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Der Autor

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Reinhard Mehring (*1959), 2. Staatsexamen (1987), Promotion 1988 in Politikwissenschaft, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent in Würzburg und Berlin, Habilitation 2000 im Fach Philosophie, Schuldienst, seit 2007 Professor für Politikwissenschaft und deren Didaktik an der Pädagogische Hochschule Heidelberg. Zahlreiche Monographien u. a. zu Thomas Mann, Carl Schmitt und Heidegger, zur Philosophischen Pädagogik und Emigrationsforschung.

Reinhard Mehring

Die neue Bundesrepublik

Zwischen Nationalisierung und Globalisierung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033941-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-033942-2

epub:    ISBN 978-3-17-033943-9

mobi:    ISBN 978-3-17-033944-6

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Inhalt

 

 

 

  1. Vorgeschichte
  2. Teil I Endlich wieder ein »normaler« Nationalstaat? Die neue Bundesrepublik in den 1990er Jahren
  3. 1 Vom 10-Punkte-Plan bis zum Beitritt der DDR
  4. 2 Verlierer und Opfer der Wendezeit
  5. 3 »Blühende Landschaften« und »Angleichung der Lebensverhältnisse«
  6. 4 Grundzüge des Grundgesetzes
  7. 5 Hauptstadtentscheidung
  8. 6 Mentaler und kultureller Wandel Exkurs: Das Gesicht der neuen Bundesrepublik
  9. 7 Stagnation durch Anpassung? Das Beispiel des Bildungssystems
  10. 8 Krieg und Frieden: der Jugoslawienkrieg
  11. 9 Regierungswechsel: von Kohl zu Schröder
  12. 10 Millennium 4.0: »digitale Revolution« und gesellschaftlicher Wandel
  13. Teil II Die neue Dynamik der Globalisierung
  14. 1 Welt im Krieg
  15. 2 Osterweiterung und Europäisierung
  16. 3 Die neue »Bildungsrepublik«
  17. 4 Merkel I–III plus X: Kanzlerin der Krise?
  18. 5 Integrationswunder?
  19. 6 Kollaps im System
  20. 7 Kriegsgebiete
  21. 8 An den Grenzen des Normalzustands: die Bundesrepublik seit 2015
  22. 9 Regierungsbildungskrise 2017/18
  23. 10 Zukunftsfragen
  24. Literaturverzeichnis
  25. Abbildungsnachweis:
  26. Nachwort

Vorgeschichte

 

 

 

Diese kleine Einführung in die Geschichte, Lage und Verfassung der – nicht mehr ganz – »neuen« Bundesrepublik wurde für ein jüngeres Publikum geschrieben, das nach 1989 geboren wurde und keine andere Bundesrepublik aus dem Erleben kennt. Es weiß aber mehr oder weniger genau: Es gab einen Zweiten Weltkrieg (1939–1945), eine Nachkriegszeit unter Besatzungsstatut und Kontrolle der alliierten Sieger (USA, UDSSR, England, Frankreich; 1945–1949), eine »Teilung der Welt«, »nationale Frage« und deutsche Teilung in Ost und West, DDR und »Bonner« Bundesrepublik.

Es gab den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West, den Kalten Krieg und Mauerbau 1961 in der DDR und eine Westintegration der Bundesrepublik unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949–1963), einen Beitritt zur NATO, die »Wiederbewaffnung« der Bundeswehr und Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die sich zur Europäischen Union (EU) erweiterte und vertiefte. Es folgten erste Schritte in eine neue Ostpolitik nach dem Mauerbau, Kanzlerwechsel (Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger) und dann 1969 eine erste SPD/FDP-Koalitionsregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD; 1969–1974), die zu einer »Entspannungspolitik«, Ostverträgen und wechselseitiger Anerkennung der – wie man sagte »friedlichen Koexistenz« zweier Staaten – Bundesrepublik Deutschland und DDR (Deutsche Demokratische Republik) – einer deutschen Nation führte.

Es gab erste ökonomische und ökologische Krisen, eine Menschenrechtsbewegung (KSZE) auch im Ostblock, unter US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) ein ruinös teures atomares Wettrüsten und unter dem neuen sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow (*1931)

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Abb. 1: Blick von Ost-Berlin her über den Mauerstreifen und das Brandenburger Tor auf den alten Tiergarten.

Mitte der 1980er Jahre dann den verzweifelten Versuch, den Untergang der Sowjetunion, und damit auch der Satellitenstaaten des Ostblocks, auf dem Wege ökonomischer und politischer Reformen aufzuhalten. Der Versuch scheiterte, angefangen bei einer militärischen Niederlage in Afghanistan und starken Oppositionsbewegungen, beginnend in Polen. Gorbatschow verzichtete aber auf das letzte Mittel militärischer Gewalt gegen die Separationsbewegungen im Baltikum, Ungarn und auch der DDR. Dort formierte sich, zunächst im Raum der Kirchen, in den 1980er Jahren ein lange recht schwacher und von Polizei und Stasi (Staatssicherheit) stark verfolgter und überwachter Protest, der im Herbst 1989 – im 40. Jahr der DDR – dann zu Massendemonstrationen führte. Gorbatschow versagte der DDR-Führung (unter Erich Honecker) damals für die gewaltsame Niederschlagung letztlich die Unterstützung.

Ungarn öffnete schon im Sommer 1989 die Grenzen und es kam zu Massenfluchten, in deren Sog die brutal überwachte DDR-Mauer am 9. November 1989 fiel. Die Menschen tanzten auf der Mauer und verloren ihre Angst vor dem Terror der DDR-Diktatur. Wo bisher »Mauerschützen« auf Republikflüchtlinge schossen, begannen »Mauerspechte« sogleich mit der Demontage. Es kam zur »friedlichen Revolution« in der DDR, in deren Verlauf – anders als in Rumänien und anderen Ostblockstaaten – keine Schüsse fielen und keine Menschen starben. Die Ereignisse wurden als »Wahnsinn« und »Wunder« wahrgenommen und die ältere Generation, die sie miterlebte, betrachtete sie ganz überwiegend als großes Glück und prägende Erfahrung. Immanuel Kant (1724–1804), der bedeutendste deutsche Philosoph, hätte den »Enthusiasmus« der Anteilnahme und Zustimmung, wie einst in der Französischen Revolution,1 wohl als »Geschichtszeichen« und Triumph des moralischen und politischen »Idealismus« gedeutet. Der Ruf nach Freiheit hatte über die Diktatur der überalterten SED-Spitze gesiegt. Doch es war damals noch völlig ungewiss, was folgen würde. Darüber hatten die Menschen in der DDR, Bundesrepublik und die europäischen Nachbarn auch sehr unterschiedliche Ideen, Konzepte und Visionen.

Und erst an dieser Stelle beginnt eigentlich unsere Geschichte der neuen Bundesrepublik. Es folgt keine ganze Nationalgeschichte – seit wann eigentlich? – und auch keine Geschichte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung,2 sondern nur das »zweite Leben« der Bundesrepublik, das in seiner Eigenart gegen die »alte« Bundesrepublik abgesetzt wird. Dadurch unterscheidet sich dieses Buch von anderen Darstellungen. Es werden einfach und zügig mit Mut zur Lücke einige Grundlinien skizziert3 und keine starken Kausalitäten behauptet, als ob man exakt wissen könnte, was genau wirkte und wohin es führt. Denn die Geschichte ist offen; sie hat kein eindeutig erkennbares Ziel und ist im Ablauf viel zu komplex und zufällig, als dass man nachträglich mit Gewissheit sagen könnte, weshalb es so kam, wie es kam.

Früher sagte man gerne: Große Männer machen Geschichte! Daran ist jedes Wort fragwürdig: historische Größe, der Genderaspekt, die Machbarkeit der Geschichte und schließlich die überspannte Rede von »der Geschichte« selbst, als ob sie am roten, seidenen oder goldenen Faden eines obersten Webemeisters hinge, der alles vorhersieht und leitet. Der große Dichter Bertolt Brecht (1898–1956), 1933 emigriert und zuletzt (als Theaterdirektor des Berliner Ensembles) in der DDR lebend, spottete 1935 in seinem Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters über ein solches Geschichtsbild: »Caesar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« Helmut Kohl (1930–2017) wird heute rückblickend oft der »Kanzler der Einheit« genannt. Man rechnet ihm, dem damaligen Bundeskanzler, als wichtigste historische Leistung zu, die Chance zur Wiedervereinigung diplomatisch ergriffen und genutzt zu haben. Das ist nicht falsch; aber er war sicher nicht allein. Es gab viele Akteure – Köche oder Baumeister – der Einheit in Freiheit: des Beitritts der DDR zur Verfassung der Bundesrepublik.

Schon die Antike wusste: Man soll niemanden vor dem Ende glücklich preisen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Einfache Erfolgs- oder Glücksgeschichten sind deshalb allenfalls Zwischensummen. Die ältere Geschichtsschreibung sprach viel vom deutschen »Sonderweg«. Die Wiedervereinigung verlockte zu positiven Gesamtwertungen.4 Hier soll die Geschichte bis zur Gegenwart von 2018 nicht nach allzu einfachem Drehbuch verlaufen, aber auch nicht allzu »schwach« in additive Daten zerfallen, wie eine schlechte Powerpoint-Präsentation, die den Betrachter überflutet und erschlägt, ohne eine These und Frage zu haben. Geschichte wirkt, auch wenn Gegenwart und Zukunft nicht vollständig determiniert und in der Entwicklungsrichtung festgelegt sind.

Die folgende politische Geschichte der neuen Bundesrepublik geht einige Themenfelder mit Rückblenden durch und streicht zwei Pole und Phasen der Dynamik heraus: Die Ereignisse seit 1989 wurden zunächst überwiegend als Prozesse der »nationalen« Selbstbestimmung und Lebensgestaltung wahrgenommen: als »Wiedervereinigung« und »Zusammenwachsen« einer Nation; die neueren Entwicklungen im 21. Jahrhundert standen dann mehr unter dem Aspekt der europäischen und globalen Einflüsse und Krisen. Dafür lässt sich etwas akademisch von Prozessen der Nationalisierung und der Globalisierung sprechen.5 Die These der folgenden Darstellung lautet also, dass die erste Epoche der neuen Bundesrepublik durch Züge einer Re-Nationalisierung gekennzeichnet war, der eine Epoche der Globalisierung folgte.

Es liegt nahe, diese Etappen bildlich einfach zu werten und etwa von »glücklichen« Zeiten und Stress- oder Krisenzeiten, von »kaltem« Erwachen oder diffusen Mentalitäten und Befindlichkeiten zu sprechen. Solche Wertungen sind perspektivische Ansichtssache. Letzte Worte sind über die neue Bundesrepublik hier nicht zu sprechen. Es soll aber im Gesamteindruck deutlich werden, dass die Millenniumswende in Deutschland tatsächlich einen Umbruch und ein Ende der Nachwendezeit markierte und bald zu krisenhaften Globalisierungserfahrungen führte. Diese jüngste Geschichte der Bundesrepublik soll den Leser als offene Zukunft ansprechen und Rückfragen, Nachforschungen und Stellungnahmen provozieren. Sie ist ein Teil des eigenen Lebens. Wir verstehen uns nicht ohne sie und sollten sie näher – als hier darzustellen ist – um der eigenen Zukunft willen kennen. Einige elementare Voraussetzungen und Fragen werden dabei zum grundsätzlichen Verständnis erläutert.

1     Kant 1916, Bd. VII, S. 391–399.

2     Dazu etwa Görtemaker 1999; Conze 2009; Herbert 2014.

3     Ausgewogene Überlegungen zur Historisierung vgl. Hertfelder 2017, S. 365–393; grundsätzlich Koselleck 2010.

4     Winkler 2000; Wolfrum 2006; Hertfelder/Rödder 2009; Winkler 2015.

5     Für die neuere Geschichte des öffentlichen Rechts »zwei Phasen« Wahl 2003; zur juristischen Profilierung der »Berliner Republik« Duve/Ruppert 2018; vgl. auch Gross 1995; Bienert u. a. 2015.

Teil I    Endlich wieder ein »normaler« Nationalstaat? Die neue Bundesrepublik in den 1990er Jahren

 

1          Vom 10-Punkte-Plan bis zum Beitritt der DDR6

Die 1980er Jahre und Gründe des Untergangs der DDR sind hier nicht darzustellen. Die neue Bundesrepublik beginnt aber nicht mit dem formalen Vollzug des Beitritts am 3. Oktober 1990, dem heutigen Nationalfeiertag, sondern mit dem Entscheidungsprozess, der schließlich zum Beitritt führte. Viele DDR-Bürger, insbesondere der Oppositions- und Bürgerbewegungen, die am Sturz der SED-Führung beteiligt waren, wünschten anfangs nur eine andere SED und DDR, einen »dritten Weg« und Neustart der Suche nach einer besseren Gesellschaft. Sie wurden von den Beitrittsbestrebungen bald enttäuscht, und sie verloren die ersten und letzten freien Wahlen der DDR im März 1990 überraschend deutlich. Einige Exponenten der Bürgerbewegung – darunter spätere Spitzenpolitiker wie Wolfgang Thierse, Joachim Gauck und Angela Merkel – traten damals in BRD-Parteien über. Der Stimmungswandel vom DDR-internen Reformbegehren zum Wiedervereinigungs- und Beitrittswunsch zeichnete sich schon früh im Parolenwechsel ab. Zunächst hieß es noch: »Wir sind das Volk!« Wir sind das Staatsvolk der DDR, das eine andere DDR wünscht! Seit Dezember 1989 trat aber als weiterer Ruf daneben: »Wir sind ein Volk!« Eine deutsche Nation mit Anspruch auf Wiedervereinigung! Eine solche Lösung erschien Mitte November 1989 noch als pure Utopie und allenfalls ferne Zukunft. Fast niemand konnte sich vorstellen, dass die alliierten Sieger des Zweiten Weltkrieges ihre Rechte (Souveränitätsvorbehalte) aufgeben und einer – vom Grundgesetz als Verfassungsauftrag gebotenen – Wiedervereinigung7 Deutschlands zustimmen würden. Auch Nachbarn wie Polen und die Beneluxstaaten, Opfer des Nationalsozialismus, schienen das niemals zu wollen.

Es wäre viel zu eng, nur auf Deutschland zu schauen und die internationalen Rahmenbedingungen zu übersehen. Der Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks war ein welthistorisches Ereignis, das die Landkarte und Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts tiefgreifend verwandelte. Man spricht dafür heute gelegentlich vom Ende des »kurzen« 20. Jahrhunderts – von 1914 bis 1989 – und »Weltbürgerkriegs« der Nationalismen und totalitären Ideologien und Systeme. Im Verlauf der Ereignisse zerfielen in den 1990er Jahren die Tschechoslowakei und Jugoslawien – beides aus dem Untergang der österreichischen Doppelmonarchie nach 1918 entstandene Neugründungen –, und das Baltikum, die Ukraine, Georgien und viele andere Staaten erklärten ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion, die sich im Dezember 1991 förmlich auflöste. Jederzeit rechnete man damals mit einem Putsch gegen Gorbatschow und einer anschließenden militärischen Reaktion der Sowjetunion.

Für die meisten Nachfolgestaaten des Ostblocks wurden die 1990er Jahre zu einer dramatischen Umbruch- und Krisenzeit am Rande des Bürgerkriegs. Die Staatswirtschaft kollabierte und wurde von teils skrupellosen und korrupten Oligarchen privatisiert, während die Infrastruktur und Sozialversorgung zusammenbrach. Nur die DDR hatte in diesen gewaltigen Transformationsprozessen einen fürsorglichen Retter, der die Verantwortung und Entscheidungsfragen übernahm, weil das Gebot der Wiedervereinigung seit 1949 als ein oberster Verfassungsauftrag des Grundgesetzes galt. In der alten Präambel von 1949 hieß es: »Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit zu vollenden.« Das galt auch nach den Ostverträgen der 1970er Jahre, die die Zugehörigkeit der DDR-Bürger zur deutschen Nation nicht bestritten. Jeder Bürger der DDR – und darüber hinaus jeder »Abkömmling« eines »Volkszugehörigen« in den Grenzen von 1937 (Art. 116 Abs. 1 GG) – hatte vor und nach 1989 den unmittelbaren Anspruch auf einen bundesdeutschen Pass und volle Bürgerrechte. Die Bundesrepublik konnte das Beitrittsbegehren der DDR-Bürger juristisch gar nicht zurückweisen. Der Beitritt der DDR vereinfachte, so gesehen, als Komplettlösung die bürokratischen Formalien. Die meisten DDR-Bürger wären damals ohnehin in die Bürgerrechte der Bundesrepublik übergewechselt.

Im November 1989 stand aber der Beitritt der DDR anfangs als reale Möglichkeit noch gar nicht zur Entscheidung. Man fürchtete eine Intervention der Sowjetunion und sah die starken Bedenken der europäischen Nachbarn: insbesondere von Frankreich (unter Präsident François Mitterrand) und England (unter der Premierministerin Margaret Thatcher). Wie würde Europa nach 1989 aussehen? Würde ein vereinigtes Deutschland, demographisch und wirtschaftlich die stärkste Macht innerhalb der EU, nicht erneut den Traum von politischer Größe und Hegemonie als »Mittelmacht« zwischen West und Ost träumen? Drohte ein Austritt aus der Westbindung? Gar ein Viertes Reich?

Die Antwort der Bundesrepublik auf den Zerfall der DDR war selbst im Bundestag umstritten. Man fürchtete zunächst noch, die »friedliche Revolution« könne am Ende in eine Katastrophe münden. Der Bundeskanzler bestimmt aber laut Grundgesetz die »Richtlinien der Politik« (Art. 65 GG); er hat die sogenannte Richtlinienkompetenz und also die Aufgabe, Krisen zu bewältigen und Politik zu gestalten. Diese Aufgabe ergriff Kanzler Helmut Kohl, seit 1982 im Amt, noch im November 1989 mit einem 10-Punkte-Plan. Unstrittig handelte er hier auf eigene Verantwortung und Gefahr, nur in Abstimmung mit dem US-Präsidenten George H. W. Bush (1924–2018), wenigen Beratern (Horst Teltschik) und nicht zuletzt seiner Frau (Hannelore Kohl). Er wollte damals mit einem überraschenden Coup Führungskraft beweisen, die Initiative übernehmen und die Agenda bestimmen, indem er Bundestag wie Weltöffentlichkeit mit einem ersten Vorschlag zur Neuordnung Europas überraschte.

Ein solcher Coup ist aus den Quellen nicht detailliert rekonstruierbar. Keine Kamera war dabei. Manches wissen wir nur aus den Erinnerungen und Memoiren der Akteure, die interessegeleitet sind. Kohl, ein promovierter Historiker mit starkem vergangenheitspolitischem Engagement, wollte selbst als der »Kanzler der Einheit« in die Geschichtsbücher eingehen, der die Gunst der historischen Stunde gegen starke Widerstände und Bedenkenträger ergriffen hatte. Es war nicht ganz so, wie es legendär kolportiert wurde, dass er den Plan seiner Frau in nächtlicher Stunde ohne Absprachen mehr oder weniger spontan in die Reiseschreibmaschine diktiert hätte. Vielmehr stimmte er ihn über mehrere Tage mit wenigen Beratern ab und stellte ihn dann zunächst seiner Bundestagsfraktion in den Grundzügen vor. Es war dennoch für die Weltöffentlichkeit eine fast sensationelle Wendung, als Kohl am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag einen ersten Vorschlag zur europäischen Antwort und Lösung unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesrepublik einbrachte. Dafür sprach er im Entwurf von einer »Vertragsgemeinschaft« und »konföderativen Strukturen« bzw. Konföderation – enger Verbündung – sowie Beitrittsperspektiven der beteiligten Ostblockstaaten auf Basis der westlichen Verfassungsprinzipien. Die Rede von deutscher »Einheit« und vom »Beitritt« der DDR wurde zunächst noch gemieden. Sie erschien damals Ende November 1989 auch geradezu utopisch; fast niemand rechnete mit der Zustimmung der Alliierten zur Wiedervereinigung. Bei einem Veto von Frankreich und England, alliierten Siegern mit Souveränitätsvorbehalten gegen Deutschland, wäre ein Beitritt der DDR nicht möglich gewesen. Aber auch mit einer Zustimmung der Sowjetunion zum Beitritt rechnete damals selbst der Bundeskanzler noch nicht. Tatsächlich wurde der Plan zunächst eher vorbehaltlich und ablehnend aufgenommen. Erst Mitte Dezember sprach Kohl in Dresden ausdrücklich von seiner Hoffnung auf eine »Wiedervereinigung«.

Die Monate nach dem Mauerfall waren eine Sternstunde der Politik. Oft wird in kritischen Lagen unklug gehandelt. Der Erste Weltkrieg (1914–1918) gilt als »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts, weil sein Ausbruch aus einer Kette von diplomatischen Fehleinschätzungen und politischem Versagen resultierte. Beim Mauerfall und Untergang des Ostblocks, gerade beim Beitritt der DDR handelten die Akteure dagegen auf allen Ebenen – Bevölkerung wie Politiker – sehr besonnen, als ob die Menschheit am Ende des »kurzen« 20. Jahrhunderts aus Katastrophen gelernt habe. Dass die Mauer in der DDR friedlich fiel und – anders als etwa im Juni 1989 in China – nicht geschossen wurde, lag dabei zunächst an der Sowjetunion: Hätte es dort unter Gorbatschow nicht länger schon ein Umdenken gegeben, hätte Moskau die SED-Diktatur weiter gestützt, wären im Herbst 1989 gewiss Panzer aufmarschiert und Demonstranten – in Leipzig oder Berlin8 – getötet worden. Die SED-Führung war unter Erich Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke zur »chinesischen Lösung« des Einsatzes von Gewalt bereit. Stasi und DDR-Polizei hatten ja auch die Opposition überwacht, Demonstranten verprügelt und verhaftet. Die Ausreisewilligen und Republikflüchtlinge vom Sommer 1989 – über Ungarn und die CSSR – wurden von der SED diffamiert und kriminalisiert. Die SED reagierte auf die Massendemonstrationen dann zwar mit personellen Rochaden der Spitze – von Erich Honecker über Egon Krenz zu Hans Modrow – und Reformversprechen, die aber von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wurden.

Die Demonstranten verzichteten jedoch – selbst beim Sturm auf die Berliner Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 – auf gewaltsame Rache. Kein DDR-Polizist und kein Stasi-Mann wurden ernstlich auch nur verprügelt. Für einige Wochen wurde der »Runde Tisch«, der alle Akteure versammelte, zum Forum und Symbol der Neuorientierung. Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) stand damals vor der Auflösung; sie wurde u. a. durch Gregor Gysi (*1948), dem späteren Stern der Linken, am 4. Februar 1990 als PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) neu gegründet und so mit dem erheblichen Parteivermögen gerettet. Kohls Besuch in Moskau brachte dann noch im Februar einen wichtigen Schritt und Durchbruch zu einer Einwilligung in die Vereinigung. Sie erschien seitdem gegenüber der Sowjetunion mehr als Geldfrage. Für den 18. März 1990 wurden erste freie Wahlen beschlossen, aus denen die – bis 1989 als »Blockpartei« zu den »Blockflöten« im Konzert der SED gehörende – DDR-CDU (40,8%) – indirekt Kohls West-CDU – als großer Gewinner hervorging.

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Abb. 2: Die DDR-CDU wirbt für die letzten DDR-Wahlen 1990 mit dem Slogan der »sozialen Marktwirtschaft« der alten BRD und Adenauer-Ära.

SPD (21,9%) und die verschiedenen zersplitterten Bürgerbewegungen waren unerwartet schwach, die SED-Nachfolgepartei PDS (heute: Die Linke) dagegen stark (16,4%). Es wurde dann der DDR-CDU-Politiker Lothar de Maizière (*1940) zum letzten Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Er bildete eine Große Koalition unter Beteilung der SPD und Liberalen, um der Beitrittspolitik eine breite parlamentarische Zustimmung zu sichern.

Diese DDR-Regierung wurde zwar formell weiter beteiligt, wirkte aber fortan mehr als Statist. Die Bundesrepublik hatte die Regie übernommen und deutsch-deutsche Fragen schienen gegenüber den weltpolitischen Fragen der internationalen Akzeptanz einer Wiedervereinigung sekundär. Zentrale Entscheidungen wurden damals informell im kleinen Kreis und ständiger Gipfeldiplomatie beschlossen.

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Abb. 3: Kohl und Genscher bei Gorbatschow: letzte Gipfelgespräche vom 15. Juli 1990 vor dem Beitritt.

Helmut Kohl, der hoch geachtete FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1927–2016) und Wolfgang Schäuble (*1942) waren oberste Verhandlungsführer. Die erste Priorität hatte aber die Haltung der Weltmächte USA und Sowjetunion. Während die USA unter George H. W. Bush – nicht der Sohn und Amtsnachfolger George W. Bush (*1946) – sich hier geradezu vorbehaltlos mit echt amerikanischem Optimismus und Idealismus hinter das Selbstbestimmungsrecht Deutschlands stellte, brauchte Michail Gorbatschow starke Gegenleistungen, nicht zuletzt Milliardenzusagen und -hilfen, um den Zerfall der Sowjetunion aufzufangen und der Gefahr eines Putsches entgegenzuwirken. Weltpolitik wird in kritischen Momenten nicht nur von den revolutionären Energien der Aktivbürgerschaft und dem ökonomischen Druck, sondern auch durch persönliche Beziehungen und Entscheidungen auf oberster Ebene bestimmt. Kohl setzte gezielt auf vertrauensbildende Maßnahmen, Kumpanei und »Männerfreundschaft« gerade im Umgang mit dem in der Weltöffentlichkeit als Reformer geradezu kultisch verehrten Gorbatschow – sowie später dessen Nachfolger Boris Jelzin (1931–2007). »Gorbi, Gorbi!«, lautete damals der Ruf. Wurde mitunter allzu einseitig und zynisch gesagt, die DDR-Bevölkerung habe 1990 die D-Mark gewählt, so agierte die Bundesrepublik nicht zuletzt mit der Scheckbuchdiplomatie ökonomischer Zusagen – gegenüber Sowjetunion wie DDR (u. a. durch den Umtauschkurs der Währungsunion).