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Renate Welsh

IN DIE WAAGSCHALE
GEWORFEN

Geschichten über den Widerstand gegen Hitler

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In Zusammenarbeit mit dem Beirat für das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 des Bundeskanzleramtes der Republik Österreich und gedruckt mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und der Kulturabteilung der Stadt Wien

Welsh, Renate: In die Waagschale geworfen / Renate Welsh

Wien: Czernin Verlag 2019

ISBN: 978-3-7076-0656-0

»In die Waagschale geworfen« ist erstmals 1988
im Verlag Jugend und Volk erschienen.

© 2019 Czernin Verlags GmbH, Wien
Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl
Autorinnenfoto: Ernst Gembinsky
Druck: Christian Theiss GmbH
ISBN Print: 978-3-7076-0656-0
ISBN E-Book: 978-3-7076-0657-7

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Ihr Widerstand

hat die Brücken gebaut,

über die wir uns einer möglichen Zukunft

nähern können –

solange wir ihren Kampf

nicht vergessen.

Inhalt

Vorwort von Heinz Fischer

In die Waagschale geworfen | Dorothea Neff

Ein großer Gschrapp | Auguste und Karl Dostal

Hochverrat | Heinrich Maier

Annerl | Karl Feldhammer

Steine | Erich Fein

Ein Stück Brot oder so | Agnes Puschek

Solche Leute brauchen wir | Karl Flanner

Kriegslinzertorte | Elisabeth Jehlik

Weiterführende Literatur

Vorwort

von Heinz Fischer

»Nie wieder Diktatur« und »Nie wieder Krieg«, das sind Wünsche, die von der überwältigenden Mehrheit der österreichischen Bevölkerung und auch von der Bevölkerung anderer Länder geteilt werden.

Und dennoch gibt es immer wieder Krieg und Diktatur.

Ein Lippenbekenntnis zur Demokratie oder zum Frieden genügt eben nicht.

Die Demokratie muss gewollt, gelebt und verteidigt werden. Die Demokratie benötigt Demokraten. Auch der Friede muss gewollt, praktiziert und als höchstes Gut betrachtet werden: »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts«, sagte Willy Brandt. Dazu gibt es viele Beispiele aus der europäischen Geschichte.

Das Jahr 1918 als das letzte Jahr des Ersten Weltkrieges war ein schreckliches Jahr. Allein in diesem einen Jahr gab es mehrere Millionen Kriegstote (Soldaten und Zivilisten).

Aber es war auch ein hoffnungsvolles Jahr. Der Krieg ging zu Ende, die große alte Monarchie hatte das Vertrauen der Menschen weitgehend verloren und eine demokratische Republik trat in Österreich an ihre Stelle.

Sie wurde von großen Hoffnungen begleitet, hatte aber schwere Hypotheken zu tragen. Sie wurde von vielen gewünscht, hatte aber auch viele Gegner. Sie erbrachte beachtliche Leistungen, konnte aber die vielen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der jungen Republik, die in den späten 20er-Jahren von einer weltweiten Wirtschaftskrise noch verschärft wurden, nicht in zufriedenstellender Weise lösen.

Enttäuschung, Unzufriedenheit und politische Radikalität machten sich breit. Der Faschismus war auf dem Vormarsch: in Deutschland in Form des brutalen, menschenverachtenden Hitler-Faschismus, in Italien als Mussolini-Diktatur und in Österreich als ein im Vergleich zu Deutschland weniger brutaler und klerikal beeinflusster Austrofaschismus.

1933 wurde in Wien das Parlament ausgeschaltet, bald darauf auch der Verfassungsgerichtshof und nach einem kurzen, aber blutigen Bürgerkrieg im Februar 1934 begann die letzte Phase der Ersten Republik. Engelbert Dollfuß (der im Juli 1934 von den Nazis ermordet wurde) und nach ihm Kurt Schuschnigg waren an der Macht, aber nicht mächtig.

Der Druck von Hitler-Deutschland auf Österreich wurde immer größer und im März 1938 entschloss sich Hitler zur Annexion des innerlich geschwächten Österreich, was dem Deutschen Reich sieben Millionen zusätzliche Einwohner, einige Divisionen an Soldaten für die Deutsche Wehrmacht, den Goldschatz der Österreichischen Nationalbank und 84.000 km2 an »deutschem Lebensraum« brachte.

Ein gewisser Nachteil aus der Sicht von Adolf Hitler war zweifellos die Tatsache, dass in Österreich und vor allem in Wien eine beträchtliche Anzahl an Jüdinnen und Juden lebte. Die Lösung dieses »Problems« würde er später, wie wir wissen, auf grausamste Weise, nämlich durch millionenfachen Mord, angehen.

Mit dem »Anschluss« Österreichs an Hitler-Deutschland lernten die Österreicherinnen und Österreicher Schritt für Schritt kennen, welche gewaltigen Steigerungen der Inhumanität innerhalb eines totalitären Systems möglich sind: Im System des Nationalsozialismus hatte das Menschenleben keinen Wert – egal ob es um Soldaten oder um Zivilisten ging. Ein Leitmotiv lautete: Der Zweck heiligt die Mittel. Das galt sowohl für den am 1. September 1939 mit dem Einmarsch in Polen von Hitler begonnenen Zweiten Weltkrieg als auch für die Vorgangsweise gegen innerdeutsche und innenpolitische Gegner. Sein zum Rassenwahn gesteigerter Antisemitismus kostete 6 Millionen Jüdinnen und Juden das Leben in der Shoa.

War Widerstand gegen Hitler möglich? Die Antwort muss lauten: „Ja!« und »Nein!« Das Nein ist gerechtfertigt, wenn man damit ausdrücken will, dass einzelne Menschen oder auch einzelne Gruppen von Menschen keine Chance gegen den gewaltigen und fanatisierten Machtapparat des Großdeutschen Reiches unter der Führung Adolf Hitlers hatten.

Das Ja ist gerechtfertigt, wenn man bedenkt wie viele Männer und Frauen – von denen wir die meisten gar nicht namentlich kennen – nicht nach den Chancen einer Widerstandshandlung gefragt, sondern einfach menschlich und mutig gehandelt haben und anderen Menschen in großer und größter Gefahr Hilfe leisteten.

In der sogenannten Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 hatten die Vertreter der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens feierlich erklärt, sie würden Österreich nach dem Sieg über Hitler-Deutschland wieder zu einem freien, selbständigen und unabhängigen Staat machen. Die näheren Umstände würden allerdings stark davon abhängen, welchen Beitrag die Österreicherinnen und Österreicher selbst zu ihrer Befreiung zu leisten bereit wären.

Es kann aus heutiger Sicht nicht behauptet werden, dass es in Österreich gelungen ist, eine große und starke Widerstandsbewegung aufzubauen, die sichtbare und zur Abkürzung des Krieges wesentlich beitragende Erfolge im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu verzeichnen hatte.

Umso wichtiger ist es aber in Erinnerung zu rufen, dass hunderte Fälle belegt sind, in denen Österreicherinnen und Österreicher Widerstand leisteten; Mitmenschen schützten und versteckten; Menschen in Not Hilfe leisteten oder sogar ein Überleben bis zum Ende des Krieges ermöglichten. Und noch viel mehr Fälle als jene, die bekannt wurden, haben sich mit Sicherheit ereignet, ohne dass wir davon Kenntnis haben. Es war ein unsichtbarer, individueller, humaner Widerstand, der allergrößte Hochachtung verdient.

Dieses Buch von Renate Welsh schildert acht solcher Beispiele, wobei es sich um ganz unterschiedliche Situationen handelt. Anständigkeit, Mut und die Bereitschaft, anderen Menschen unter Inkaufnahme größter Risiken zu helfen, ist das gemeinsame Band, das alle diese Fälle verbindet. Eines der Beispiele bleibt anonym. Alle anderen werden in einem kurzen Anhang genau und namentlich beschrieben. Und nicht zuletzt ist dieses Buch in einer wunderbaren Sprache geschrieben.

Das alles sind Gründe, die es nicht nur rechtfertigen, sondern geboten erscheinen lassen, diese Erzählungen von Renate Welsh, die zum ersten Mal vor 50 Jahren im Verlag »Jugend und Volk« publiziert wurden, aber inzwischen vergriffen sind, jetzt – in jenem Jahr, in dem wir den 100. Geburtstag unserer Republik feiern, aber eben auch des 80. Jahrestages des sogenannten »Anschlusses« Österreichs an Hitler-Deutschland und der Novemberpogrome in Wien und anderen Städten gedenken – neu herauszugeben.

Dafür danke ich dem Czernin Verlag sehr herzlich und wünsche diesem Buch eine gute Aufnahme bei allen Interessierten und ganz besonders bei jungen Menschen.

Heinz Fischer

Wien, November 2018

In die Waagschale geworfen

Ich bin nicht dabei gewesen, und dennoch meine ich, diese Küche vor mir zu sehen, einen leichten Petroleumgeruch zu riechen, der nicht hineinpasst. Ich sehe eine weiße Kredenz mit Kathedralglas und gedrechselten Säulen, weiße Fliesen mit kobaltblauem Fries, feine Haarrisse in den Bodenkacheln.

Zwei Frauen knien neben einer Küchenwaage, groß und dunkel die eine, klein und rothaarig die andere. Dorothea Neff und Lilli Wolff. Die Messingschalen blinken. Ringsum ist ein seltsames Gewirr von Dingen ausgebreitet: gefütterte Schaftstiefel, ein Petroleumkocher, ein kleiner Aluminiumtopf, Schichtseife, Wanzensalbe, warme Unterwäsche, Handtücher, zwei Paar dicke Wollfäustlinge, drei Dosen Biomalz, eine weiche gestrickte Decke …

Die Schaftstiefel waren nicht leicht abzuwiegen. Immer wieder kippte der Schaft in die falsche Richtung. 600 Gramm pro Stiefel? Oder doch nur 450?

Dorothea Neff machte eine genaue Liste, in die rechte Kolonne schrieb sie die Gewichte.

»Wir sind schon bei … 28 Kilo fast. Und was da noch alles liegt«, könnte Lilli Wolff gesagt haben. »Meinst du wirklich, dass ich einen Kocher brauchen werde?«

»Doch. Gerade den.«

Sie sortierten Allernotwendigstes auf einen Stapel, nur Notwendiges auf einen anderen. Auch das Allernotwendigste wog mehr als die erlaubten zwanzig Kilogramm.

Dorothea Neff war so zufrieden gewesen, als sie die Stiefel und den Kocher im Schleichhandel erstanden hatte, um teures Geld. Sie wollte Lilli das Leben so weit wie möglich erleichtern.

Noch wusste man nicht, was eine Jüdin im Lager erwarten würde, aber man wusste, dass es furchtbar war. Man hatte gesehen, wie Juden den Gehsteig mit Zahnbürsten säubern mussten. Man hatte gesehen, wie alte Männer an den Schläfenlocken hochgerissen wurden. Man hatte gesehen, wie der Hass die Gesichter braver Bürger zu Fratzen verzerrte. Man hatte die sich überschlagenden Stimmen Hitlers, Goebbels’ und der anderen im Radio gehört, wenn sie über »Volksschädlinge« geiferten. Man hatte flüstern gehört über die Vernehmungsmethoden der Gestapo.

Novemberregen klatschte gegen die Fensterscheiben. Die Frauen fröstelten. Dorothea Neff stand auf, knipste die Lampe an. Im Lichtkegel wirkte das Sammelsurium auf dem Fußboden noch absurder.

Lilli Wolff begann, Dinge in den Rucksack zu stopfen. Irgendwie. »Ich glaube, ich nehme den heute schon mit. Man kann nie wissen. Vielleicht holen sie uns schon morgen Früh.«

So könne man nicht packen, ereiferte sich Dorothea Neff. Lilli zuckte mit den Schultern. Sie müsse bald zurück in die Wohnung im zweiten Bezirk. Die Kontrollen …

Dorothea Neff nahm alles aus dem Rucksack, packte sorgfältig, schob die weiche Decke so, dass nichts drückte, wenn die kleine zierliche Lilli den Rucksack trug. Zwanzig Kilogramm. Viel zu wenig, und doch viel zu schwer zu schleppen für eine Frau, die nur ein Viertel Magen hatte.

Die Wollstrümpfe mussten unbedingt noch hinein. Und die Schmerztabletten.

Dorothea Neff blickte auf, sah das graue, müde Profil Lillis. Fünfundvierzig Jahre alt war sie, heute sah sie aus wie siebzig. Sie, die immer gestrahlt hatte, war glanzlos geworden, sie, die Tüchtige, ließ alles mit sich geschehen.

Wie sie den Nacken über den Rucksack beugte.

Diese Ergebenheit, diese grauenvolle Ergebenheit.

Wo war die Frau geblieben, die eines der besten Modeateliers in Köln geführt hatte, die für ihren Schick bekannt war, die auflebte am Theater und voll Begeisterung die Kostüme für moderne Stücke entwarf?

Strähnig hingen ihr die Haare ins Gesicht.

Wut gegen die brutale Macht, der dieser wehrlose Mensch ausgeliefert war, würgte Dorothea Neff, Mitleid überschwemmte sie. Sie griff nach Lillis Hand.

»Schluss damit. Räum das Zeug weg, das ist alles unsinnig, du gehst heute Abend nicht dorthin zurück, du bleibst bei mir, jetzt und weiterhin.«

Wer hatte das gesagt?

Sie selbst natürlich. Wer sonst?

Dorothea Neff atmete aus. Der Würgegriff an ihrer Kehle lockerte sich.

Man hörte das leise Sirren im Glühfaden der Lampe.

Lilli wandte Dorothea Neff ihr Gesicht zu, langsam wie in Zeitlupe. Aufgerissene Augen, grotesk geweitete Nasenlöcher, zitternde, eingefallene Wangen. Langsam öffnete sich der Mund und brachte kein Wort heraus. Als ihr die Tränen über die Wangen liefen, versuchte sie zu lächeln.

In dieser Nacht schlief Lilli tief und fest, eingerollt wie ein Kind, das Kopfkissen im Arm.

Dorothea Neff lag wach.

Nicht dass sie bereute, ihrem Gefühl gefolgt zu sein. Aber sie wusste, dass sie von jetzt an jeden Schritt genau überlegen musste. Sie wusste, welches Risiko sie eingegangen war.

Sie wusste, dass sie von heute an ganz auf sich gestellt sein würde.

Morgen würde sie in die Ferdinandgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk gehen, in die Wohnung, wo Lilli als Untermieterin einer jüdischen Familie eingewiesen worden war. Jeden Morgen hatte Dorothea Neff sie an der Schwedenbrücke abgeholt, Lilli hatte den Davidstern von ihrem Mantel entfernt, und sie waren in die Annagasse gegangen. Abends war Lilli rechtzeitig zur Kontrolle zurück gewesen.

Bei ihren Besuchen in der Ferdinandgasse hatte Dorothea Neff sich als Bibliothekarin ausgegeben, hatte die Brille aufgesetzt, die sie sonst nie trug, trotz ihrer hochgradigen Kurzsichtigkeit, weil sie fürchtete, ihre Augen könnten auf der Bühne ausdruckslos wirken. Sie hatte sich mit dem Namen ihres verstorbenen Mannes als Antonia Schmid vorgestellt. Morgen also würde sie hingehen und nach Lilli fragen. Sie würde Erstaunen zeigen über Lillis Abwesenheit und damit ihre Spur verwischen. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde man annehmen, dass Lilli wie so viele Juden in diesen Tagen Selbstmord begangen hatte.

Das war noch verhältnismäßig einfach. Das traute sie sich zu. Schließlich war sie Schauspielerin.

Aber dann?