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Über die Autorin

Tyma Kraitt wurde 1984 in Bagdad geboren und lebt seit ihrer frühen Kindheit in Österreich. Sie studierte Philosophie an der Universität Wien. 2013 erschien im Promedia Verlag der von ihr gemeinsam mit Fritz Edlinger herausgegebene Band »Syrien. Hintergründe, Analysen, Berichte« sowie im Jahr 2015 »Irak. Ein Staat zerfällt. Hintergründe, Analysen, Berichte«.

Vorwort

Die meinungsbildende Berichterstattung über den Nahen und Mittleren Osten konzentriert sich auf den innerislamischen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Kaum eine Bewertung der unzähligen Konfliktherde im Nahen und Mittleren Osten kommt ohne Bezug auf die konfessionelle Identität der beteiligten Gruppen aus. Das trifft vor allem auf die Bürgerkriege in Syrien, Irak und Jemen zu. Dadurch geraten die vielfältigen sozioökonomischen und politischen Ursachen dieser Kriege in den Hintergrund. Tatsächlich ist die Verschränkung von sozialer Benachteiligung und religiöser Identität in vielen dieser Länder präsent und wesentlicher Antrieb der Konfrontation.

Um ein Beispiel zu nennen: Die schiitische Minderheit in Saudi-Arabien wird aufgrund der wahhabitischen Staatsdoktrin religiös ausgegrenzt, zugleich aber auch ökonomisch benachteiligt. Ähnliches trifft auch auf Bahrain zu, wo im Zuge der arabischen Revolten ab 2011 ein großer Aufstand der mehrheitlich schiitischen Bevölkerung gegen das sunnitische Königshaus brutal niedergeschlagen wurde. Regional­politisch übersetzt ist der sunnitisch-schiitische Konflikt vor allem einer zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Beide Regionalmächte kämpfen frühestens seit der Islamischen Revolution im Iran 1979 und spätestens seit dem Irak-Krieg von 2003 um die Vorherrschaft in der islamischen Welt. Dass dieser Konflikt von handfesten ökonomischen und geopolitischen Interessen geleitet wird, ist zwar offensichtlich. Dennoch kann die jahrhundertelange Geschichte der Entfremdung und des Ressentiments innerhalb der beiden großen islamischen Strömungen nicht völlig außer Acht gelassen werden.

Im Rahmen dieses Buches sollen zum einen die historischen Hintergründe des islamischen Schismas erläutert werden. Zum anderen thematisiert das Werk die unterschiedlichen Faktoren, die diesen alten Religionskonflikt wieder aufflammen lassen. Ein wesentlicher Fokus liegt dabei auf dem Einzug der Religion ins politische Feld – getragen von den vielen unterschiedlichen Akteuren des politischen Islam. Denn eine wichtige und letztlich doch banale Grundannahme dieses Buches ist es, dass die Vermengung von Religion und Politik dazu beiträgt, jahrhundertealte Feindschaften zu beleben und in die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens hineinzutragen.

Mein Anliegen als Autorin ist es, mit diesem Buch zu informieren und darüber hinaus Denkanstöße für differenziertere Betrachtungsweisen zu den politischen Entwicklungen in der Region zu geben. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann wie so oft bei politischen Sachbüchern nicht erhoben werden. Vielmehr soll übersichtsartig eine politische und religionsgeschichtliche Spurensuche Anhaltspunkte zu den Ursachen dieses Glaubenskonflikts liefern – eines Konflikts, bei dem es letztlich um viel mehr geht als um Religion.

Nicht zuletzt möchte ich dem Promedia Verlag für die Möglichkeit danken, dieses Buchprojekt zu verwirklichen, wie auch für die Geduld, die mir im Arbeitsprozess entgegengebracht wurde.

Tyma Kraitt,
Wien, im Februar 2019

1. Hegemonialkonflikt oder Glaubenskrieg?

Ein tiefer Zwiespalt existiert im Nahen und Mittleren Osten. Nicht selten wird er als Mutter aller dortigen Konflikte präsentiert, von denen es so einige gibt. Gemeint ist der Gegensatz von Sunna und Schia. Dieser ist weit über ein Jahrtausend alt und dennoch seit geraumer Zeit wieder in aller Munde, insbesondere in den Mündern unzähliger internationaler Berichterstatter und Analysten. Die religiösen Vorzeichen lassen sich realpolitisch auf die zwei gegensätzlichen Pole, Saudi-Arabien und Iran, sowie deren Machtkampf um regionale Vorherrschaft in der Region übertragen. Auf der einen Seite der Bruchlinie steht das wahhabitische Königreich Saudi-Arabien als Anführer der großen Mehrheit von fast 90 Prozent Sunniten1 weltweit und auf der gegenüberliegenden Seite die Islamische Republik Iran als dessen Herausforderin und Schutzmacht der Minderheit der Schiiten. Doch ohne selbst eine Essenzialisierung dieses Gegensatzes herbeischreiben zu wollen: Kann die Krise im Herzen der islamischen Welt tatsächlich, wie es von manchen Kritikern gefordert wird, nur auf Grundlage sozioökonomischer oder geopolitischer Betrachtungen erklärt werden, ohne den Faktor Religion zu berücksichtigen? Kann solch ein Reduktionismus schlüssige und kohärente Antworten auf die Frage nach den Ursachen der verheerenden Gewaltspirale in der Region liefern? Wohl kaum, denn es steht nun einmal außer Zweifel, dass sich die jüngeren militärischen Auseinandersetzungen in diesem Teil der Welt entlang konfessioneller Linien bewegen. Es soll deswegen in diesem Buch nicht darum gehen, die Rolle von Religion und religiös bedingten Ressentiments zu negieren, sondern sie zu kontextualisieren.

Aus regionalpolitischer Sicht ist es die Feindschaft zwischen Teheran und Riad, die Zwietracht in der arabischen bzw. islamischen Welt sät. Auf lokaler oder staatlicher Ebene sind es jedoch die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche selbst, die Unzufriedenheit, Krise und Gewalt begünstigen. Dass es im letzten Jahrzehnt in Ländern wie Bahrain, Jemen, Irak oder Syrien zu einer starken Verflechtung von regionalen und nationalen Loyalitäten gekommen ist, liegt zum einen daran, dass die beiden großen Regionalmächte am Persischen Golf ihren Konkurrenzkampf stellvertretend in diesen fragilen Staaten ausfechten lassen. Weshalb dies überhaupt möglich ist, liegt schlicht und einfach an der Verfassung der betroffenen Länder selbst. Haben wir es doch mit konfessionell gemischten Staaten zu tun, mit teilweise mehrheitlicher oder relevanter schiitischer Bevölkerung. Die Schiiten können beispielsweise als Minderheit tonangebend sein, wie etwa die Alawiten in Syrien, oder als Mehrheitsbevölkerung unterdrückt und vom Machtzentrum ausgeschlossen sein, wie in Bahrain oder bis zum Jahre 2003 im Irak. So unterschiedlich die gesellschaftliche und politische Stellung von Sunniten und Schiiten in solch gemischt-konfessionellen Staaten auch sein mag, sie weist auf eine wesentliche Problematik hin: Häufig geht die soziale und politische Ausgrenzung mit einer religiösen Diskriminierung einher. Dass sich in welcher Form auch immer benachteiligte Gruppen in den Schutz einer ausländischen Macht begeben, hat gerade im arabischen Raum lange Tradition – man denke hier nur an die christlichen Maroniten des Libanon, welche seit dem 19. Jahrhundert politischen Rückhalt von Frankreich erhalten.

Nun ist es seit dem Jahr 2011 längst nicht mehr ein »zu viel« an west­lichem Engagement, das politischen Eliten in führenden muslimisch-sunnitischen Staaten Sorge bereitet, sondern ein »zu wenig«. Etwa in Hinblick auf den syrischen Bürgerkrieg, wo die Türkei und das Golfemirat Katar lange Zeit für einen Militäreinsatz zum Zwecke eines Regimewechsels in Damaskus eintraten. Oder wenn die Golfstaaten unter Führung Saudi-Arabiens vom Westen eine härtere Gangart gegenüber Teheran fordern und Appeasementpolitik gegenüber dem Iran ablehnen, teilweise sogar aktiv unterminieren.

Doch woher rührt die Furcht vor der Islamischen Republik genau? Dies lässt sich nicht in wenigen Sätzen beantworten, zu viele historische, politische wie ideologische Aspekte fließen hier ineinander. Einerseits haben wir es mit einer Furcht der sunnitischen Eliten vor Teilen ihrer eigenen Bevölkerung zu tun. Andererseits stehen die Golfstaaten und das mit ihnen verbündete Jordanien für eine geopolitische Ordnung, die, wie der Arabische Frühling illustrierte, langsam ins Wanken gerät und sich als solche nun bedroht fühlt.

Ein schiitischer Halbmond steigt empor

Es war Jordaniens König Abdullah, der als erster im Jahr 2004 den »schiitischen Halbmond« erwähnte.2 Die Warnung des Monarchen kam nicht grundlos. Nur ein Jahr zuvor hatten die Vereinigten Staaten und deren Verbündete den Feldzug gegen den Irak begonnen. Mit dem Sturz von Saddam Hussein und dem Versagen der westlichen Besatzungsmächte, das Land zu stabilisieren, betrat der Iran das irakische Feld – dank guter Beziehungen zu politisch-schiitischen Oppositionsgruppen, die vom Exil ins Zentrum der politischen Macht in Bagdad gehievt wurden. Ein Umstand, den diese Gruppen zweifelsohne Washington zu verdanken hatten, dies aber mit einer Loyalität zur Islamischen Republik erwiderten. Damit veränderte sich jedoch das Machtgefüge in der gesamten Region. Der Iran stieg zu einem Player auf, den man am Golf nicht mehr so ohne Weiteres die kalte Schulter zeigen konnte.

Doch was hat es nun mit diesem Schreckgespenst, dieser Achse von Beirut zur Golfregion auf sich? Der Begriff des schiitischen Halbmonds bezieht sich zuallererst auf eine rein geografische Achse, die jene Länder verbindet, in denen Schiiten eine Mehrheit stellen oder einen signifikanten Anteil der Bevölkerung ausmachen – streng genommen nur Iran, Irak, Aserbaidschan und Bahrain. In der Regel werden auch der Libanon mit rund 40 Prozent Anteil der SchiitInnen an der Bevölkerung und Jemen, wo die Gruppe der ZaiditInnen (ein eigenständiger Zweig innerhalb der Schia) ebenso um die 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, dazugezählt.3 Zieht man auf einer Karte Verbindungslinien zwischen diesen Staaten, so entsteht eine Sichel. Diese schwillt zum Halbmond an, je mehr muslimische Länder mit kleineren schiitischen (unter 30 Prozent) oder schiitisch-inspirierten Minderheiten dazu gezählt werden. Das wären Afghanistan, Pakistan, Kuwait, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate sowie die Türkei mit rund 20 Prozent Aleviten und Syrien mit etwa 15 Prozent Alawiten.

Iran–Irak–Syrien: Eine strategische Achse entsteht

Aus dieser Gesamtheit von Ländern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, lässt sich allerdings noch keine strategische wie ideologische Achse ableiten. Jedoch kann bei bestimmten Staaten oder politischen Parteien eine politische Nähe oder Annäherung festgemacht werden. Als Drehpunkt fungiert hierbei der Iran mit seinen knapp über 80 Millionen Einwohnern, von denen rund 92 Prozent Schiiten sind. Auf die potenzielle Gefahr einer iranischen Vorbildwirkung, etwa indem andere Staaten mit relevantem schiitischen Bevölkerungsanteil ein ähnliches politisches Staatsmodell anstreben könnten, wird seit der Machtübernahme der Mullahs im Jahre 1979 vermehrt hingewiesen – ob von amerikanischer oder arabischer Seite. Damit geht nicht nur die Angst sunnitischer Eliten vor einem Machtverlust einher, sondern auch vor antiwestlichen Akteuren im Nahen Osten. Denn ungeachtet des Antiamerikanismus der arabischen Straßen hat sich ein Großteil der politischen Führer und Eliten ab den 1970er-Jahren verstärkt dem Westen zugewandt. So z.B. die Mehrheit der Golfstaaten, Jordanien, Ägypten oder der Irak. Und gerade Letzterem gelang es durch das Schüren der Ängste vor einem schiitisch-islamistischen Vormarsch eine breite Unterstützerfront für einen Feldzug gegen den Nachbarn Iran zu gewinnen. Im Jahre 1980 wurde dieser Krieg von Saddam Hussein losgetreten. Der irakische Autokrat hatte zuvor jegliche weltliche Opposition ausgeschaltet und fürchtete nun selbst das Aufbegehren der religiösen-schiitischen Kräfte im eigenen Land. Doch der langwierige und grausame Krieg gegen den Iran, mit hohen menschlichen Verlusten auf beiden Seiten (Schätzungen belaufen sich auf bis zu eine Million Tote), sollte Saddam Hussein nicht recht geben. Die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak blieb ihrem Staat gegenüber loyal und wechselte nicht auf die Seite Teherans.

Der gemeinsame Glaube konnte Schiiten damals nicht einen. Dies änderte sich jedoch mit der US-Militärinvasion des Irak im Jahr 2003. Wie bereits angedeutet konnte der Iran dank seiner guten Kontakte zu Teilen der irakischen Opposition zusehends an Einfluss im Irak der Post-Saddam-Ära gewinnen. Das trifft im besonderen Maße auf die schiitische Daawa-Partei zu, deren Anhänger wegen der Verfolgung durch das Bagdader Regime zwei Jahrzehnte zuvor schon von Teheran aufgenommen worden waren.4

Neben dem Irak stieg auch die Bedeutung Syriens als strategischer Partner für den Iran. Ausschlaggebend war die härtere Gangart Washingtons nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Beide Länder wurden als Förderer des »islamischen Terrors« geächtet und vor allem von westlichen Staaten isoliert. Konkret ging es um die Unterstützung von Gruppen wie der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah. Dies hatte zur Folge, dass sich beide Staaten bedroht fühlten, was sich aufgrund des amerikanischen Feldzuges gegen den gemeinsamen Nachbarn Irak verstärkte. Die syrisch-iranischen Beziehungen waren auch in der Vergangenheit relativ stabil gewesen, wenn auch nicht widerspruchsfrei.

Insgesamt mag Syriens Allianz mit Teheran auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Die Führung in Damaskus – ob nun unter Hafiz al-Assad oder seinem Sohn Baschar – beanspruchte für sich stets, eine säkulare, modernistische Agenda zu vertreten und bekämpft(e) im eigenen Lande politisch-islamische Gruppen, so z.B. die Muslimbruderschaft in den 1980er-Jahren. Trotzdem war Syrien der einzige arabische Staat, der im ersten Golfkrieg ab 1980 die junge Islamische Republik Iran unterstützte. Und dies, obwohl in Bagdad wie in Damaskus Baath-Parteien regierten. Paradoxerweise war die ideologische Nähe hierbei eher der Grund für eine Fehde zwischen Syrien und Irak, die beide dem panarabischen Gedanken des Baathismus verhaftet um die Führungsrolle in der arabischen Welt buhlten. Aus dieser Konkurrenz heraus erklärt sich die proiranische Haltung von Hafiz al-Assad.

Das Verhältnis der beiden regionalen Außenseiter Syrien und Iran war aber, wie erwähnt, nicht frei von Konflikten. So unterstützten beide Länder während des libanesischen Bürgerkrieges gegnerische schiitische Fraktionen. Teheran setzte auf die neugegründete Hisbollah, die das iranische Revolutionsmodell in den Libanon importieren wollte. Damaskus unterstützte indes die Amal-Bewegung, die zwar die schiitische Bevölkerung vertrat, aber keine umstürzlerischen Ambitionen hegte und nicht für die Errichtung eines islamischen Staates eintrat. Syriens Libanonpolitik war stets opportunistisch und von der Prämisse geleitet, wie die eigene Vormachtstellung im kleinen Nachbarstaat auf Dauer gesichert werden könne. Aus diesem Grund ging Damaskus seit dem militärischen Einmarsch im Jahre 1976 eine Reihe unterschiedlicher und wechselnder Bündnisse ein. Wenig verwunderlich also, dass mit dem Aufstieg der Hisbollah zu einer der wichtigsten Gruppierungen im Libanon sie auch für Assad Senior interessant wurde. Womit sich wieder ein Schnittpunkt für eine syrisch-iranische Kooperation ergab.

Letztlich ist die Kontinuität dieser ungewöhnlichen Partnerschaft unter anderem auf einen gemeinsamen Gegner zurückzuführen, nämlich Israel. Damaskus nahm in Bezug auf Israel zwar eine deutlich pragmatischere Haltung ein als Teheran und legte auch immer wieder Gesprächsbereitschaft an den Tag. Syriens Teilnahme an der Friedenskonferenz in Madrid 1991 sowie spätere Verhandlungen über die Rückgabe der Golanhöhen mit Israel wurden von iranischer Seite mit Argwohn betrachtet. Ihr endgültiges Scheitern im Jahre 2000 festigte allerdings die Verbindung zwischen Teheran und Damaskus, die sich spätestens mit Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges und der Teilnahme der libanesischen Hisbollah daran in ein militärisch-strategisches Bündnis verwandeln sollte.

Die Islamische Republik gewann nicht zuletzt dank ihres militärischen Engagements in Syrien und im Irak aufseiten der schiitischen Volksmobilisierungseinheiten gegen den Islamischen Staat an Terrain. Sie konnte ihr Einfluss- und Rückzugsgebiet ausdehnen und dieses mit Verbündeten besetzen. Die sogenannten Volksmobilisierungseinheiten im Irak sind hierfür ein aktuelles Beispiel. Ihr Führer Hadi al-Amri zählt sich zu einem der Gewinner der irakischen Parlamentswahlen im Mai 2018 und ist dadurch politisch wie militärisch in der Lage, die Interessen Teherans sicherzustellen. Genügend Beispiele finden sich auch in Syrien, wo zusätzlich zum Assad-Regime eine Reihe lokaler Milizen Teheran die Treue halten.5

Es mag eine Detailfrage sein, ob man auf einen verallgemeinernden Begriff wie den schiitischen Halbmond zurückzugreifen möchte – eine vom Iran angeführte politische und strategische Achse ist Realität. Und in diesem Kontext auch die Entstehung einer strategischen Landbrücke für den Waffenexport von Teheran bis nach Beirut. Dennoch sollte der Fehler vermieden werden, diese Allianz rein ideologisch zu interpretieren. Die einzigen Akteure, die in ihrer ideologischen Ausrichtung geeint scheinen, sind der Iran und die Hisbollah im Libanon (sowie Teile innerhalb der irakischen Volksmobilisierungseinheiten).

Schiitische Minderheiten in Bedrängnis

Mit den politischen Umbrüchen des Arabischen Frühlings und dem Chaos infolge der neuen militärischen Konflikte stiegen Teherans Einfluss und Ambitionen im Nahen und Mittleren Osten. In Bahrain demonstrieren Schiiten gegen das sunnitische Herrscherhaus und gegen die soziale Benachteiligung. In Saudi-Arabien gingen die Schiiten in der Provinz asch-Scharqiyya, dem wichtigen Erdölzentrum, auf die Straße, aus Frust über die politische Unfreiheit im Königreich sowie die religiöse Diskriminierung durch das wahhabitische Establishment. Riad reagierte mit äußerster Härte und erstickte den Protest mehr oder weniger im Keim. Abseits medialer Berichterstattung wurden ganze Ortschaften, wie etwa die Hafenstadt Qatif, belagert und der prominenteste Führer dieser Bewegung, der Geistliche Nimr an-Nimr, gemeinsam mit 46 anderen Oppositionellen Anfang 2016 hingerichtet.6 Ein Neffe an-Nimrs, Ali Muhammed Baqir, sitzt bis heute in der Todeszelle, da er im Alter von 17 Jahren an einer Regime-kritischen Demonstration teilnahm. Ihm droht laut Menschenrechtsorganisationen die Kreuzigung.7 Iran verurteilte die Hinrichtung Nimr an-Nimrs und versuchte sie propagandistisch zu nutzen. Ein fadenscheiniges Vorgehen, zumal die Islamische Republik in der Verfolgung von Oppositionellen selbst nicht sehr zimperlich ist. Davon abgesehen war die von an-Nimr angeführte Bürgerrechtsbewegung in Saudi-Arabien stark vom Geiste der Arabellion und demokratiepolitischen Aspirationen getrieben und nicht von schiitisch-islamistischen Ideen.8 Diese Vereinnahmung an-Nimrs stellte daher ein willkommenes Geschenk an das saudische Establishment dar, das vermehrt auf das Schreckgespenst des schiitischen Halbmonds setzt, um seine Bürger zu unterdrücken.

Neben innenpolitischen Unsicherheiten fürchtet Riad den wachsenden Einfluss Teherans im Süden der arabischen Halbinsel, im Jemen. Denn hier, nahe der saudischen Grenze, führten die zaiditischen Huthis 2014 einen Aufstand gegen die Regierung in Sanaa an. Hintergrund war die Untätigkeit der Politik gegenüber dem Al-Qaida-Terror und den sozialen Missständen im Armenhaus der arabischen Welt. Im Herbst desselben Jahres eskalierte die Situation, bewaffnete Huthi-Rebellen drangen in die Hauptstadt vor und setzten die gesamte Regierung und den Präsidenten Abed Rabbo Mansour Hadi unter Hausarrest. Dies war der Auftakt eines breiten Eroberungszuges. Anfang 2015 hatten die Rebellen beinahe schon die Hälfte aller jemenitischen Provinzen unter ihre Kontrolle gebracht.9 Der Präsident trat zurück und flüchtete in die Stadt Aden, wo eine Gegenregierung, unterstützt von den Staaten des Golfkooperationsrates, installiert wurde.10

Unter der Führung Saudi-Arabiens kam es am 26. März 2015 zu einem groß angelegten und bis heute andauernden Militärschlag gegen die Huthis, der den Jemen zum weltweit größten humanitären Katastrophengebiet machte. Einerseits betrachteten die Machthaber in Riad ihren jemenitischen Nachbarn immerzu als Hinterhof, andererseits fürchteten sie die Nähe der Huthis zu Teheran. Vor einer solchen Allianz warnte der US-Geheimdienst CIA bereits im Jahre 2012.11 Spätestens seit der saudisch geführten Militärintervention ist die Existenz einer solchen Verbindung unbestritten. Streitbar ist jedoch die Frage, ob Teherans Arm auch lang genug ist, um die widerständigen Huthi-Rebellen längerfristig im Griff zu halten.

Machtstreben am Golf

Was mögen nun die Beweggründe Teherans sein, die regionale Ordnung herauszufordern? Zunächst einmal handelt es sich um eine Ordnung, die den Iran zum Außenseiter macht. Ein Gefühl des Zu-Kurz-Kommens wird verstärkt durch die Größe der Islamischen Republik und ihre historische Bedeutung als einstiges persisches Großreich. All diese Aspekte spielen sicher auch eine Rolle für das iranische Nuklearprogramm, das bereits unter Schah Reza Pahlavi seit 1974 verfolgt wurde. Die eben genannten Gesichtspunkte mögen zwar eher ein subjektives Empfinden iranischer Eliten darstellen. Sie gründen aber auf eine unbestrittene Ablehnung führender Golfstaaten. Denn während der Iran als größter Anrainerstaat am Golf gerne mehr Mitbestimmungsrecht etwa in sicherheitspolitischen oder handelspolitischen Angelegenheiten hätte, wird er von arabischer Seite stets abgewiesen.12 Der politische Hintergrund ist leicht zu identifizieren. Mit der Islamischen Revolution und dem Sturz des prowestlichen Schah-Regimes 1979 wandte sich Teheran von den mit den USA verbündeten Staaten in der Region ab. Dies galt besonders für das Königreich Saudi-Arabien, das in den Augen der iranischen Revolutionäre jenes Machtgefüge verkörperte, das sie im eigenen Land gerade erfolgreich bekämpft hatten.

Die Ressentiments beider Länder gegeneinander beschränken sich jedoch nicht allein auf das politische Verhältnis zu Washington. Vielmehr werden sie noch von ökonomischen Zerwürfnissen begleitet, die sich konkret auf die Frage des Erdölpreises beziehen. Riad steht für eine gemäßigte Preispolitik, die einem stabilen Verhältnis zu westlichen Staaten zugutekommt. Dies ist sicherlich mit ein Grund, weshalb die prekäre Menschenrechtslage in Saudi-Arabien in den USA und Europa meist weniger die Gemüter erhitzt als jene in anderen autoritär geführten Staaten. Ebenso verhallen die Rufe nach einem Waffenembargo gegen Riad, trotz dokumentierter Kriegsverbrechen im Jemen. Der Iran trat wiederum seit den 1980er-Jahren stärker für eine Erhöhung des Erdölpreises ein, konnte sich aber nie gegen die saudische Dominanz in der OPEC, der Organisation erdölexportierender Länder, durchsetzen. Aktuell tendiert der Iran eher dazu, sein Erdöl de facto zu verschleudern. Willige Abnehmer finden sich unter anderem im ressourcenhungrigen ostasiatischen Raum.13 Eine Chance für den von westlicher Sanktionspolitik, sinkenden Öleinnahmen und einer Inflationsrate von 24 Prozent im Jahr 201814 schwer geplagten Iran – der sich obendrein ein sündhaft teures militärisches Abenteuer in Syrien leistet. Dass die jüngste Preisschlacht den wirtschaftlich auch angeschlagenen saudischen Riesen ein wenig in Bedrängnis bringt, liegt auf der Hand, bezwingen kann er ihn damit trotzdem nicht.

Im Kern sind die fragilen Nachbarschaftsverhältnisse am Golf auch auf ein junges historisches Erbe zurückzuführen, die territorialen Dispute. Diese haben ihre historischen Wurzeln meist in den Grenzziehungen durch die europäischen Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg. Insbesondere das Engagement Großbritanniens während des 19. und 20. Jahrhunderts hat diesbezüglich viel Konfliktpotenzial hinterlassen. Zu nennen sind etwa die Grenzstreitigkeiten zwischen Iran und Irak, Irak und Kuwait, Kuwait und Saudi-Arabien und Saudi-Arabien und Katar.15 Bekanntlich mündeten einige dieser Streitigkeiten in der Vergangenheit schon in militärische Konfrontationen.

Im Zusammenhang mit dem Iran sind zwei weitere Konfliktfelder hervorzuheben: Zum einen hegte der Iran einen historischen Herrschaftsanspruch über Bahrain, der allerdings vom Schah aufgegeben wurde. Aber mit den iranischen Solidaritätsbekundungen an die bahrainische Protestbewegung von 2011 wurde das Misstrauen der Eliten auf dem Golf geweckt – ein Misstrauen hinsichtlich der eigentlichen Intentionen Teherans. Zum anderen sorgt Irans Übernahme der Insel Abu Musa sowie der beiden Tunb-Inseln nach Abzug der Briten im Jahre 1971 noch immer für große Verstimmung am Persischen Golf. Der Golf-Kooperationsrat unterstützt die Besitzansprüche der Vereinigten Arabischen Emirate, die in diesem Zusammenhang von einer iranischen »Besatzung« der Inseln sprechen. Der Disput flackert zwar nur im Hintergrund, doch potenziell eskalierend könnte eines Tages der Umstand sein, dass hier weitere Erdölvorkommen vermutet werden.

Der Faktor Religion

So sieht sich die Islamische Republik Iran in der Defensive und rechtfertigt die eigene Außenpolitik mit einem feindseligen regionalen Umfeld. Bis zu einem gewissen Grade mag dies sogar nachvollziehbar sein. Jedoch schürt Teheran diese Feindseligkeiten auch durch die eigenen Interventionen im arabischen Raum. Diese mögen zwar nicht mehr vom Wunsch des Revolutionsexports getragen sein, liefern dem Rivalen in Riad aber eine Legitimation für dessen härtere Gangart. All dies begünstigt die starke Polarisierung in der Region.

Doch was haben diese Entwicklungen eigentlich mit Religion zu tun? Mutet die Interpretation dieses Konflikts als Fortsetzung des uralten religiösen Gegensatzes von Sunniten und Schiiten nicht wie an den Haaren herbeigezogen an? Überzogen vielleicht, jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass beide Mächte stark auf religiöse Symboliken setzen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da es sich ja bei beiden um von religiösen Bewegungen dominierte Staaten handelt. Der Iran als schiitisches Land fühlt sich nicht nur durch das Erstarken militant-salafistischer (teilweise mit Golfstaaten affiliierten) Bewegungen in seiner Existenz bedroht. Auch der Wahhabismus, eine puritanische Richtung des sunnitischen Islam und die religiöse Staatsdoktrin Saudi-Arabiens, ist seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert der Schia durchwegs feindlich gesinnt. Es ist die Verflechtung von Religion und Politik auf beiden Seiten, welche eine konfessionelle Feindschaft in der Region vorantreibt. Die Wunden des islamischen Schismas bleiben daher offen.

1 Sunniten machen weltweit ca. 85 bis 90 Prozent aller Muslime aus. Ende, Werner/Steinbach, Udo (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, 5. Auflage, München: C. H. Beck 2005, S. 70.

2 Barzegar, Kayhan: Iran and The Shiite Crescent: Myths and Realities, in: The Brown Journal of World Affairs, Volume XV, Issue I, Providence RI: published by Brown Univ. 2008, S. 87.

3 Eine Ausnahme stellt das Sultanat Oman dar, dessen Staatsreligion der Islam ist und wo 75 Prozent der Bevölkerung den Ibaditen angehören, einer islamischen Strömung, die sich weder zur Sunna noch Schia zählt. Außenpolitisch teilt das Sultanat nicht die antiiranische Haltung seiner Nachbarn und pflegt gute diplomatische und ökonomische Beziehungen zu Teheran.

4 Ismael, Tareq Y./Ismael Jacqueline S.: Iraq in the Twenty-First Century. Regime change and the making of a failed state. New York: Routledge 2015, S. 98ff.

5 Beispielsweise die proiranischen schiitischen Milizen »Liwaa Assad Allah al-Ghalib fi al-Iraq wa al-Scham« und »Liwa Abu al-Fadhal al-Abbas«.

6 Hashemi, Nader/Postel, Daniel (Ed.): Sectarianization. Mapping the New Politics of the Middle East, New York: Oxford Univ. Press 2017, S. 13

7 www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/amnesty-bericht-saudi-arabien-koepft-und-kreuzigt-13904474.html

8 Hashemi, Nader/Postel, Daniel (2017): S. 36

9 www.spiegel.de

10 Dem Golfkooperationsrat (GCC) gehören folgende Staaten an: Kuwait, Bahrain, Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und Oman.

11 https://in.reuters.com/article/us-yemen-ambassador/u-s-says-iran-active-in-north-south-yemen-report-idINDEE82O06R20120325

12 Ibrahim, Ferhad: Iran und die Arabische Welt, 2004: www.bpb.de

13 www.bloomberg.com

14 Siehe: https://tradingeconomics.com/iran/inflation-cpi

15 Ibrahim, Ferhad (2004)