minuten, dann würde Schabowski das Podium verlassen. Außerdem wusste Juri nicht so recht, was er auf die Frage erwidern sollte. Der Journalist würde ihm kaum glauben, dass er den Beschluss direkt von Krenz in die Hand gedrückt bekommen hatte, damit er, Juri Hoffmann, ein einfacher Volkspolizist, Schabowski den Zettel übergab. Seine kleine Veränderung oder besser Auslassung würde er ihm noch viel weniger glauben. Am Ende des Saales entdeckte er ein bekanntes Gesicht, das er in den letzten Tagen öfters im Zentralkomitee gesehen hatte: Günter Pötschke, Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN und Mitglied im Zentralkomitee. War es riskant, ihn als Quelle anzugeben? Ohne weiter nachzudenken, nannte Juri ihn. Besser nicht zu lange über die möglichen Konsequenzen grübeln. Wenn alles schiefging, hatte er ohnehin Probleme genug. Riccardo schien der Name Pötschke zu genügen, denn er hob die Hand. Schabowski nickte ihm auffordernd zu. Juri zog sich rasch zurück.

»Ich heiße Riccardo Ehrman, ich vertrete die italienische Nachrichtenagentur ANSA. Herr Schabowski, Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war eine große Fehler, diese Reisegesetzentwurf, das Sie haben vorgestellt vor wenigen Tagen?«

Am liebsten hätte Juri ihn geschüttelt. Noch sieben Minuten blieben, um sein Ziel zu erreichen, und Ehrman stellte seine Frage derart umständlich und ging mit keinem Wort auf Juris Informationen ein. Doch anstatt zu antworten, kramte Schabowski den Ministerbeschluss hervor und las daraus vor. Juri erkannte die Stelle sofort. Sein Herz machte einen Sprung.

»Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Berliner Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu West-Berlin erfolgen.«

»Wann tritt das in Kraft?«, fragte der Italiener gleichzeitig mit einem westdeutschen Journalisten, der vor ihnen saß.

»Ab sofort?«, rief ein anderer Pressevertreter in den Raum. Juri spürte die Aufregung, die plötzlich herrschte.

Irritiert blickte Schabowski auf den Zettel vor ihm. Er zögerte, stammelte. Offenkundig hatten die beiden Journalisten ihn auf dem falschen Fuß erwischt. »Also Genossen, mir ist das mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon …«, er setzte sich die Brille auf die Nase, um wieder zu lesen, »… verbreitet worden ist. Sie müssten die … Die müsste eigentlich in Ihrem Besitz sein. Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort… unverzüglich.«

Juri fielen tausend Steine vom Herzen. Ohne weiter zu warten, eilte er aus dem Saal. Jetzt musste er Nadja aus der Datsche holen, bevor es zu spät war. Hinter sich hörte er noch aufgeregtes Gemurmel, dann verließ er das Pressezentrum.

Unter den Säulen des klassizistischen Vordachs wandte er sich in Richtung Spittelmarkt. Über den menschenleeren Hausvogteiplatz, für dessen farbige Kunststeinplatten er keinen Blick hatte, lief er weiter in die Niederwallstraße, vorbei an dem alten Krankenhaus der Grauen Schwestern. Für einen Moment zweifelte Juri an dem, was er gerade erlebt hatte. Hatte er Schabowskis Worte nur geträumt? Berlin, das in den letzten Wochen manchmal eine andere Stadt geworden zu sein schien, frei, voller Hoffnung für die einen, voller Bedrohungen für die anderen, wirkte heute Abend unverändert wie lange nicht mehr. Die enge Straße mit den grauen Fassaden und Baulücken war menschenleer. Niemand außer ihm war auf der Straße unterwegs. Der heimelige Geruch von Braunkohlebriketts verhieß Wärme hinter den Fenstern und Fassaden, wohin sich die Menschen an diesem trüben Novemberabend zurückgezogen hatten. Aber was hatte er erwartet? Menschenmassen, die zur Mauer strömten? Die Nachricht von der Grenzöffnung würde sich erst nach 19 Uhr verbreiten, die »Aktuelle Kamera« frühestens ab halb acht darüber berichten. Dennoch, irgendwie hatte Juri geglaubt, dass sich augenblicklich Tausende aufmachen würden, um zu sehen, wie die Mauer geöffnet wurde. Aber die Niederwallstraße lag friedlich da. Auch der Spittelmarkt wirkte verlassen. Nicht einmal die Schaufenster des Exquisit-Ladens lockten viele Menschen an. Dabei war das Wetter im Verlauf des Tages ein wenig freundlicher geworden. Zeitweise hatte sogar die Sonne geschienen, doch jetzt leuchteten in den Fenstern der Wohnungen des Spittelecks die Lichter hinter den Betonbalustraden der Balkone. Alles schien unverändert. Nur Juri nicht.

Niemand hätte bei seiner Geburt gedacht, dass ausgerechnet er eines Tages die Berliner Mauer öffnen würde, in deren unmittelbarer Nachbarschaft er aufgewachsen war und bis heute lebte. Bis vor wenigen Tagen hätte er selbst das ebenfalls für unmöglich gehalten. Seine Eltern waren Arbeiter und Parteimitglieder, der Vater bis zu seinem Tod Schichtführer bei den Volkseigenen Betrieben Kabelwerk Oberspree in Oberschöneweide, die Mutter bis zu ihrer krankheitsbedingten Pensionierung Näherin in einem Bekleidungskombinat unweit ihrer Wohnung. Juri hätte eine Ausbildung im Kabelwerk beginnen können, aber schon als kleiner Junge stand sein Berufswunsch fest: Er wollte Volkspolizist werden. Im Kindergarten hatten sie immer ein Lied gesungen:

»Ich hab mich verlaufen, die Stadt ist so groß,

Die Mutti wird warten, wie find ich sie bloß?

Der Volkspolizist, der es gut mit uns meint,

Der bringt mich nach Hause, er ist unser Freund!«

Er hatte nicht eher Ruhe gegeben, bis sein Vater mit ihm ins Haus des Kindes am Strausberger Platz gegangen und die Schallplatte für ihn gekauft hatte. Monatelang lief sie rauf und runter, immer bis zur letzten Zeile, die der kleine Juri voller Inbrunst mitschmetterte:

»Und wenn ich mal groß bin, damit ihr es wisst,

Dann werde ich auch so ein Volkspolizist.«

Dank seines Großvaters, eines Generalobersts der Nationalen Volksarmee hätte ihm eine wesentlich leichtere Karriere bei der NVA offengestanden, aber der heranwachsende Juri Hoffmann sah seine Aufgabe im sozialistischen Staat weiterhin bei der Polizei und so ließ seine Familie ihn gewähren. In seinem Diensteid schwor er »die sozialistische Staats-, Gesellschafts- und Rechtsordnung zu schützen«. Heute hatte er seinen Eid gebrochen und die sozialistische Staats-, Gesellschafts- und Rechtsordnung in ihren Grundfesten erschüttert, vielleicht sogar endgültig zu Fall gebracht. Auch wenn seine Umgebung davon in diesem Augenblick nichts erahnen ließ.

Als er die Treppen der U-Bahn-Station hinunterlief, fragte er sich, wann alles begonnen hatte. Wann waren ihm Zweifel gekommen? War es in Leipzig gewesen? An jenem regnerischen Oktoberabend, als er mit Hunderten anderer aus der ganzen Republik abkommandierter Volkspolizisten bei einer Demonstration der Opposition für Ordnung sorgen sollte? Ihnen war erklärt worden, bei den Demonstranten handele es sich um »gewissenlose Elemente« und »Rowdys«. Ihr Kommandeur hatte zuvor eine kurze, lautstarke Ansprache gehalten. »Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden«, hatte er erklärt und einen Satz nachgeschoben, der Juri damals schaudern ließ: »Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand.« Nie zuvor hatte er als Volkspolizist von der Waffe Gebrauch machen müssen.

So standen sie an diesem 2. Oktober behelmt und bewaffnet vor der Thomaskirche in Leipzig, als sich ihnen der Demonstrationszug näherte. Hunde bellten an knappen Leinen. Aus den Augenwinkeln sah Juri Wasserwerfer aus den Nebenstraßen kommen. »Wir sind das Volk«, skandierten die Demonstranten. Manche riefen auch: »Wir bleiben hier!« Was ihn als Erstes erschreckte, war die schiere Zahl der Demonstranten. Es mussten Tausende sein, und keiner von ihnen sah aus, wie sich Juri einen Rowdy oder ein gewissenloses Element vorgestellt hatte. Ihnen gegenüber standen ganz normale Menschen, DDR-Bürger wie sie auch. Unter den Polizisten spürte Juri dennoch – oder vielleicht umso mehr – die Angst wachsen. Wie sollte man dieser Menge Herr werden? Wie sollte man den Auftrag, diese Demonstration aufzulösen, erfüllen, ohne dass Menschen starben?

Er wusste nicht mehr, wann die Krawalle losgegangen waren, geschweige denn wer daran die Schuld trug. Irgendwann hörte er das Zischen der Wasserwerfer, sah Demonstranten, die von deren Fontänen zu Boden geworfen wurden, sah behelmte Kameraden, die auf die Fallenden zurannten, den Knüppel in der Hand, und losprügelten. Als Antwort flogen Steine auf die Polizisten, die notdürftig versuchten, sich hinter ihren Schilden zu verstecken.

Auch Juri verbarg sich hinter seinem Schild, rannte mit einer Gruppe Kameraden orientierungslos durch die fremde Stadt, in der Hoffnung, weder Steine werfenden Demonstranten noch einem Vorgesetzten in die Arme zu laufen. Nach einiger Zeit sammelten sie sich im Schatten einer alten Kirche. Vor ihnen tobte weiter die Straßenschlacht. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch einer jungen Frau, die zwischen den Demonstranten stand und zu ihnen herüberblickte. An ihre linke Hand klammerte sich ein Kind, kaum vier Jahre alt, hielt die freie Hand vor sein Gesicht und weinte. Juri meinte, sein Schreien in dem Tumult hören zu können. Das waren die gewissenlosen Elemente, von denen ihr Kommandeur gesprochen hatte? Eine Mutter mit ihrem vierjährigen Sohn? Juri wollte dem Chaos Einhalt gebieten, aber natürlich brachte er kein Wort heraus. Es hätte ja auch nichts genützt. Er sah noch, wie die Frau das Kind auf den Arm nahm, sah, wie es sein Köpfchen an ihre Schulter presste. Dann drehte sich die Frau um und verschwand in der Menge. Juri musste sein eigenes Gesicht bedecken, um nicht von den Schwaden des Tränengases erwischt zu werden, das in die Menge geschossen worden war. Mit ein paar Kameraden drängte er sich an die Mauer der Kirche, bemüht, nicht in die Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. Andere Polizisten und Demonstranten rannten an ihnen vorbei. Dumpf dröhnten die Schläge zu ihm herüber, greller und durchdringender hörte er die Schreie der Getroffenen.

Eine Woche später stand Juri wieder in Leipzig, wieder behelmt und den Schlagstock an der Seite. Unter den jungen Polizisten hatten Gerüchte die Runde gemacht, dass es dieses Mal ernst werden würde, richtig ernst. Als ob die Ausschreitungen vom 2. Oktober nicht ernst genug gewesen waren. In den Leipziger Krankenhäusern sei angeblich medizinisches Personal für die Nacht zwangsverpflichtet, sogar Blutkonserven seien bereitgestellt worden. Mehrere Stunden rang Juri mit sich, um eine Lösung zu finden, wie er diese Nacht überstehen sollte, ohne auf seine Mitbürger einprügeln zu müssen. Im Lkw, der ihn nach Leipzig brachte, im Lager, wo sie auf ihren Einsatz warteten, und selbst noch auf der Straße, als die Parolen der Opposition wie ein fernes Grollen auf sie zurollten, dachte er darüber nach, sprach kein Wort mit den Kameraden, die allerdings ähnlich schweigsam waren wie er. Er würde nicht schlagen, hatte er irgendwann für sich beschlossen. Ohne eine Idee, wie er das bewerkstelligen wollte, stieg er vom Lkw.

Doch er musste sich darüber keine Gedanken machen. Zu viele Menschen demonstrierten an diesem Montagabend in Leipzig. 70.000, hatte er später gehört. Viel zu viele, um sie mit dem Knüppel auseinanderzutreiben. Viel zu viele, um sie aufzuhalten.

Als er nach Berlin zurückkehrte, wusste er, dass Veränderungen unausweichlich waren. Er wusste, dass sie auch ihn treffen würden. Gerade ihn. Den Volkspolizisten. Er hatte Angst davor. Deswegen hatte die Veränderung vielleicht erst später begonnen. Vor nicht einmal einer Woche. Als Nadja auftauchte. Nadja, derentwegen er den Staat, in dem er groß geworden war, an den er geglaubt und dem er einen Eid geschworen hatte, gerade zu Fall gebracht hatte. Nadja, die in Lebensgefahr schwebte.




Freitag, 3. November 1989