Peter Hirt- Wirz

Die Besserwisser von außerhalb

Eine fantastische Prognose

Der Autor

Peter Hirt-Wirz war schon immer mit einer ausgeprägten Fantasie gesegnet. Zudem zählten bereits zur Schulzeit die Sprachen zu seinen Lieblingsfächern. Aber in jungen Jahren verwendete er keinen Gedanken darauf, Schriftsteller zu werden, sondern entschied sich für eine »sichere« Ausbildung im kaufmännischen Bereich.

Im Laufe der Zeit entstanden diverse Buchideen, es mangelte jedoch immer an der Zeit, diese umzusetzen. Als Peter Hirt-Wirz in den Ruhestand trat, widmete er sich endlich intensiv dem Schreiben. Sein Erstlingswerk war der Krimi »Die weiße Krähe«, es folgten der Thriller »Der Ferien-Alb-Traum« und ein weiterer Krimi, »Der Kanalreiniger«.

Im neuesten Werk, »Die Besserwisser von außerhalb«, kommt jetzt eine andere Facette des Autors zum Vorschein.

Seine Geschichten sind reine Fiktion, orientieren sich jedoch sehr nahe an der Realität zwischenmenschlicher Beziehungen.

Prolog

Wenn man 100 Experten fragen würde, wie es im Jahre 2100 auf der Erde aussehen könnte, kämen wohl so unterschiedliche Antworten dabei heraus, als ob von 100 verschiedenen erdähnlichen Planeten die Rede wäre. – Es hat mich gereizt, den 100 Expertenmeinungen noch meine absolut wissenschaftsfreie Prognose hinzuzufügen.

Meine Geschichte hat als Ausgangspunkt das Jahr 2100. Von dort aus blicke ich in kurzen Kapiteln abwechselnd vorwärts und rückwärts. Beim Blick zurück arbeite ich auf, was sich auf der Erde in den vergangenen rund 90 Jahren (aus heutiger Sicht also die vergangenen knapp 10 und die kommenden 80 Jahre) so verändert hat. Beim Blick nach vorn konfrontiere ich die Erdbevölkerung unter anderem auch mit Gästen von außerhalb.

Wem das Hin und Herhüpfen zwischen Vergangenheit und Gegenwart Mühe bereitet, kann natürlich auch, zumindest ein Stück weit, erst die geraden und danach die ungeraden Kapitel hintereinander weg lesen. Je näher die Vergangenheit der Gegenwart kommt, desto weniger ist dies jedoch ratsam.

Da meine Version zur Zukunft wissenschaftsfrei ist, konnte ich meiner Fantasie freien Lauf lassen. Die Geschichte kommt abwechslungsweise humoristisch, satirisch oder auch tiefgründiger daher. Ob sich fünfzig oder lediglich zwei Prozent meiner Prognose bewahrheiten werden, wird die Zukunft zeigen.

Kapitel 1

Zeit und Ort des Geschehens: 24. Juli 2100, 9.30 Uhr; Rumsfield, Tennessee, in der Großnation Amerikanien, die sich von Alaska im Norden bis Feuerland im Süden erstreckt. Farmer Alejandro Andujar stürmt wutentbrannt ins Büro von Sheriff Stephen Henderson. In einem Gemisch aus Spanisch und Amerikanisch spricht er höchst erregt von einem seltsamen Diebstahl. Offenbar geht es um ein widerrechtlich abgeerntetes Maisfeld.

»Moment mal, Kollege«, unterbricht der Polizist den Redeschwall des Mannes abrupt, »jetzt gehst du schön brav zurück ins Vorzimmer und lässt dich bei Miss Blueberry registrieren. Vielleicht habe ich dann etwas Zeit für dich, sollte dein Anliegen tatsächlich von Bedeutung sein!«

Wie Millionen andere Mexikaner waren die Vorfahren Alejandros zu einer Zeit illegal in die USA eingewandert, als es zwischen den beiden Staaten noch eine Grenze, ja sogar eine Mauer gab – wenn auch eine sehr kurze. Dass inzwischen alle Bewohner von Nord- und Südamerika der gleichen Nation angehören, vermag jedoch nichts daran zu ändern, dass der Sheriff eine beträchtliche Abneigung gegenüber Latinos verspürt und sie herablassend behandelt.

Nach einer Viertelstunde fliegt die Tür zu Hendersons Büro erneut auf. Wieder versucht Alejandro Andujar, zum Sheriff vorzudringen.

Dieser hält ihn schon an der Tür auf: »Du wartest gefälligst, bis ich dich rufe. Erst muss ich mich mit deiner Akte befassen!«

Mit seinen 1,95 Meter Körpergröße und einem Gewicht von 135 Kilogramm ist Sheriff Henderson eine imposante Erscheinung. Durchtrainiert ist er zwar nicht mehr, aber schon allein aufgrund der Größe seiner Füße verfügt er über eine solide Standfestigkeit. Da die Krankenversicherung schon vor langer Zeit ein Bonus-Malus-System eingeführt hat, muss Henderson wegen seines Übergewichts eine Strafprämie bezahlen, den sogenannten Body-Mass-Index- Zuschlag (BMIZ). Dieser wird ihm aber regelmäßig am Ende des Jahres zurückerstattet, weil er keine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat.

Die Ungeduld des Mexikaners muss mit einer Wartezeit bestraft werden. Der Sheriff holt deshalb ein Truthahnsandwich aus seinem Pult und beginnt genüsslich zu kauen. Der Verzehr von Fleisch ist zwar landesweit verboten, aber wer nicht verzichten will, kann eine Sonderbewilligung einholen. Diese kostet jährlich 500 Pollies – die Einheitswährung von Amerikanien. Gleichzeitig erhebt die Krankenversicherung einen Risikozuschlag von weiteren 500 Pollies. Rauchen ist sogar mit einer so hohen Strafprämie belegt, dass sich nur die Reichen dieses Laster noch leisten können. Die wirklich Reichen.

»So, Kollege, kannst jetzt eintreten!«, erklärt der Sheriff, in der Tür seines Büros stehend. Sogleich muss er mit einem abrupten »Schnauze!« den erneuten Redeschwall seines Besuchers unterbrechen. »Wenn du so drauflos schnatterst, verstehe ich ja kein Wort! Und bevor ich mich mit deinem Anliegen befasse, muss ich da erst noch etwas anderes ansprechen: Ich habe in deine Akte gesehen und frage dich, wie du zu deinen vier Kindern kommst, wo doch lediglich zwei erlaubt sind?«

»Ich habe einen Bruder, der keine Kinder zeugen kann. Ich habe sein Kontingent aufgekauft. Alles ganz legal«, erklärt der Farmer.

»Dieser Kontingente-Markt gehört abgeschafft!«, brummt Henderson. »Und was ist mit deinem Feld?«

Alejandro berichtet, nun wieder mit sich überschlagender Stimme, es sei abgeerntet worden.

»Was? Es ist unmöglich, ein Feld abzuernten, ohne Spuren zu hinterlassen! Ich vermute mal, dass das Feld gar nicht bestellt war, weil du keinen Anbauvertrag abschliessen konntest.«

»Kommen Sie, sehen Sie sich die Sache doch selber an!«, entgegnet der Mexikaner, »die Wurzeln der Maisstängel sind noch vorhanden, der Mais war da. Mir ist die Sache echt unheimlich!«

Sheriff Henderson ist am Abwägen. Etwas neugierig hat ihn der Farmer schon gemacht, andererseits ist er darauf bedacht, jeglichen unnötigen Aufwand zu vermeiden und bei den Mexikanern tendiert er dazu, den Begriff unnötig etwas strenger auszulegen. »Du könntest doch einfach eine Anzeige gegen unbekannt machen und nach einer kleinen Wartezeit wird dir die Versicherung den Schaden ersetzen«, schlägt er deshalb vor.

»Ich habe aber keine Versicherung abgeschlossen, weil das zu teuer ist. Sie müssen den Dieb finden!«

»Das hat man halt davon, wenn man zu hoch pokert. Und die Polizei soll dir jetzt die Kastanien aus dem Feuer holen«, entgegnet Henderson. »Ermittlungen, die nötig werden, weil sich jemand die Versicherung gespart hat, sind kostenpflichtig!« Dann gibt er sich einen Ruck. »Also gut, fahren wir zu deinem Feld! Ich seh’s mir mal an.«

Am Ort des Geschehens angekommen, kauert Henderson nieder, um sich die Wurzeln der Maispflanzen aus der Nähe zu betrachten. Nach einer Weile schüttelt er den Kopf. »Erst wollte ich noch sagen, dass sich wohl jemand die Mühe gemacht hat, das Feld aus der Luft abzuernten, unter Einsatz einer Drohne, aber die Wurzeln sehen aus, als ob die Maisstängel abgefressen worden wären. Das wiederum würde aber bedeuten, dass da Tiere am Werk waren, nicht Menschen. Aber welche Tiere sind in der Lage, ein Feld komplett abzufressen, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen?«

Nachdem er das Feld einmal umrundet hat, erklärt der Sheriff: »Wir stehen hier vor einem Rätsel. Die Ermittlungen dürften sich schwierig gestalten.« Nach einer Weile fügt er mit einem Lächeln hinzu: »Vielleicht waren die federleichten grünen Männchen vom Mars zu Besuch! Von denen wäre dann wohl kaum etwas zu holen!« Farmer Lopez findet diese Bemerkung überhaupt nicht lustig.

Als sich der Sheriff auf dem Rückweg befindet, ist er bereits entschlossen, in der Angelegenheit vorerst abzuwarten. Vielleicht gibt es ja bald einen ähnlichen Vorfall. Dann könnte er sich mit dem dort zuständigen Sheriff abstimmen, was zu tun ist.

Kapitel 2

Im Jahre 2100 herrscht auf der Erde eine komplett andere Ordnung als 90 Jahre davor. Tatsächlich ist der ganze Planet in bloß noch sieben Großnationen aufgeteilt. Es liegt auf der Hand, dass das Tauziehen um Gebiete mit zahlreichen Konflikten verbunden war, aber immerhin kam es zu keinem Flächenbrand im Sinne eines Dritten Weltkrieges. Die Auseinandersetzungen hatten mehr oder weniger lokalen Charakter.

Die sieben verbliebenen Staaten entsprechen weitgehend den Kontinenten:

1. Amerikanien umfasst den gesamten amerikanischen Kontinent einschließlich der anliegenden Inseln und der Karibik.

2. Russien beinhaltet im Wesentlichen das frühere Russland.

3. Chinesien entspricht dem alten China.

4. Südasien erstreckt sich über den ganzen Rest von Asien, mit Ausnahme der fernöstlichen Inselwelt.

5. Afrikanien ist identisch mit dem Kontinent Afrika.

6. Ozeanien besteht aus Australien, Neuseeland und der östlichen Inselwelt einschließlich Japan, Taiwan und der Halbinsel Südkorea.

7. Europien entspricht weitgehend dem alten Europa ohne Russland.

Europien ist mit Absicht an siebter Stelle aufgeführt. Man könnte daraus schließen, dass diese Nation das Letzte ist, na, jedenfalls ist Europien in der neuen Weltordnung ein Sonderfall geblieben: Während die anderen Großnationen alle inneren Grenzen aufgehoben haben und zu einem Staatsgebilde zusammengewachsen sind, ist Europien noch immer ein Staatenbund. Die alten Führungsmächte Deutschland, Frankreich, Großbritannien et cetera waren nicht bereit, ihre eigene Identität aufzugeben, obwohl sie dank Zu- und Abwanderung längst stark durchmischt waren.

Urvater der Bildung von Großnationen war der indische Staatsbürger Mahatma Singh. Er lebte in einer Metropolregion, in der das Gedränge fürchterlich war. Er hatte das Bedürfnis nach dünn besiedeltem Gebiet, wohin man auswandern könnte, um dem unerträglichen Dichte-Stress zu entkommen. Was anfänglich als Wahnsinnsidee eines Spinners abqualifiziert wurde, sollte Jahrzehnte später zur Tatsache werden.

Kapitel 3

20. August 2100 in Paddington, South Carolina, Amerikanien. Der Großgrundbesitzer und Gemüsebaron Charles Miller de Oliviera steuert an der Spitze der Fahrzeugkolonne auf die Parzelle Nr. 12 zu, die wie alle seine Grundstücke genau 20 Hektar groß ist. Gestern noch war er da und hatte sich davon überzeugt, dass die Kopfsalate prächtig gediehen. Mithilfe modernster Maschinen soll das ganze Feld nun in einem Tag abgeerntet und der Salat auf die Trucks verladen werden. Doch der Boss und seine vier mitgefahrenen Assistenten stehen nur mit offenem Mund am Rande des Feldes, denn jemand hat die Ernte bereits eingebracht – nicht ein Salatkopf ist mehr da!

»Bestätigt mir, dass ihr das Gleiche seht wie ich, sonst glaube ich, zu spinnen! Von einem so dreisten Diebstahl habe ich mein ganzes Leben lang noch nie gehört!«

Erst telefoniert Mr. Miller mit seinem Kunden, einem Großhändler, um ihm die Hiobsbotschaft mitzuteilen, dann ist der zuständige Sheriff an der Reihe: »Morgen, Mister Glenford; Sie sollten alles stehen und liegenlassen und auf schnellstem Weg herkommen. Kriegen Sie raus, wie es jemand geschafft hat, über Nacht zwanzig Hektar Kopfsalat zu klauen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.«

»Diebstahl? Verstehe ich das richtig?«, meint der Sheriff ausweichend. »Reicht das nicht am Nachmittag? Ich bin da gerade noch an einer anderen Sache …«

»Im Vergleich zu Ihrem Schreibtischproblemchen ist mein Fall ja wohl bedeutender! Und auch dringender!«, ereifert sich Miller. »Das ist kein Streich oder dergleichen! Zwanzig Hektar! Zwanzig!«

Während der Farmer und seine Mitarbeiter auf die Polizei warten, fangen sie damit an, sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Die Wurzeln der Salatköpfe stecken alle noch in der Erde und es sieht so aus, als ob die Salate abgefressen worden wären. Aber wenn eine Herde über das Feld hergefallen wäre, müssten Spuren sichtbar sein. Zudem hätten Tiere niemals so sorgfältig gearbeitet, dass nirgends auch nur der Teil eines Salatkopfes übrig geblieben ist.

Als Sheriff Glenford eintrifft, empfängt ihn Miller mit der dringenden Aufforderung, ihm eine plausible Erklärung zu liefern. »Andernfalls haben Sie mich auf dem Gewissen, wenn ich in die Klapsmühle eingeliefert werden muss«, fügt er hinzu.

Der Sheriff wandert in Begleitung des Farmers über das Feld. Immer wieder kauert er nieder, um sich die abgefressenen Wurzeln aus der Nähe zu betrachten, und schüttelt nur ungläubig den Kopf.

Als sie sich umdrehen und von der anderen Seite über die Parzelle blicken, fällt beiden auf, dass durch den veränderten Lichteinfall ganz schwache Spuren, eine Art Schleifspuren, zu erkennen sind.

»Also war es wohl doch nicht der Heilige Geist, der hier gefuttert hat, nicht wahr?«, hält Miller fest.

»Ich beauftrage den Spurenerkennungsdienst, sich der Sache anzunehmen«, sagt der Sheriff. »Es ist mir absolut schleierhaft, welche Spezies hier am Werk gewesen sein könnte. Einstweilen nehme ich eine Anzeige gegen unbekannt auf. Wenn Sie die Kulturen versichert haben, dürfte die Gesellschaft auch ohne Weiteres für den Schaden aufkommen. Sollte dann doch noch ein Dieb zum Vorschein kommen, bei dem etwas zurückzuholen ist, wird die Versicherung auf diesen Regress nehmen.«

Bevor sich der Sheriff verabschiedet, kann er es nicht unterlassen, mit einem Schmunzeln darauf hinzuweisen, dass vielleicht endlich die grünen Männchen vom Mars angekommen seien, auf die man in Amerika schon so lange gewartet habe. Miller ist aber eher zum Heulen zumute, die Versicherung wird ihm nicht den vollen Schaden ersetzen, sondern nur den Einheitspreis, ungeachtet der hohen Qualität seiner Salatköpfe.

Die Spurensicherung kann sich absolut keinen Reim darauf machen, wer die schwachen Schleifspuren hinterlassen hat. Im Bericht steht unter Ergebnis: »Die festgestellten Spuren konnten nicht zugeordnet werden.«

Der Sheriff beschließt daraufhin, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Er fürchtet vor allem den Aufwand, wenn die Sache an die Öffentlichkeit gelangen würde. Glücklicherweise sieht es der Gemüsebaron Miller genauso. Also landet der Fall einstweilen in der elektronischen Schublade.

Kapitel 4

Der Inder Mahatma Singh war schon im Alter von 26 Jahren extrem übergewichtig, zurückzuführen war das auf eine Krankheit. Im dichten Gedränge der Agglomeration Mumbai, der Megastadt, in der er wohnte und arbeitete, konnte er sich wegen seines Bauchumfanges manchmal kaum vorwärtsbewegen. Dabei fühlte er sich ständig schuldig, dass er nach allen Seiten mit den Mitmenschen zusammenstieß. Weil er ein überaus freundlicher und netter Mensch war, bat er unaufhörlich um Verzeihung für die ungewollten Körperkontakte. Und wenn er sich nachts ins Bett legte, entschuldigter er sich sogleich noch bei seiner charmanten und schlanken Partnerin dafür, dass er drei Viertel der Doppelbettbreite für sich beanspruchte.

Mr. Singh war Architekt von Beruf und bei der Stadt Mumbai angestellt. Er war damit beauftragt, nach neuen, auch revolutionären Wohnformen zu forschen, weil es nicht genug Wohnraum für die riesigen Volksmassen gab. In Indien kannte man keine gesetzliche Geburtenbeschränkung und folglich wuchs die Bevölkerung unverdrossen weiter an.

Als gebildeter Mensch wusste Mr. Singh gut Bescheid darüber, wie stark die Bevölkerungsdichte über die ganze Erde hinweg von Region zu Region schwankte. Er träumte davon, in einem Land leben zu dürfen, wo der nächste Nachbar so weit entfernt wohnte, dass man seine Behausung mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen vermochte. Schon länger war in seinem Schädel eine Idee am reifen: Man sollte damit anfangen, lästige Barrieren wie die Landesgrenzen abzubauen, damit die Menschheit die Möglichkeit bekäme, in dünner besiedelte Gebiete zu ziehen. Er war sich bewusst, dass seine Idee von Brisanz war, deshalb behielt er sie lange Zeit für sich.

Es war im Jahr 2022, als Mr. Singh die Flucht nach vorne antrat, indem er seine Idee in der Lokalpresse veröffentlichte. Es sollte einfach ein Versuchsballon sein. Er wollte abwarten, wie die Reaktionen ausfielen. Dass das Echo bescheiden war, hatte einen Grund: Im gleichen Jahr fand erstmals eine Fußballweltmeisterschaft im Winter statt, weil es in den Emiraten im Sommer zu heiß war. Das Thema Fußball wiederum war in den Medien so dominierend, dass alles andere etwas unterging.

Die meisten der wenigen Leserreaktionen auf den Artikel waren skeptisch bis negativ. Aber vier Leute nahmen mit Mr. Singh Kontakt auf, weil sie die Idee interessant fanden.

Ermutigt durch den kleinen Erfolg, ließ er den Artikel in einer der bedeutendsten elektronischen Zeitungen Indiens erscheinen. Damit stach er förmlich in ein Wespennest. Unter den überwiegend kritischen Stimmen befanden sich zahlreiche Politiker, die den Warnfinger erhoben. Schnell könnte Indien beschuldigt werden, Imperialismus betreiben zu wollen, was zwangsläufig zu Spannungen mit den Nachbarstaaten führen würde. Zehn Leser des Artikels traten aber mit Mr. Singh in Kontakt und waren der Meinung, dass man die Idee weiterverfolgen sollte. Mit ihm selber kamen jetzt immerhin 15 Personen zusammen, die das Projekt weiterverfolgen wollten. Er lud zu einem persönlichen Treffen, aus dem die Gründung eines Vereins resultierte. Dieser bekam den etwas umfangreichen Namen Bündnis für den Frieden ohne Grenzen. Mr. Singh wurde erster Präsident.

In vielen Ländern, die Indien umgaben, herrschten Krieg und Terror. Mr. Singh und seinen Mitstreitern war klar, dass es ein langer und beschwerlicher Weg werden würde, bis man über die Abschaffung von Landesgrenzen diskutieren konnte. Unterschiedliche Völker und Kulturen müssten erst lernen, sich vorurteilsfrei zu begegnen und als Nachbarn zu akzeptieren oder gar zu schätzen. Das Wort Frieden im Vereinsnamen würde am meisten Bedeutung haben. Wenn es nicht gelang, die zahlreichen Konfliktregionen zu befrieden, war nicht daran zu denken, auch bloß eine Landesgrenze abzuschaffen. Für den Verein war es vorteilhaft, dass er bald im Volksmund einfach als Friedensbewegung wahrgenommen wurde. Das Abschaffen von Landesgrenzen war vorerst weit in den Hintergrund gerückt.

Nach Anfangsschwierigkeiten erfuhr die Friedensbewegung gegen Ende des Jahres 2022 einen rasanten Mitgliederzuwachs. Mitte des Jahres 2023 war der Verein so bedeutsam, dass Mr. Singh ständig gegenüber politischen Parteien Auskunft erteilen musste. Diese Gelegenheiten nutzte er geschickt, um ganz vorsichtig seine wahre Idee einzubringen: die Schaffung eines riesigen asiatischen Wirtschaftsraumes ohne Landesgrenzen. Dabei durfte eine künftige Großnation unter keinen Umständen Indien heißen, weil man sonst zwangsläufig des Imperialismus bezichtigt würde.

Die Reaktionen der politischen Parteien fielen unterschiedlich aus. Aber bald kam das anfängliche Kopfschütteln über die Schnapsidee zum Erliegen. Anfang 2024 wurden Mr. Singh und eine Delegation des Vereins von der indischen Regierung zu einem Meeting eingeladen. Es war offensichtlich, dass der Regierung wegen der Überbevölkerung das Wasser bis zum Hals stand. Die Idee einer Großnation wurde zur Chefsache erklärt und Mr. Sing heuerte kurz darauf bei der Regierung als Berater an.

Die politische Opposition Indiens witterte Morgenluft für einen baldigen Sturz der Regierung, indem sie im Ausland das Gerücht verbreitete, die regierende Partei treffe Vorbereitungen zur Schaffung eines großindischen Staates. Es hagelte Protestnoten sowohl von den umliegenden Staaten als auch den Großmächten Russland und China. Obwohl die Regierung mit einer breit angelegten Diplomatie-Offensive die Idee einer Großnation ins richtige Licht zu rücken versuchte, blieb das Misstrauen im Ausland groß.

In der Regierung bestand Skepsis, ob sich das Projekt jemals realisieren ließe, aber man war entschlossen, dran zu bleiben.

Zum Sturz der Regierung kam es nicht. Stattdessen stand die Opposition wegen ihres Vorgehens im Volk massiv in der Kritik und büßte wesentlich an Einfluss ein.

Kapitel 5

6. September 2100; Sombrero Valley, Kalifornien, Amerikanien.

Die Weinlese ist in vollem Gange. Weinbauer Antonio Valpoli-Cella, dessen Vorfahren aus Italien eingewandert waren, treibt seine Equipe unermüdlich an. Es gilt, das schöne Wetter zu nutzen, denn in der Langzeitprognose ist von einem massiven Umschwung die Rede. Die Traubenernte erfolgt mit modernsten Maschinen. Equipen-Chef Antonio Perez versucht dem Boss klarzumachen, dass das Erntetempo nun mal von den Maschinen vorgegeben wird.

Mitten in der Ernteperiode geschieht dann etwas Unheimliches: In der Nacht vom 6. auf den 7. September vollbringen Unbekannte unbemerkt ein ganzes Tagewerk und am Morgen, als der Erntetross eintrifft, sind schon alle Behälter mit Trauben gefüllt. Die Lese ist offensichtlich von Hand erfolgt, denn das Blattwerk der Weinstöcke ist noch vollständig intakt – bei der Arbeit mit Erntemaschinen hingegen sehen die Stöcke hinterher ziemlich mitgenommen aus.

Eigentlich müsste sich Mr. Valpoli über die überraschende Hilfe freuen, aber er ist es gewohnt, dass eine Leistung nicht ohne Gegenleistung erbracht wird. Daher rechnet er damit, dass die Heinzelmännchen sich schon bald bei ihm melden werden.

Doch das Phänomen wiederholt sich sechs Nächte lang, ohne dass sich jemand meldet und Bezahlung verlangt.

Mr. Valpoli fängt an, sich glücklich zu schätzen, denn er ist sich sicher, dass die Ernte dank der unerwarteten Hilfe vor dem Wetterumschwung abgeschlossen werden kann. Soll ihm doch ruhig jemand für die während der Nächte erbrachten Leistung die Rechnung präsentieren!

Eigentlich sind für die restliche Ernte noch zwei Tage eingeplant, aber wenn die geheimnisvolle Nachtequipe wieder aufkreuzt, dauert es wohl nur noch einen. Bei den noch nicht abgeernteten Stöcken handelt sich um die wertvollen Trauben der Sorte Syrah, aus denen das Weingut seinen Top-Wein keltert: Antonio Valpoli 100.

Als am Morgen die Ernteequipe vor Ort eintrifft, sind alle Behälter leer. Die Heinzelmännchen scheinen sich in der siebten Nacht ausgeruht zu haben. Antonio Perez und seine Leute nähern sich den wertvollen Weinstöcken. Dann trifft sie fast der Schlag: Die Trauben sind weg! Die Leute laufen die ganzen Reihen ab, aber nicht eine Traube ist zu finden! Die Ernte ist so sorgfältig erfolgt wie zuvor, bloß sind diesmal die Trauben nicht in den Behältern, sondern spurlos verschwunden!

Antonio Valpoli tobt und macht sich Vorwürfe, dass man die Heimlichernter gewähren ließ, ohne sie zu beobachten. Mit seinem Top-Wein verdient er eine Menge Geld. Der Totalausfall wird ihm rote Zahlen bescheren. Diese Rechnung ist zu hoch! Aber nach einem langen Ernte-Tag fielen er und seine Leute jeweils todmüde ins Bett und hatten keine Energie mehr, um sich nachts noch auf die Lauer zu legen, und mit der Polizei will man so wenig zu tun haben als möglich. Und es war ja alles in Ordnung, wenn man zusätzliche Hilfe bekam, nicht wahr?

Aber jetzt ist es höchste Zeit, die Polizei auf den Plan zu rufen!

Antonio Valpoli spaziert mit Sheriff Dustin Benson den Weinberg entlang. Höchst erregt schildert der Winzer, was sich hier in der zurückliegenden Woche abgespielt hat. Am Ende des Weinberges, wo sich die Syrah-Weinstöcke befinden, bleiben die beiden Männer stehen und schauen sich um.

»Irgendetwas riecht hier fürchterlich!«, sagt der Sheriff plötzlich.

Da steigt der Gestank auch dem Winzer in die Nase. Sie entfernen sich etwas von den Weitstöcken, um plötzlich abrupt stehenzubleiben: Als Quelle des üblen Geruchs entpuppt sich ein höchst eigenartiger Exkremente-Haufen. Haufen ist etwas übertrieben. Es handelt sich um eine fast farblose Lache schleimiger Masse, in der verstreut noch Traubenkerne zu erkennen sind.

»Ich kann mir absolut keinen Reim darauf machen, von welcher Spezies diese Ausscheidungen stammen könnten! Sie?«, ruft der Sheriff aus.

»Keine Ahnung «, meint Valpoli. Sein Hirn arbeitet wie wild. Das hier sieht nicht so aus, als ob Menschen ihre Notdurft verrichtet hätten, aber es können doch keine Tiere gewesen sein, die erst mit großer Sorgfalt Trauben geerntet, sie dann gegessen und schließlich alle zusammen auf denselben Haufen …

»Also mir ist die Sache allmählich unheimlich!«, erklärt der Winzer.

»Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Nationale Sicherheit für diese stinkende Masse interessiert«, meint der Sheriff nach einer Weile.

»Sie denken doch nicht im Ernst an grüne Männchen vom Mars, oder?«, fragt der Winzer ungläubig.

»Ich denke gar nichts«, gibt der Sheriff zur Antwort. »Am besten rufe ich gleich von hier aus an«, fährt er fort. »Die Sache muss vorläufig unter uns bleiben, haben wir uns da verstanden?«

Der Winzer nickt. Er hat kein Interesse daran, dass ihm die Medien sämtliche Türen einrennen.

Kaum hat der Sheriff telefoniert, erfolgt auch schon ein Rückruf. Als das Gespräch zu Ende ist, bestätigt der Polizist, dass ein Helikopter oder eine Drohne in Kürze hier landen wird. Die Leute haben den Auftrag, den Exkremente-Haufen zu bergen. In einem Labor in Los Angeles soll dann die Materie genauer untersucht werden.

Einige Tage später ruft Señor a Alicante von der Nationalen Sicherheit bei Sheriff Benson an. »Ich kann Ihnen nur gratulieren, dass Sie so schnell und richtig gehandelt haben!«, erklärt sie, »der Fund ist von riesiger Bedeutung. Alle bisherigen Tests bestätigen immer das Gleiche: Die Ausscheidungen lassen sich keiner irdischen Spezies zuordnen. Folglich verdichten sich die Vermutungen, dass Besuch von außerhalb da war – vielleicht ja noch ist!«

Der Polizist ist mächtig aufgewühlt und findet keine Worte.

»Sind Sie noch da, Mister Benson?«

Der Sheriff findet seine Sprache wieder: »Doch … ja …«

»Ich wollte bloß noch darauf hinweisen, dass die Sache top secret ist! Haben wir uns da verstanden?« Der Sheriff versichert, dass er schweigen werde wie ein Grab.

Kapitel 6

Als im Jahre 2024 in Indien die Oppositionspartei in die Welt hinausposaunte, dass die Regierungspartei dabei sei, Großmachtallüren zu entwickeln, wurde auch der dunkelhäutige Präsident der USA, Denzel Babington, auf das Gerücht aufmerksam. Er verzichtete jedoch darauf, in das allgemeine Protestgeheul der asiatischen Staaten mit einzustimmen.

Präsident Babington gehörte der demokratischen Partei an. Er hatte den umstrittenen Republikaner Harald Clump abgelöst. Seine erste Amtshandlung bestand darin, den Bau der von Mr. Clump in Auftrag gegebenen Mauer zwischen den USA und Mexiko zu stoppen. Die sich bereits im Bau befindende Mauer sollte dann als die Unvollendete in die Geschichte eingehen.

Die Idee mit der Schaffung einer Großnation ging dem Präsidenten nicht mehr aus dem Kopf. Die USA waren ja bereits ein Land mit riesigen Ausmaßen und dementsprechender Machtfülle, aber Mr. Babington dachte in noch viel größeren Dimensionen. Er träumte bereits von einer amerikanischen Großmacht, die sich über den nördlichen und südlichen Kontinent erstreckte.

Die anderen Kabinettsmitglieder reagierten mehr als skeptisch auf die Idee ihres Präsidenten. Aber dieser hatte bereits beschlossen, mit Abstand mächtigster Staatsmann der Erde zu werden. Amerika würde künftig so stark sein, dass der ganze Rest nach seiner Pfeife zu tanzen hätte. Insbesondere freute er sich schon darauf, jederzeit in der Lage zu sein, den anderen Großmächten Russland und China den Tarif durchzugeben.

Binnen eines Jahres hatte der Präsident sein Kabinett weichgeklopft und alle Mitglieder sicherten ihm ihre uneingeschränkte Unterstützung zu. Aber die große diplomatische Arbeit stand noch bevor: Es galt, behutsam vorzugehen, um das Projekt nicht gleich zu Beginn zu gefährden. Als Erstes streckten die USA ihre Fühler Richtung Kanada aus. Der nördliche Nachbar reagierte überraschend negativ. Es hieß, man habe kein Interesse, künftig der Juniorpartner der übermächtigen USA zu sein. Viel schlimmer für Mr. Babington war aber, dass die Kanadier in alle Welt hinausposaunten, dass sich die USA auf Expansionskurs befänden. Dies rief die Großmächte Russland und China auf den Plan. Sie warfen Babington vor, die Weltherrschaft anzustreben. Die USA sahen sich gezwungen, ihr Projekt vorerst auf Eis zu legen.

Weißen HausThe White HouseLa Casa Blanca

Schließlich musste man sich auch noch auf einen Namen für die künftige Einheitswährung einigen. Während die nordamerikanischen Staaten sich für den Dollar stark machten, kämpften die Südamerikaner für den Peso. Heraus kam ein Kompromiss: Polly – mit dem P des Pesos und dem LL des Dollars.

Per 01.01.2032 wurden sämtliche Landesgrenzen von Alaska bis Feuerland aufgehoben. Die Großnation Amerikanien war geboren. Alle bisherigen Landesregierungen mussten zurücktreten. Es galt, ein neues Kabinett zu bilden. Denzel Babington schwammen dabei die Felle davon. – Er würde nicht erster Präsident von Amerikanien werden.