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SULAIMAN MASOMI (HRSG.)

WIR SIND GEKOMMEN, UM ZU SCHREIBEN

29 GRENZENLOSE TEXTE

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E-Book-Ausgabe Juni 2019

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2019

Cover: Karsten Lampe

Editorische Notiz: Diese Anthologie wurde mit Sorgfalt lektoriert und korrigiert. Die abgedruckten Textfassungen entsprechen den ausdrücklichen Wünschen der Verfasser*innen.

© Audioaufnahmen bei den Verfasser*innen, bzw., wo angegeben, bei Kampf der Künste gGmbH, Hamburg/YouTube-Channel Poetry Slam TV; BB-Slam e.V., Berlin/YouTube-Channel Poetry Slam Berlin/Brandenburg; LMU-Slam, München; woerdz Slam, Luzern; Lektora Verlag, Paderborn. Herzlichen Dank!

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-38-7

INHALT

Vorwort

Kapitel 1 – Fliehkraft

Tanasgol Sabbagh: Von überall her

Zoe Hagen: Ich packe meine Koffer

Dalibor Marković: Prüfung am brennenden Reif

Michel Abdollahi: Ein orientalisches Märchen mit Erläuterungen und Hinweisen zur Lesart

Sulaiman Masomi: Kopf oder Zahl

Kapitel 2 – Fluchtpunkt

Artem Zolotarov: Adoptivsprache (Heimat)

Necip Tokoğlu: polizistenverarschen

Necip Tokoğlu: der mann im schwarzen anzug

Fatima Moumouni: Pathostext

Temye Tesfu: tal gottes

Temye Tesfu: plattenzaun

Aylin Celik: Zwischen den Zeilen (und wie die Gesellschaft dort liest)

Kapitel 3 – Grenzüberschritt

Paul Bokowski: Dicker als Wasser

Andivalent: Merkwürdig

Nikita Gorbunov: Aktionswoche gegen Rassismus

Meral Ziegler: Liebe machen

Ana Ryue: Sekundenwelten

Kapitel 4 – Doppelpass

Henrik Szanto: Futur II und Brustschwimmen

Misha Verollet: In den Fängen des Dr. Wüstling

Yasmin Hafedh: zwischenwelten/warten

Aidin Halimi: Der Bindestrich

Miedya Mahmod: zwei häuser

Ken Yamamoto: 1000 hässliche Tauben

Kapitel 5 – Woherkunft

Dominique Macri: Wir Ihr Sie. Neuzeitindianer

Nektarios Vlachopoulos: Deutschland erwache!

Jaromir Konecny: Rache der Radieschen

Jacinta Nandi: Knoblauch und Karottensalat

Jacinta Nandi: Das magische Wort

Nhi Le: Denk doch mal einer an die Kinder!

Sulaiman Masomi: Ein wahres Lügenmärchen

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

Seit dem Jahr 2003 bin ich aktiv in der Poetry-Slam-Szene.

Ich fahre seitdem kreuz und quer durch die Republik und habe Hunderte großartige Künstler und Künstlerinnen auf und neben den Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum kennengelernt.

Ich bin gebürtiger Afghane, habe schwarze Haare und viele Texte geschrieben, die meinen Migrationshintergrund thematisieren.

Es hat lange gedauert, aber irgendwann bemerkte ich es dann doch: nämlich, dass ich nicht der einzige Künstler mit Migrationshintergrund bin, sondern dass sich eine Vielzahl einzigartiger Künstlerinnen und Künstler mit Migrationshintergrund in der Slamszene tummeln und dass es noch keine Anthologie gibt, welche diese Sprachnomaden in ihrer facettenreichen Virtuosität repräsentiert.

Ich brauchte fünfzehn Jahre, um auf die Idee zu kommen, solch ein Buch herauszugeben, aber ich finde diese späte Erkenntnis auf eine positive Art und Weise auch bezeichnend für die Bedeutung von Herkunft in der Slamszene: Sie spielt nämlich nur eine marginale Rolle.

Der Migrationshintergrund ist nur ein Teil deiner Geschichte, ein Aspekt, der die anderen vielleicht einen Teil von dir verstehen lässt, doch er ist immer seiner Wortbedeutung treu geblieben: Er blieb und bleibt im Hintergrund.

Viel wichtiger sind Merkmale wie deine Persönlichkeit und deine Kunstfertigkeit. Das sind Dinge, die in deinen eigenen Händen liegen und die man deswegen auch bewerten kann.

Wir sind einfach alle Individuen mit verschiedenen Eigenschaften, und unsere Herkunft ist keine davon.

Sie ist eine biografische Fußnote. Eine Fußnote der persönlichen Geschichte jeder einzelnen Künstlerin, jedes einzelnen Künstlers.

Und obwohl ich diese Irrelevanz des Migrationshintergrundes im Poetry Slam immer so bemerkenswert fand, wird sie trotzdem im Falle dieser Anthologie zum vereinenden Element.

Dieses Buch versammelt nämlich namhafte Personen aus der Slamszene mit vielen, fast allen erdenklichen Migrationshintergründen.

Die Forderung nach Integration wird dadurch ad absurdum geführt, dass hier Experten der schreibenden Zunft die deutsche Sprache perfekt beherrschen, aber eine vollständige Vereinnahmung durch eine »wahre« Identität nicht stattfindet.

Dieses Buch spricht nicht eine Sprache und hat nicht eine Stimme, es ist ein Mosaik aus Stimmen und Stimmungen, es ist so vielseitig wie seine Autorinnen und Autoren. Aus den Texten wird sich jede Leserin und jeder Leser sein eigenes Bild zusammenlegen.

Ob Lyrik oder Prosa, ob Geschichten über den Migrationshintergrund oder einfach nur Geschichten von migrierten Menschen: »Wir sind gekommen, um zu schreiben« hatte keine Vorgaben, sondern ist ein grenzenloser Raum, in dem sich die Wörter und Fiktionen in jede Richtung bewegen können.

Dieses Buch hat kein bestimmtes Konzept und keinen wahren Grund, aber es wurde trotzdem Zeit, dass es erscheint.

Sulaiman Masomi

KAPITEL 1

FLIEHKRAFT

Von überall her

Tanasgol Sabbagh

Alles beginnt am Anfang,

bei allen Menschen gleich,

am Nabel der Zeit,

zwischen den Beinen einer Frau: l’Origine du monde,

der Ursprung der Welt.

Bei allen Menschen gleich, und trotzdem sehen wir nur Unterschiede.

Und du fragst mich, woher ich komme.

Ich komme von überall her.

An den Haaren in diese Welt hineingezogen

und auf die Brüste geworfen, unter denen ich monatelang lag.

Meinen blutverschmierten Körper badete meine Mutter

nach der Geburt in Feigenmilch,

sodass ich seitdem rieche wie ein Garten.

Und sie legte mir Blumen in den Namen,

und meiner Schwester auch,

und wartete, bis sie uns blühen sah.

Aber so leicht ist das nicht.

Da, wo sie herkommt, so dachte sie, werden schöne Blumen zu schnell gepflückt. So riss sie uns selbst früh aus dem bekannten Boden und brachte uns hierher, wo die Eichen stolz Schatten spenden, vor einer Sonne, die sich ziert.

Mein Vater war der stärkste Mann seiner Stadt und trug ihre gesamte Last

auf seinen Schultern,

und noch heute,

nach all den Jahren, schmerzen seine Glieder bei dem Gedanken daran,

und er wird wehmütig, weil er hier nicht genug zu tragen hat.

Aber da, wo meine Eltern herkommen,

da wehte mich lange Zeit nur der Wind der Nostalgie hin,

oder manchmal auch der des Schuldgefühls.

Und wenn ich dann im Staub stehe

in Amol, in Sari, in Tehran,

wenn ich die lauten Straßen entlanggehe

– Gott bewahre, niemals unbegleitet –,

was geht mir da durch den Kopf? Was denkst du?

Da habe ich im Alborz-Gebirge meine Sprache verloren,

da kann ich erahnen … nein:

erfühlen, was man mir sagt,

doch will ich zur Antwort ansetzen,

da stolpern mir die Worte aus meinem Mund,

da legt sich mir Schicht um Schicht Deutsch auf mein Hirn.

Da weiß ich selbst nicht mehr, woher ich komme.

Woher ich komme? Kaspische Salzwasserküste.

Da nennt man einen großen See das Meer!

So lernte ich schon früh zu übertreiben,

aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich überall nach Feige schmecke,

ich lass dich sicher einmal kosten …

Hör mal, red ich dir zu viel?

Aber du hast doch gefragt!

Wieso willst du immer wissen, woher ich komme,

wenn dich die Antwort langweilt?

Da willst du mich deinen Eltern vorstellen,

da soll ich zehn Minuten lang mit leuchtenden Augen von Isfahan reden:

Nesf-e Jahan! Die Hälfte der Welt! Nein, das müssen Sie einfach sehen,

da muss man mal gewesen sein, wundervolle Architektur!

Muss man mal gesehen haben, ist wirklich wunderschön

da.

Da willst du dickes Haar zwischen deinen Fingern,

aber nicht die auf meinem Arm.

Da willst du tausendundein Mal Hmmmm,

ja, was willst du eigentlich?

»Da hat man schon große Vorteile, nicht wahr?

Frau und dann auch noch Migrationshintergrund …

da schmeißen sie dir die Jobs aber hinterher …«

Ja, da weiß ich gar nicht, worüber ich mich mehr freuen soll.

Darüber, dass meine Möglichkeiten bisher so begrenzt waren,

dass eine Quote nötig ist,

oder dass ich mich mein Leben lang fragen muss,

ob nun meine Fähigkeiten oder mein ungewöhnlicher Adelstitel,

meine Marke – Frau mit Migrationshintergrund –

mich am Ende weiterbringen.

»Na, euch kann man es aber auch gar nicht recht machen!«

Ja.

Stimmt.

Magst du tauschen?

Sag mal,

ist das nicht ironisch?

Na, dass ich hier nicht genug Farbe bekomme,

weil der Sommer immer nur auf mich hinunterregnet,

und dort, wo die Sonne die Blumen aus dem Schlaf brennt,

jeder Zentimeter Haut bedeckt sein muss.

»Na, so was gibt es bei uns einfach nicht.

Ist wirklich ein Symbol der Unterdrückung der Frau,

so was gibt es bei uns einfach nicht,

und jetzt pack die Brüste in ein Dirndl, Mädchen,

und bring mir ein Bier!«

Da muss meine Mutter sicher oft lachen;

hat uns fortgebracht,

dass niemand die dichten Locken mit einem Tuch bedeckt,

und hier würden sie es uns am liebsten herunterreißen,

da weiß ich selbst nicht, wo ich dazugehören möchte.

Was sagst du?

Ja, da, wo ich herkomme, hab ich sehr viel Verwandtschaft.

Da sind die Städte überfüllt, da kommt man sich näher …

weißt doch, wie das ist.

Komm, zieh dein »Refugees-Welcome«-Shirt aus, und ich zeig es dir!

Liebster,

ich will dir Khayyam-Gedichte widmen,

Rumi oder Hafez,

aber ich kenne nur Brecht, Goethe und Rilke …

Das habe ich gelernt,

da, wo ich herkomme:

kleinstädtisches Herz von Hessen,

wo ich auf den weiten Rapsfeldern, auf dem Gymnasium,

in den Häusern der Freundinnen

Deutschsein aufsog, bis ich niemandem mehr glich.

Den Eltern nicht.

Den Freunden nicht.

Aber so ging’s dir doch auch, nicht wahr?

Du trägst auch noch immer den Schmerz von 18 Jahren Missverstandenwerden mit dir herum.

Du, ich seh das.

Aber pack ihn doch nicht zu deiner Verteidigung aus,

wenn ich dir von meinem erzähle.

Jaja, wir gleichen uns sehr,

aber wir sind auch anders.

Siehst du das?

Ja, was siehst du denn?

Dunkle Augen und mindestens eine Sprache mehr, als deine Ex-Freundin vorzuweisen hatte,

und dann: wie toll wir aussehen werden,

wenn wir gemeinsam durch Museen, durch den Park, auf Partys …

Na ja, weißt schon, hier und da,

man wird uns sehen,

immer subversiv …

Meine Eltern werden über deine Größe staunen,

deine über meine Deutschkenntnisse:

So unterschiedlich und doch eins!

Und vielleicht erinnern wir uns,

wie alles beginnt,

am Anfang, zwischen den Beinen einer Frau.

Und wir versuchen neue Anfänge zwischen meinen.

Und dann wirfst du dich auf die Brust,

unter der irgendwann mal etwas wachsen wird,

irgendwas in einer Schattierung zwischen Braun und Weiß.

Und dann wirst du nicht mehr fragen, woher das kommt.

Das weißt du dann, ja?

Das

kommt dann von überall her.

Ich packe meine Koffer

Zoe Hagen

Als Kinder liebten wir es, lange Autofahrten mit Spielen zu überbrücken. Mein Bruder saß links und ich rechts und meine Schwester in der Mitte. Wir prügelten uns regelmäßig darum, wer den verhassten mittleren Platz einnehmen musste, doch weil sie die Jüngste war, verlor sie immer.

»Ich packe meine Koffer«, sagte sie, »und nehme mit: einen Teddybären.«

»Ich packe meine Koffer und nehme mit: einen Teddybären und eine Decke.«

»Ich packe meine Koffer und nehme mit: einen Teddybären und eine Decke und ein Fahrrad.«

Die Landschaft draußen rauscht vorbei, Regen prasselt auf die Fensterscheiben, mein Stiefvater sitzt am Steuer, meine Mutter schläft, das Gesicht gegen die Scheibe gepresst, sodass es faltig und zerquetscht aussieht.

Als Kind trug mich meine Mutter oft auf dem Rücken. Ich schlang meine Arme um ihren Hals, und meine Hände berührten ihre Haut Haut, die mich an die Farbe von Kastanien erinnerte, und ich fuhr mit meinen Fingern durch ihr tiefdunkles Haar, das je nach Frisur mal weich und wollig war oder hart und kratzig, wenn sie es zu langen Zöpfen geflochten trug. Meine Mutter war die einzige Frau, die ich kannte, die ihre Haare manchmal in vielen kleinen Zöpfen hatte. Berlin-Charlottenburg, 90er-Jahre. Die Parkflächen grün, die Menschen weiß, und mittendrin meine Mutter und ihre Zöpfe. Sie wehten im Wind, und ihre warme Haut berührte die meine und roch nach Mango.

Ich liebte es, von ihr herumgetragen zu werden. Bei Mama fühlte ich mich wohl. Sie trug mich von einem Ort zum anderen. Vom Kindergarten nach Hause. Von Zu Hause zur Arbeit, wo mich ihre Kollegen anlächelten und mir in meine kleinen, dicken Wangen kniffen. Von der Arbeit zum Gericht. Von Gericht zu Gericht.

Immer wieder dieselben Fragen, die die Sozialarbeiterin mir stellte: »Magst du deinen Papa? Ist er nett zu dir?«

Sie lächelte mich an und kaute dabei Kaugummi, hektisch und schnell, ihr Unterkiefer bewegte sich auf und ab, ihre Zähne malmten aufeinander und knirschten, während ihre rosa Zunge den hellblauen Kaugummi umspielte und sie meine Antwort abwartete. Für oder gegen den Vater. Den Vater, den ich liebte, der mich in die Luft warf, so hoch, dass ich zu fliegen glaubte und kreischte und vor Vergnügen lachte. Den Vater, der mich dann nicht auffing, sodass ich auf dem Boden aufprallte und weinte und nach Hause wollte, zu Mama und ihrer Mangohaut.

Regen prasselt gegen die Scheiben, prasselt im Rhythmus der fünf schlagenden Herzen und eines neuen BMW, den wir von dem Mann erbten, dessen Grab wir nun besuchen.

Ich packe meine Koffer und nehme mit: einen Teddybären und eine Decke und ein Fahrrad und endlose Gerichtsverhandlungen und meinen sechsten Geburtstag, an dem du mich mit zum Schwimmen nahmst und mir beibrachtest, wie man einen Köpper macht. Ich hatte Angst und traute mich nicht zu springen, doch du ermutigtest mich, wie du es immer tatest, und so sprang ich, und es war gar nicht schlimm.

Später würde ich die beste Schwimmerin meiner Schule werden.

Ich liebte dich. Opa war der Größte. Seine Haut roch nach Salz, sie war hell, so viel heller als die meine, und seine Stimme hatte diese komische Einfärbung, wenn er sprach. Später würde ich lernen, dass man das »Dialekt« nennt und dass das Norddeutsch war, wenn er mir vorlas. Er las mir oft vor, und ich liebte ihn dafür. Manchmal spielten wir ein Spiel, dessen einzige Regel darin bestand, dass man in Reimen antworten musste. Zwischendurch kam Oma und brachte Eierkuchen, die warm und weich waren, ein wenig wie Mamas Haut, nur dass sie nach Butter und Zimt rochen. Einige enthielten auch Äpfel, und ich presste die kleinen Obststücke gegen meinen Gaumen und nuckelte an ihnen, bis sich der fruchtig-süße Geschmack in meinem ganzen Mund verteilte.

Ich packe meine Koffer und nehme mit: einen Teddybären und eine Decke und ein Fahrrad und endlose Gerichtsverhandlungen und einen Köpper im Schwimmbad und Pfannkuchen mit Zimt, die ich heute nicht mehr essen mag.

Und der Regen prasselt und prasselt und prasselt, das Auto ist nass, wie meine Haut damals nach dem Schwimmen. Ich will schreien, stattdessen packe ich meine Koffer und nehme mit: die Frage, woher ich komme. Und die Menschen, die mich dafür auslachen und verspotten und beleidigen, weil sie meine Haut für Matsch halten und nicht wissen, dass sie die Farbe der Erde hat, die mich hält und nährt.

Wir nähern uns dem Friedhof, sind fast da. Meine Schwester ist aus dem Spiel geschieden. Sie ist zu klein und ihr Gedächtnis zu schlecht – man sagt, Kinder seien unschuldig.

Mein Bruder packt eine Packung »Haribo« ein, ich lache ihn aus, weil das Wort »Gummibärchen« gewesen wäre. Er findet, dass das zählt, ich finde das nicht. Wir kloppen uns, meine Mutter wird wach und schimpft, mein Bruder heult.

Tränen haben dieselbe Form wie Regen, aber sie schmecken anders. Salz sieht aus wie Zucker, aber du hast immer Süßstoff in Tablettenform genommen, und manchmal gabst du mir heimlich eine, und ich spürte die künstliche Süße auf meiner Zunge. Wahrheit existiert nur in Köpfen, Gedanken sind ein Konstrukt aus Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit und dem, was du zu glauben weißt und tief im Inneren spürst.

Ich packe meine Koffer und nehme mit: zehn Jahre Therapie, um irgendwas verstehen zu können. Ich nehme mit: zwei Kliniken und endlose Gespräche und noch mehr Gerichtsverhandlungen und die Frage nach der Schuld und nach der Scham und der Wahrheit, die nicht existiert, weil sie mit dir gestorben ist.

Und ich stehe am Grab, all diese Jahre später, allein, und frage mich: »Warum?«, frage dich: »Warum?«, und spüre diese Liebe in mir und den Hass und packe alles ein und verstaue es sicher. Und meine Tränen schmecken nach Salz und nach deiner Haut auf meiner und Angst und Nicht-verstehen-Können, Nicht-verstehen-Wollen. Nach einem Köpper im Schwimmbad und missbrauchtem Vertrauen und missbrauchtem Körper und geschundener Seele und jahrelangem Schweigen, nach »Kind, du weißt nicht, wovon du sprichst« und nach einem Teddybären, der alles ist, was von dem bleibt, was man Kindheit nennt. Du bist doch noch immer der Größte.

Und der Regen prasselt, prasselt, prasselt auf mich nieder, mein Gesicht ist nass, und ich packe meine Koffer. Und all die explodierenden Schädel und verschluckten Schreie. Ich verzeihe dir, weil ich mich liebe.