image

image

Estelle Surbranche

Nimm mich mit ins Paradies

Aus dem Französischen
von Cornelia Wend

Herausgegeben von Wolfgang Franßen

image

Originaltitel: Emmène-moi au paradis

© La Tengo, 2017

Published by arrangement with Agence litteraire Astier-Pécher

ALL RIGHTS RESERVED

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2019

Aus dem Französischen von Cornelia Wend

© 2019 Polar Verlag. Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Christine Laudahn, Claudia Denker

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto © Eugen/fotolia

Autorenfoto: © privat

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-945133-75-0

eISBN: 978-3-945133-76-7

»Ein Mann ohne Feinde hat keinen Wert.«
Serbisches Sprichwort

»Die Frau ist zur Unmoral gezwungen, weil die Moral für sie darin besteht, ein übermenschliches Wesen zu sein: Eine starke Frau, eine bewundernswürdige Mutter, eine ehrliche Frau etc.«
Simone de Beauvoir, Das zweite Geschlecht (1949)

Acht Stockwerke. Fünfundzwanzig furchteinflößende Meter trennten sie vom Boden. Viviane klammerte sich an die Brüstung ihres Balkons, sie wusste, dass sie dabei war, eine Riesendummheit zu begehen. Der Wind fuhr ihr durch die Haare, blies ihr ins Gesicht, zerrte an ihrem Körper, flüsterte ihr ins Ohr: Gib auf, lass dich fallen. Ihre dünnen, malträtierten Arme zitterten, ihre Finger wollten sich lösen, aber ihr Inneres bäumte sich dagegen auf. Eine innere Stimme befahl ihr: Kämpf ums Überleben! Erneut warf sie einen Blick auf die dünne Betonbrüstung, die sie von Madame Josephs Balkon trennte. Ein Bild erschien vor ihrem geistigen Auge: Ihre eigene Leiche, die zerschellt auf dem Asphalt lag, blutüberströmt. Wie lange dauerte es wohl, bis eine vierzig Kilogramm schwere Person nach einem Sturz aus dem achten Stock unten aufkam?

Sie verscheuchte diesen Gedanken und konzentrierte sich auf das Einzige, das jetzt zählte: Statt an Selbstmord zu denken, sich Zentimeter für Zentimeter vorzuarbeiten, bis sie es geschafft hätte. Sie atmete tief ein, spannte die Muskeln an, ließ den linken Fuß nach links unten gleiten, zog den rechten Fuß nach, dann die linke Hand, bis sie an der Hauswand klebte. Ihr Kopf drehte sich. Die Luft war durch den warmen Autan-Wind elektrisch aufgeladen. Dieses Pfeifen machte sie irre. Zum x-ten Mal dachte sie daran, wie ihr Leben hätte aussehen können, wenn alles anders gekommen wäre, dachte an ihre Hoffnungen, die sie in dieser Nacht endgültig hatte begraben müssen. Aber sie war überzeugt davon, dass das Leiden heute ein Ende haben würde. Wenn es ihr nur gelänge, auf die andere Seite der Brüstung zu kommen, dann könnte ihr Leben weitergehen, und sie hätte die Chance, noch einmal so etwas wie Glück zu erfahren. Ein unfassbares Glück. Noch viel besser als im Paradies.

Viviane hielt den Atem an und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht ins Nichts.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Danksagung

1

Der Schrei ließ Nathalie zusammenfahren. Die Idiotin konnte so viel brüllen, wie sie wollte, es würde sie eh niemand hören. Dieses dreckige Loch befand sich in der hinterletzten Ecke Rumäniens. Ein neuer Schrei, bestialisch. Sie sah, wie Khasboulat angewidert das Gesicht verzog. Der riesige Tschetschene wich ihr nicht mehr von der Seite, seitdem er sie in Paris gerettet hatte. Sie unterdrückte ein Lächeln. Dieser hartgesottene Typ hatte offenbar seine Probleme mit dem Schauspiel der Geburt und der damit einhergehenden Absonderung von Körperflüssigkeiten. Nun warteten sie bereits drei geschlagene Stunden darauf, dass die kostbare Ware zum Vorschein kam. Der Arzt, den sie dabeihatten, sprach der schwitzenden und um Luft ringenden Frau Mut zu. »Noch ein bisschen, Madame äh … nun ja … pressen Sie!« Erneut musste Nathalie lächeln trotz des Gestanks, der im Zimmer herrschte, einer Mischung aus Blut, Exkrementen und Desinfektionsmittel. Der Quacksalber hatte sich noch nicht mal den Namen seiner Patientin gemerkt. Umso besser. Eines der schmutzigen Kinder der Frau tauchte im Schlafzimmer auf und jammerte: »Maman …«

Es wimmelte in dieser elenden Baracke nur so von Gören, sie waren wie Kakerlaken. Jedes Mal, wenn Nathalie einen angeschlagenen Gegenstand aufhob oder ein Möbelstück beiseite rückte, kam ein neues Blag zum Vorschein und krakeelte herum, ein Gesicht schien dreckiger zu sein als das andere. Dieses Land, in dem Armut und Dreck regierten, deprimierte sie. Sie stand auf und vertrat sich die Beine.

»Doktor, ich gebe Ihnen noch eine Stunde, um es rauszuholen. Pumpen Sie sie mit Medikamenten voll, wenn nötig. Uns interessiert nur das Baby. Ansonsten schneide ich ihr eigenhändig den Bauch auf und hole mir, was uns zusteht. Kapiert?«

Sie wandte sich an ihren Begleiter.

»Ich hole mir Wasser aus dem Auto. Brauchst du irgendwas?«

Khasboulat blickte sie erstaunt an. So einen freundlichen Tonfall war er von Nathalie nicht gewohnt. Die Serbin ließ erst gar keine Verlegenheit aufkommen und ging auf die Tür zu. Seit ihrer Verletzung hinkte sie etwas, aber sie wurde von Tag zu Tag schneller. Eines der Kinder versuchte, im Vorbeigehen nach ihrer Hand zu greifen und bettelte sie in einer fremden Sprache an. Sie stieß es mit einer ruppigen Bewegung zurück und trat nach draußen. Das gleißende Sonnenlicht bildete einen deutlichen Kontrast zu der schmuddeligen Dunkelheit im Inneren. Sie atmete einmal tief ein, das half ihr, ihre Bitterkeit hinunterzuschlucken. Seit bald sechs Monaten musste sie nun solche trostlosen Aufträge ausführen, an gottverlassenen Orten wie diesem, Nestern, um die man sich im restlichen aufgeklärten Europa nicht scherte. Sechs Monate, in denen sie Zeuge übelster Ausbeutung geworden war. Der Mann beutete die Frau aus, die Frau das Kind, der Stärkere den Schwächeren. In diesen Rattenlöchern war es schon ein echtes Kunststück, sich nicht die Venen aufzuschneiden.

Das Auto gab einen Piepton von sich, als es aufsprang. Nathalie öffnete die Tür zur Rückbank und nahm sich eine Mineralwasserflasche aus ihrem großen Vorrat. Von dem Leitungswasser hier durfte man keinesfalls auch nur einen Tropfen trinken, es war komplett mit Bakterien verseucht. Während sie einige Schlucke nahm, blickte sie sich um: Ein paar dürre Bäume ohne Blätter, ein Weg, der mit Müll und Alteisen übersät war. Hinter dem Haus, das abgelegen außerhalb des Ortes lag, bellten Hunde. Der widerliche Staub schien sich noch in den letzten Winkel zu legen. Sie fühlte sich schmutzig. Das Elend dieser Leute, die sich mit ihrer extremen Armut abgefunden hatten, setzte sich in ihrer Kleidung, auf ihrer Netzhaut fest. Sie schüttete etwas Wasser auf ihre Handflächen, um sie zu reinigen.

Radzik hatte ihr befohlen, von der Bildfläche zu verschwinden, abzuwarten, bis ihre Wunden verheilt wären. Sie, einst der ganze Stolz ihres Chefs, seine Favoritin, war also neuerdings auf lumpige Gestalten abonniert, nach denen kein Hahn krähte. Vielleicht sollte sie einmal kräftig mit der Faust gegen das Auto schlagen und so ihren Frust ablassen? Dabei hatte sie in Frankreich noch so einiges zu erledigen. Als Erstes musste sie ihr Medaillon zurückholen und bei der Gelegenheit der Polizistin die Kehle durchschneiden, die es an sich genommen hatte, und die ihrerseits überall nach ihr suchte. Und dann wollte sie das Drogennetzwerk wiederaufbauen, das durch Jelenkos Verrat zusammengebrochen war. Stattdessen verschimmelte sie jedoch in Rumänien, in der Region Alba, und wartete darauf, dass eine Roma sich bequemte, ihr Gör abzuliefern. Sie trat gegen ein verrostetes Fahrrad und ging zurück in die Bruchbude mit der niedrigen Decke. Die beiden Fenster des winzigen Raumes, der als Schlafzimmer, Wohnzimmer und Abort in einem diente, waren mit Zeitungspapier und Pappe verstärkt. Ideal, um die Butze in Brand zu setzen. Sie sah sich schon ein Feuerzeug daranhalten. Was wäre das für ein schöner Anblick, wenn dieser ganze Dreck hier einer ultimativen Reinigung unterzogen würde. Schreie rissen sie aus ihren Gedanken. Sie waren doppelt so laut wie vorher. Das grelle Licht der an der Decke angebrachten Lampe erleuchtete eine wenig appetitliche Szene: Da lag eine nackte Frau mit gespreizten Beinen auf einem Laken voller Blut und Kot.

»Miria!«, rief der Arzt und versuchte, die Schreie zu übertönen. »Ich brauche Sie! Helfen Sie mir, sie festzuhalten und dabei auf ihren Bauch zu drücken.«

Nathalie sah ihn verständnislos an. »Miria«, brummte Khasboulat. Ach ja, Miria, ihre neue Identität. Früher hatte ihr Name Angst und Schrecken verbreitet. Heute existierte er nicht einmal mehr. Die spektakulären Aktionen, die von allen gefürchtete Kriminelle … das war einmal. Jetzt taugte sie nur noch als Hebamme, war nichts weiter als eine beschissene Hebamme.

Dieser Abstieg machte sie krank. Nathalie spuckte aus. Sie überwand ihren Ekel und beugte sich über das blasse, schweißnasse Gesicht der jungen Frau. Die Roma hatte tiefe Falten und die gegerbte Haut einer Fünfzigjährigen, dabei war sie gerade mal fünfundzwanzig. Nathalie beherrschte kein einziges Wort in ihrer Sprache. Wie sollte sie die Frau also zum Schweigen bringen? Indem sie ihr Angst machte. Die Serbin blickte der Gebärenden tief in die Augen, legte so viel Härte in ihren Blick, wie sie nur konnte, und drohte der Roma mit einer Geste, ihr die Kehle durchzuschneiden. Daraufhin liefen der Frau Tränen über die Wangen, sie gab ein paar erstickte Schluchzer von sich, aber es kehrte fast so etwas wie Ruhe ein. Nathalie beglückwünschte sich. Bisher hatte sie jedes Problem lösen können, indem sie Angst säte.

»Sie hat starke Schmerzen. Das ist kein Wunder. Ich habe ihr keine wehenfördernden Mittel gegeben. Ihre Gebärmutter ist vollkommen ausgeleiert. Aber mit etwas Unterstützung sind wir in dreißig Minuten fertig, versprochen.«

Nachdem der Arzt einen Schluck Wasser getrunken hatte, zeigte er Nathalie, wo sie ihre Hände hinlegen sollte. Sie legte die Hände flach auf den Bauch der werdenden Mutter und spürte, wie deren Körper sich unter den Schmerzen wand, wie ihr Herz raste, ihr Atem stockte, das Baby sich in alle Richtungen drehte und wendete.

Von den siebzehn Entbindungen, die sie seit ihrem »Wiedereinstieg« erlebt hatte, war diese die blutigste.

»Avansa«, na los, rief der Arzt auf Rumänisch.

Endlich ein Schrei. Nathalie spürte, wie an ihrem Rücken der Schweiß perlte. Sie spannte ihren Nacken an, und auf einmal kamen aus ihrem Mund lauter aufmunternde Worte. Die Szene widerte sie zugleich an und faszinierte sie. Einem Kind auf die Welt zu verhelfen, war ein hartes Stück Arbeit, unendlich viel komplizierter, als jemanden ins Jenseits zu befördern, darin hatte sie Erfahrung. Mit letzter Anstrengung presste die Frau zusammen mit einem Schwall von Blut und Fruchtwasser das Kind aus sich heraus. Es war ein Mädchen. Wie erwartet. Es schien kerngesund zu sein. Das Baby schrie, rot vor Wut, dass man es in diese Hölle auf Erden befördert hatte. Wie recht es damit doch hatte, dachte Nathalie. Der Arzt trennte mit routinierter Geste die Nabelschnur durch. Dann wusch er das Neugeborene mit einer extra Lotion ab. Die Mutter sah ihm vom Bett aus dabei zu. Ihre verschwitzten Haare klebten ihr am Kopf, sie war vollkommen erschöpft und sagte kein einziges Wort. Sie beklagte sich nicht, dass sie nicht genäht wurde, sich niemand um sie kümmerte. Der Arzt legte das gesäuberte und fest in eine Decke gewickelte Baby vorsichtig in die eigens mitgebrachte nagelneue Babyschale. Er stand auf und drückte sie dem Nächstbesten in die Hände, das war Nathalie. Dann beugte er sich erneut über die Scham der Mutter, um die Wunde zu desinfizieren und zu nähen.

»Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre verblutet«, erklärte er.

Die Roma hatte nur Augen für das Kind.

»Her name is …«, sagte sie und stützte sich dabei auf einen Ellbogen, um ihren Oberkörper anzuheben.

Nathalie wich, überrascht von diesem plötzlichen Gefühlsausbruch, zurück. Die Frau setzte erneut an, dieses Mal lauter, und breitete dabei die Arme aus:

»Her name is … I want my daughter

Wie in Cavnic. Mal wieder eine, die es sich anders überlegt hatte. Der plötzliche Meinungsumschwung der Mutter ließ Nathalie jedoch kalt. Statt etwas zu erwidern, machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer, das kostbare Bündel in der Babyschale. Seine neuen Eltern würden sich einen Namen überlegen. Die Schluchzer der Roma wurden immer lauter, es brach der Frau das Herz, aber am Ende würde auch diese Wunde vernarben.

Als sie am Auto angekommen war, befestigte Nathalie die Babyschale mit dem Neugeborenen darin auf der Rückbank. Sie bemühte sich, es ihm so bequem wie möglich zu machen. Da hörte sie Hundegebell hinter sich und wandte sich um. Vor ihr stand Petru, der Mann der Leihmutter mit seinem großen haarigen Freund, einer Pitbull-Mischung, dem der Geifer aus dem Maul lief. Beide starrten sie an. Der Kerl war betrunken, er wankte. Seine große, rote Pranke umschloss eine braune Hundeleine. Seine weißen Haare waren fettig und zerzaust, sein Hemd und seine Hose starrten vor Dreck, an den Füßen trug er uralte Gummistiefel.

»I want my money!«

»Khasboulat will give you your money in one minute«, erwiderte Nathalie.

»No! Money! You! Now!« stieß der Mann mühsam hervor.

Damit hatte er fast seinen gesamten englischen Wortschatz in einem Satz untergebracht. Das Tier kläffte wie verrückt und fletschte die Zähne. Es hatte die Ohren aufgestellt und zog mit aller Kraft an der Leine. Die drohend dargebotenen Reißzähne und das aggressive Bellen machten unmissverständlich klar, was es wollte: Serbenfleisch, und zwar sofort! Nathalie kochte vor Wut. Sie fragte sich, wieso dieser Idiot von Mann ausgerechnet jetzt Stress machen musste. Wie üblich waren die Modalitäten vorher ausgehandelt worden, und wie üblich hatte man großzügig Schmiergelder verteilt, damit die Sache glatt über die Bühne gehen konnte. Und jetzt pflanzte dieses besoffene Schwein sich vor ihr auf und ging ihr auf die Nerven. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie griff sich hinten unter den Pulli und zog ihre Tokarev. Ihre Augen wanderten von einem der beiden Bastarde zum anderen. Wen von den beiden sollte sie sich zuerst vornehmen? Die Killerin stellte sich in einer möglichst dominanten Pose vor dem Tier auf und sagte dabei zu seinem Herrchen:

»Khasboulat will give you your money in one minute.«

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, dabei kamen einige Goldzähne zum Vorschein. Der Mann wiederholte stumpf immer wieder »Money! Now!« Dabei wurde er von Mal zu Mal lauter. Dann riss der Hund sich los, oder aber sein Herrchen hatte die Leine absichtlich losgelassen. Das Tier stürzte sich mit wildem Knurren auf Nathalie und brach kurz darauf mit lautem Gejaule vor ihren Füßen zusammen, zwischen seinen Augen klaffte ein Loch. An seinen Flanken waren zahlreiche Verletzungsspuren zu sehen, Überbleibsel von Hundekämpfen, die man in dieser Region gerne als Freitagabendbelustigung abhielt.

»My dog!«, brüllte der Mann.

Wütend torkelte er auf Nathalie zu. Sie ließ ihn erst gar nicht an sich herankommen, gab ihm einen heftigen Tritt in die Eier, sodass er sich zusammenkrümmte. Mit weit geöffnetem Mund rang der Saufbold nach Luft. Da verpasste sie ihm mit dem Unterarm einen Schlag in den Nacken, und er brach zusammen. Nun trat sie auf sein Gesicht, bis man das Splittern von Knochen hörte. In dem Moment kam Khasboulat mit dem Arzt aus dem Haus. Er stellte keine Fragen, vergewisserte sich nur, dass Nathalie unverletzt war. Ja, das war sie, mehr noch, sie war sogar ziemlich guter Dinge. Dank dieses kleinen Zwischenfalls wusste sie, dass sie noch genauso gut austeilen konnte wie früher. Was kümmerten sie ihre Verletzungen! Hauptsache, der Skorpion war am Leben und so gefährlich wie eh und je.

»Gib der Frau das Geld, ihr Mann ist nicht mehr in der Lage, es in Empfang zu nehmen.«

Der Tschetschene war überrascht.

»Ja, auch wenn diese verlauste Kreatur nicht unsere Kontaktperson ist«, befahl sie ihm. »Schließlich hat sie sich für die Kohle den Arsch aufgerissen! Und irgendetwas sagt mir, dass sie das Geld sinnvoller einsetzen wird als er.«

Sie nahm die 1.500 Euro aus ihrer Gürteltasche und reichte sie ihm. Er ließ die Scheine in seiner riesigen Hand verschwinden und ging zum Haus zurück. Einen Befehl von Nathalie stellte man nicht infrage. Der Arzt hatte diese Regel noch nicht verstanden.

»Das ist gegen die Abmachung. Ich muss mich schon wundern, Miria, ich …«, wagte er zu protestieren.

Mit drohendem Blick schnitt die Chefin ihm das Wort ab. Er zog den Kopf ein und setzte sich ins Auto neben die Schale, in der das kostbare Baby lag. Ein schwedisches Paar würde es für 50.000 Euro erwerben. Radzik verstand sein Geschäft, Menschenhandel brachte dreimal so viel ein wie Überfälle, und das Risiko war vergleichsweise gering.

Nathalie gab dem Trinker einen letzten Fußtritt in den Bauch, just for fun. Sie mussten los, den zweiten Teil ihres Auftrags erledigen, der sehr viel gefährlicher war, als diese kleine Landpartie.

2

Im Kommissariat war Ruhe ein Fremdwort. Selbst um drei Uhr morgens ging es noch unerträglich laut zu. Obdachlose, die sich ihren Verstand weggesoffen hatten und aufeinander eindroschen; Nachtschwärmer, die man wegen Alkohols am Steuer oder Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eingebuchtet hatte; Typen, die ihre Frauen fast zu Tode geprügelt hatten, bloß weil sie von ihnen genervt waren. Gabrielle gähnte. Diese alltäglichen Fälle gingen ihr nicht wirklich nahe. Abgesehen von einigen Szenen aus ihrem eigenen Leben, die sie immer und immer wieder vor sich sah, interessierte sie eigentlich nicht viel. Sie hoffte, durch ihr langweiliges Leben könne sie ihre Emotionen im Zaum halten. Ein genauerer Beobachter hätte schnell deutliche Anzeichen für eine Depression bei ihr ausmachen können. Aber in der Regel macht sich niemand die Mühe, einen anderen allzu genau zu betrachten, sei es aus Angst, sich aufzudrängen, oder aber – das ist in den allermeisten Fällen der Grund – weil einem die anderen schlicht egal sind.

Um sich noch intensiver mit ihren persönlichen Dämonen beschäftigen zu können, meldete Gabrielle sich oft freiwillig zur Nachtschicht. Die anderen Bullen hatten Familien, und die waren nicht gerade begeistert, wenn sie nachts weg waren und am Tag schliefen. Capitaine Levasseur lebte inmitten ihrer Gespenster still vor sich hin. Im bläulichen Licht des Computerbildschirms traten ihre tiefen Augenringe noch deutlicher hervor. Wie lange starrte sie nun schon auf diesen Bildschirm? Sicher mehrere Minuten, wie versteinert. In letzter Zeit war sie häufig geistesabwesend, so beschäftigt war sie mit ihrer Vergangenheit und der Reue über das Geschehene. Und was folgte daraus, wenn sie ehrlich war? Die Erkenntnis, dass sie nie wieder ihren Kopf für irgendjemanden riskieren wollte.

Vorerst hielt man die Hand über sie. Ihr konnte nichts passieren, trotz des Wirbels, den ihr Auftauchen hier ausgelöst hatte. Als sie noch glaubte … Wie lange willst du das alles noch hin- und herwenden, mahnte eine innere Stimme sie. Ihre Vorgesetzten hatten ihr hoch angerechnet, dass sie im Alleingang, oder zumindest fast, den Mörder von Nicole Seguin gefasst hatte, Tochter eines steinreichen Industriellen. Ihre Vorgesetzten hatten ihr dann auch diesen Posten in Toulouse verschafft. Wenn sie an ihren letzten Fall zurückdachte, fing sie augenblicklich an zu zittern: Bilder stiegen in ihr auf. Wie Romain Le Roux sich mit dieser Scheißmotorsäge auf sie gestürzt hatte, und wie sein Schädel förmlich explodiert war, als sie aus Reflex einen Schuss abgegeben hatte. Der Fall hatte im ganzen Land für Aufsehen gesorgt und eine Debatte über den Drogenkonsum junger Erwachsener ausgelöst. Ein echtes Armageddon, und sie war, ob sie wollte oder nicht, eine der Hauptprotagonistinnen gewesen. Nach dieser Episode war es ihr gutes Recht, etwas in den Hintergrund zu treten. Und wo konnte man besser vom Radar verschwinden als in einer großen Stadt wie Toulouse?

Hinter ihrer Entscheidung, Biarritz zu verlassen, verbarg sich auch der Wunsch, sich von Alejo zu entfernen, ihrem einstigen Geliebten, der ein etwas zu enges Verhältnis zur ETA pflegte. Sie konnte und wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn sie sich eines Tages bei einer Razzia gegenüberständen. Indem sie die Stadt verließ, wollte sie verhindern, dass ein solches Szenario jemals Wirklichkeit werden könnte.

So saß sie in ihrem Büro und wartete auf das Morgengrauen. Zugleich fürchtete sie diesen Moment, denn für sie bedeutete er, nach Hause zu kommen und erneut mit der Schlaflosigkeit konfrontiert zu sein. Vor dem Fall Seguin hatte sie kaum mit Schlafproblemen zu kämpfen gehabt, auch wenn sie manchmal vom immer gleichen Albtraum geweckt wurde: Man sperrte sie in einen Holzsarg, und sie versuchte verzweifelt herauszukommen, indem sie mit den Fäusten von innen gegen den Deckel trommelte. Heute begleitete sie die Angst, eingesperrt zu sein, tagtäglich. Sie hatte das Gefühl, sich in einer Glocke durch das reale Leben zu bewegen und dabei permanent nach Luft zu ringen. Eine dreckige Scheibe trennte sie vom Rest der Welt. Ihr war klar, dass sie mehr und mehr in eine Depression abglitt, sich sozusagen ihr eigenes Grab schaufelte. Sie wusste es, sank aber trotzdem immer tiefer hinein. Kurz vor fünf Uhr klingelte das Telefon. Gabrielle streckte schwerfällig den Arm aus, wie ein kaputter Automat.

»Capitaine Levasseur, ich höre?«

»Hallo, Capitaine, ich störe Sie nur ungern, aber wir sind hier mit einem seltsamen Fall konfrontiert, zu dem ich gerne Ihre Meinung hören würde. Alle anderen sind mit dem Überfall auf den Juwelier beschäftigt«, leierte Benoît Bonanza herunter, ein junger Lieutenant, der ihr zugeteilt war.

»Schießen Sie los«, sagte sie müde. »Mit den Ermittlungen zum Überfall habe ich nichts zu tun, ich bin ja genau deshalb hier, um mich um den Rest zu kümmern.«

»Gut, okay. Also, wir haben eine junge Frau eingesammelt, die mit Drogen vollgepumpt war. Die Nachbarin hat uns angerufen. Die Frau ist über ihren eigenen Balkon geklettert und dann auf den der Nachbarin. Sie fantasiert vor sich hin. Das ist kein Wunder, denn nach ersten Analysen im Krankenhaus hat sie so viel Benzos im Blut, dass selbst ein Elefant an ihrer Stelle Halluzinationen hätte. Die Nachbarin hat uns eine komische Geschichte von einem Typen erzählt. Das erinnert mich an diese Tote, die wir in Tournefeuille gefunden haben. Ich wüsste gerne, was Sie davon halten.«

Gabrielle warf sich in ihrem Stuhl zurück. Sie konnte sich nicht an eine »komische Geschichte« erinnern, in der eine tote junge Frau eine Rolle spielte, und verspürte auch wenig Lust, einen Junkie zu befragen. Diese Drogenszene widerte sie einfach nur noch an, seit … Erneut sah sie Nicole Seguins zierlichen Körper vor sich mit den hervortretenden Augen. Sie fühlte sich schlagartig in eine Art Horrorkabinett zurückversetzt. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

»Warum befragen Sie sie denn nicht selber?«, fragte sie murrend.

»Ich habe bereits mit ihr gesprochen, aber ich glaube, sie hat eine sehr spezielle Erfahrung gemacht, Capitaine. Es wäre sicher einfacher für sie, mit einer Frau darüber zu reden und … jemand, der sich mit psychischer Manipulation auskennt, könnte sie sicher besser verstehen.«

Gabrielle fuhr zusammen. Sie hatte nicht übel Lust ihren Untergebenen anzuherrschen. Sie fragte sich, ob die alte Geschichte mit diesem Arschloch von Dominique – dem Mann, der sie benutzt hatte, um herauszufinden wo sich seine Familie versteckte – sie etwa ein Leben lang verfolgen sollte. Nach dem Tod von Le Roux stand sie eine ganze Weile im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, und die Presse machte sämtliche Details ihrer Beziehung publik. Dominique nutzte die Gunst der Stunde, um seine Biographie herauszubringen. Die Tatsache, dass ein Verleger sich dazu herabließ, ihm eine Bühne zu bieten, machte sie sprachlos, und dass er damit auch noch einen Bestseller landete, war unerträglich. Sie konnte nicht verstehen, warum so jemand eine solche Faszination auf so viele Menschen ausübte. Es hieß, er bekäme im Gefängnis zahlreiche Liebesbriefe von irgendwelchen Verrückten, die sich nach großer Leidenschaft sehnten. Selbst wenn er ihren Namen in Memoiren eines Mannes, der zu sehr liebte, nicht explizit nannte, »meine kleine Polizistin« war eindeutig genug. Er verstieg sich zu der Behauptung, nie eine andere Frau so geliebt zu haben wie sie. Gabrielle konnte nach wie vor nicht fassen, dass er so etwas von sich gab, und dass dieser Hurensohn seine Lügen immer noch weitertrieb. Sollte sie ihn jemals in die Finger bekommen, würde sie ihm für sein Machwerk auf jeden Fall die Fresse polieren. Das war das Mindeste.

»Also, Capitaine, was soll ich Ihnen sagen?«, setzte Bonanza erneut an.

Sie hatte die Wahl, entweder sie würde weiterhin jedem an die Gurgel springen, der sie mit ihrer eigenen Geschichte konfrontierte, oder sie würde diese als Trumpf begreifen und als eine Lebenserfahrung wie jede andere auch. Ihr kam ein altes Krav Maga-Prinzip in den Sinn, demzufolge man die Stärke seines Gegners nutzen sollte, um ihn leichter auszuschalten. Es war schließlich nicht ihre Art zu flüchten oder mit gesenktem Kopf herumzulaufen. Sie war bereit, die Konfrontation anzunehmen.

»Gib mir die Zimmernummer«, murmelte sie. »Ich fahre auf dem Nachhauseweg da vorbei. Ich bin in zwanzig Minuten da.«

Wie im Armenhaus. Linoleum auf dem Boden, damit man den Dreck mit dem Scheuertuch wegwischen konnte, ohne dass er Spuren hinterließ. So sah eine Notaufnahme im Krankenhaus also um diese Tageszeit aus. Gabrielle ignorierte die Beleidigungen, die ein Besoffener mit blutverschmierter Visage in ihre Richtung grölte, und ging auf den Raum zu, den Bonanza ihr genannt hatte. Vor der Tür war niemand zu sehen. Ihr junger Kollege war vermutlich nach unten gegangen, einen Kaffee trinken. Gabrielle betrat das Zimmer. Es lag im Halbdunkel und abgesehen vom Piepen des Monitors herrschte Stille. Das kam ihr gelegen.

Die zusammengekauerte Gestalt auf dem Bett wirkte weder jung noch weiblich. Sie war extrem abgemagert, wog vielleicht um die vierzig Kilo. Sie versank in dem Papierkittel, den man ihr übergezogen hatte. Ihre hervorspringenden Knochen standen in einem eigenartigen Winkel ab und erinnerten an zerbrochene, dünne Zweige. Ihre Haut war trotz des langen Sommers nicht sonnengebräunt, sondern an manchen Stellen gelb, an anderen violett oder blau. Ihre Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Ihre Hände und Arme waren voller Ritzspuren. Der Arzt hatte ihr wohl ein starkes Schlafmittel verabreicht, denn sie schlief tief und fest, ohne auch nur einmal zu zucken, so als hätte es sie auf der Stelle umgehauen. Ihr Mund stand offen, im Mundwinkel hatte sich Speichel gesammelt. War das der richtige Moment, um sie zu befragen? Gabrielle kam zu dem Schluss, dass diese Kleine vor allem eines brauchte: Schlaf.

Sie setzte ihre Musterung fort. Die schwarzen Haare der Schlafenden waren fettig, sehr kurz geschnitten, und an der Kopfhaut waren überall kahle Stellen zu sehen. Es sah aus, als hätte ein Frisör im LSD-Rausch zum Rasierer gegriffen. Sie hörte die Tür. Der beruhigende Duft von Kaffee zog durch den Raum. Bonanza schlich sich mit zwei dampfenden Plastikbechern auf leisen Sohlen ins Zimmer. Er stellte sich direkt hinter seine Vorgesetzte und murmelte: »Hallo, Capitaine, sehen Sie, ich habe auch an Sie gedacht.« Gaby zuckte zurück und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der zu sagen schien: Welches Arschloch wagt es, mich so von hinterrücks anzuquatschen? Im selben Moment verstand er seinen Fehler. Die Kaffeebecher in den Händen, trat er den Rückzug an. Sie folgte ihm auf den Flur.

»Okay, was haben Sie für mich, abgesehen davon, dass Sie mir irgendwelchen Blödsinn ins Ohr säuseln? Diese junge Frau wurde übel zugerichtet, soweit man das sehen kann. Sie hätten also schon mal mit Vorermittlungen beginnen können, wegen der diversen Verletzungen, die sie hat. Im Übrigen schläft sie gerade tief und fest. Also kann ich hier nicht besonders viel ausrichten.«

»Ich kann Ihnen ja schon mal sagen, was ich weiß, Capitaine«, stammelte er und hielt ihr den Becher mit dem Kaffee hin.

Er hatte seine Lektion gelernt. Man durfte Gabrielle Levasseur nicht zu nahekommen.

»Schießen Sie los, Bonanza.«

»Die Ärzte wollten mit dem Beruhigungsmittel nicht mehr warten, tut mir leid, Capitaine.«

»Macht nichts. Geben Sie mir eine kurze Zusammenfassung«, beharrte Levasseur, nachdem sie einen Schluck Kaffee genommen hatte.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Instantkaffee. Ekelhaft. Bonanza holte ein Notizbuch aus der Tasche und begann vorzutragen, was er notiert hatte.

»Sie sagte mir, ihr Name sei Viviane. Sie haben ihren Zustand ja gesehen. Sie ist unterernährt. Ihre Haut ist an vielen Stellen aufgeritzt. Bei einer ersten Untersuchung hat man festgestellt, dass sie Hämatome in der Schamgegend hat und sowohl vaginal als auch anal penetriert worden ist. Dementsprechend geht man von einem Fall sexueller Gewalt aus … Sie erzählte irgendwas von einem furchterregenden Wesen, das sie angeblich gezwungen hat, sich zu ritzen, damit sie ihren Körper verlassen kann. Ein gewisser Adam soll ihr geholfen haben. Als die Kollegen bei der Nachbarin eintrafen, ging sie auf einen von ihnen los. Er hatte keine Ahnung, warum. Aber ich habe da so eine Idee … die Ärzte haben ihr Blut untersucht und das Ergebnis … darum habe ich Sie vorhin ja auch angerufen. Sie war vollgestopft mit Benzos. Eigentlich setzt man das zur Beruhigung ein …«

Gabrielle kannte Benzodiazepine nur zu gut. Sie nahm selber welche gegen die Angstzustände, unter denen sie seit dem Tod von Romain Le Roux litt. Sie unterbrach ihn.

»Die Hälfte der Franzosen nimmt Benzos gegen Depressionen, Bonanza. Das allein kann das Mädchen unmöglich in diesen Zustand versetzt haben.«

»Das stimmt, Capitaine. Sie meinen Benzos aus der Familie der Anxiolytika. Bei diesem Mädchen haben wir es aber mit hypnotisierenden Benzos zu tun. In kleiner Dosierung wirken sie einschläfernd, aber dieses Mädchen war durch das Rohypnol total high. Hoch dosiert löst es Unruhezustände aus, Albträume, Halluzinationen und psychotische Reaktionen. Das geht bis hin zu Persönlichkeitsveränderungen und Gewaltexzessen. Unbehandelt führt es zu suizidalen Gedanken.«

»Verstehe. Das Mädchen hat sich mit Medikamenten zugedröhnt, und ihre Typen haben sie vermutlich ein bisschen vermöbelt. Inwiefern ist das ein Fall für die Kripo?«

»Es ist insofern ein Fall für die Kripo, als sie nicht die Erste ist …«

»Die sich Drogen reinzieht, sicher nicht«, sagte Gaby spöttisch.

Der junge Polizist war verlegen, er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, um seine Unsicherheit zu überspielen. Sein Zopf löste sich, und seine blonden Haare verteilten sich rund um seinen Kopf zu einer Art Bob. Ein Frauen-Haarschnitt, stellte Gaby fest. Es war das erste Mal, seit sie zusammenarbeiteten, dass sie ihn sich genauer ansah.

»Ja, eine ganze Menge Leute berauschen sich mit Benzos, Capitaine. Aber das ist nicht das erste Opfer in diesem Zustand. Darum habe ich Sie angerufen. Vor einem Jahr wurde eine junge Frau aufgefunden, die sich das Leben genommen hatte. Genau wie diese junge Frau hier, war sie unterernährt, hatte überall Hautritzungen, und man fand Spuren von sexueller Gewalt und Zigarettenabdrücke an ihrem Körper. Auch sie war vollgepumpt mit Benzos. Ihr Konto war leergeräumt, ihre Wohnung war ein einziges Chaos. Bei dem Mädchen aus Tournefeuille, von dem ich Ihnen am Telefon erzählte, war es genauso. Und ihre Nachbarn haben mir damals die gleiche Geschichte erzählt, wie die Nachbarin dieses Mädchens.«

Endlich hatte er Gabrielles Aufmerksamkeit erregt.

»Was für eine Geschichte?«, fragte sie.

»Untadelige junge Frauen, nette Nachbarinnen, ein bisschen zurückgezogen vielleicht. Ich glaube, die aus Tournefeuille arbeitete in einer Arztpraxis. Dann lernten alle drei einen jungen Mann kennen, einen gutaussehenden Typen mit Stil, der sehr sympathisch wirkte, maghrebinischer Herkunft. Innerhalb von vier, fünf Monaten brachen sie den Kontakt zu ihren Eltern ab, verwahrlosten äußerlich immer mehr. Sie wurden ihren Nachbarn gegenüber aggressiv und bekamen oft Besuch von Männern. Bis zu dem Tag, an dem man sie tot auffand. Eine lag im Badezimmer mit aufgeschnittenen Venen. Die andere war aus dem Fenster gesprungen und befand sich in einem ähnlichen körperlichen Zustand wie diese hier. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Frauen finanziell ruiniert waren. Leergeräumtes Konto. Kein einziger Wertgegenstand in der Wohnung. Kein Handy. Der Typ war spurlos verschwunden, tauchte nie wieder auf.«

Er machte eine Pause.

»Laut Aussage der Nachbarin liegt der Fall unserer Patientin genauso. Angehörige sind nicht bekannt. Ein nettes Mädchen, sehr zurückhaltend, keine, die in irgendeiner Form auffällt, Single, zumindest bis vor neun Monaten, bis sie diesem Typen begegnete. Wie bei den anderen beiden ein Nordafrikaner. Sehr gutaussehend, sehr elegant, sehr sympathisch und offenbar sehr reich, wenn man der Nachbarin glaubt. Ich weiß, dass das allein noch kein Beweis ist. Aber diese Übereinstimmung ist zumindest beunruhigend. Zumal sich das Mädchen, nachdem sie mit dem Typen zusammenkam, sehr schnell veränderte. Sie begann die Nachbarn zu beschimpfen, verließ die Wohnung nicht mehr und bekam andauernd Besuch von irgendwelchen Typen. Wir brauchen noch eine richterliche Erlaubnis, um ihr Konto zu überprüfen, aber ich wette, es wurde geplündert. Und besagter Freund hat sich bisher auch nicht gezeigt.«

Nun verstand Gabrielle, warum Bonanza gerade sie angerufen hatte und keinen anderen Kollegen. Er vermutete, dass es sich um einen Betrüger handelte, der die jungen Frauen um den Finger wickelte und süchtig nach Benzos machte, um leichter an ihr Geld zu kommen. Ein Manipulator. Welcher andere Bulle hätte schon Lust, sich mit einem solch abgeschmackten Fall zu befassen und heimlich still und leise – hinter dem Rücken des Staatsanwalts und an der Hierarchie vorbei – eine Akte zu erstellen? Selbst wenn der Verdacht des Lieutenants stimmen sollte, war es kompliziert, eine Vergiftung nachzuweisen. Noch schwieriger wäre es, den Beweis zu erbringen, dass diese mit Benzos abgefüllten Mädchen unter dem Einfluss eines Mannes zu regelrechten Zombies wurden. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, oberflächlich betrachtet handelte es sich um Betrug, nicht um Mord. Es wäre sogar ein Leichtes, infrage zu stellen, ob es sich um einen Fall von sexueller Gewalt handelte. Es gab keine Beweise dafür, dass das Mädchen sich nicht gerne schlagen ließ. Darauf würden die Anwälte der Gegenseite sicher pochen. Gabrielle sah die Szene im Gericht schon vor sich.

Bonanza war schlau. Er wusste, dass sie schmerzhafte Erfahrung mit Mythomanen und anderen krankhaften Narzissten gemacht und noch eine Rechnung mit ihnen offen hatte. Zum ersten Mal seit dem Begräbnis von Romain Le Roux spürte sie, wie der Nebelschleier aufriss, der sie von der Welt trennte. Auch wenn sie momentan weder die verschwundene serbische Killerin festnageln noch Dominique die Visage polieren konnte, hatte sie zumindest die Möglichkeit, einen anderen Verbrecher daran zu hindern, seine Perversionen weiter auszuleben. Das war ein Anfang, und sie beschloss, sich an diesen Anfang zu klammern, wie an das Ende eines Seils und nicht locker zu lassen.

3

Als er das Auto parkte, brach ihm der kalte Schweiß aus. Ein brandneuer Mercedes blieb in diesem ärmlichen Viertel nicht unbemerkt, hier standen in der Regel nur Schrottkarren herum, keine Luxuslimousinen. Amir blickte sich besorgt um. Aber es war weit und breit niemand zu sehen, der ihm sein Auto zerkratzen könnte. Fürs Erste beruhigt ging er los. Er lief zügig, da er es hinter sich bringen wollte. In fünf Minuten würde er seine letzten Sachen geholt haben. Danach würde er diese Wohnung und die Schlampe, die darin wohnte, für immer aus seinem Gedächtnis streichen.

Eine Flut derber Schimpfwörter ging ihm durch den Kopf, er war dagegen machtlos. Diese Nutte verstand es, ihn so auf die Palme zu bringen, dass er vulgär wurde. Er ertrug diese Frau nicht mehr. Allein beim Gedanken an sie wurde ihm speiübel. Als er durch die Rue de l’Université kam, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sein Spiegelbild in einem Schaufenster zu bewundern. Er sah wirklich äußerst elegant aus in seinem Hugo-Boss-Kaschmiranzug, ein Spontankauf, den er gestern getätigt hatte. Der bewundernde Blick der Verkäuferin sprach für sich, er war darin einfach unwiderstehlich. Mit der Hand fuhr er sich durch seine schönen, dicken Haare. Kein Zweifel, er hatte Format. Diese Gewissheit machte es ihm leichter, das bescheidene Mietshaus zu betreten.

Der Fahrstuhl war mal wieder außer Betrieb. »Scheißloch!«, fluchte er, als er das Schild sah. Es machte ihn rasend, wenn irgendetwas nicht funktionierte oder kaputt war, er hasste Nachlässigkeit. Um möglichst zügig in den achten Stock zu kommen, nahm er mehrere Stufen auf einmal. Im Treppenhaus begegnete er niemandem. Als er vor der Wohnungstür stand, war er noch nicht mal außer Atem, durchtrainiert, wie er war. Er wühlte in seiner Tasche und zog einen riesigen Schlüsselbund hervor. Welche Schlüssel gehörten noch mal zu dieser Tür? Er wusste es nicht mehr so genau. Dann aber erinnerte er sich, dass es der V-förmige sein musste, der zu dem großen Schloss passte, das er vor zwei Monaten hatte anbringen lassen. Und der kleine runde gehörte zu dem anderen. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein bestialischer Gestank entgegen. Er wich einen Schritt zurück, verzog angewidert das Gesicht. Und die hatte er mal gevögelt, dieses dreckige Luder! Er nahm seine ganze Willenskraft zusammen, als ginge es nicht darum, eine Wohnung zu betreten, sondern darum, in ein Bad mit Exkrementen einzutauchen, dabei hielt er sich die Nase zu. Er musste ihr nur schnell ihren kleinen Cocktail verabreichen und seine letzten Sachen mitnehmen. Das beschränkte sich auf einen Anzug, eine Zahnbürste und ein T-Shirt, das sie unbedingt zum Schlafen hatte tragen wollen. Er wusste jetzt schon, dass sie ihm gleich wieder vorjammern würde, wie sehr sie sich dafür schämte, zur Nutte geworden zu sein. Wenn sie anfing, ihm etwas vorzuheulen, verlor er immer schnell die Fassung. Was konnte er denn dafür, dass es so weit mit ihr gekommen war?

Wo versteckte sich die dumme Kuh denn nur? Diese Frage stellte er sich immer wieder, während er mit wachsender Anspannung die Zimmer durchsuchte. Keine Spur von ihr. Die Tür war immer doppelt abgeschlossen, und sie hatte keinen Schlüssel. Sie konnte die Wohnung also unmöglich verlassen haben. Hier gab es noch nicht mal ein Mauseloch. Ungläubig wanderte sein Blick über die Unordnung. Als er sah, dass die Balkontür offen stand, versetzte es ihm einen Stoß. Sie hatte sich doch nicht etwa umgebracht? Er schüttelte den Kopf und verwarf diese These augenblicklich wieder. Schließlich war es allein an ihm, ihren Todeszeitpunkt zu bestimmen. Ohne seine ausdrückliche Erlaubnis durfte sie gar nichts. Außerdem wäre dann die Tür versiegelt gewesen.

»Diese Frauen sind doch alle gleich, man kann ihnen einfach nicht trauen«, schimpfte er laut.

Vor Wut schlug er mit der Faust gegen die Scheibe, die unter lautem Getöse in tausend Teile zersplitterte. Seine Hand, in der Glasscherben steckten, und sein neuer Anzug waren blutbesprenkelt. Er unterdrückte einen Fluch und ging ins Badezimmer, um das Blut abzuwaschen. Aber so sehr er auch an dem Jackett herumrieb, die roten Flecken wollten nicht verschwinden. Da half nur noch die Reinigung. Erneut stieß er ein paar Flüche aus. Dabei hatte sein Tag doch so gut begonnen. Allein mit einem netten Lächeln und ein paar freundlichen Worten hatte er über tausend Euro verdient. Er atmete mehrmals ein und aus und entspannte sich wieder etwas, dabei richtete er den Blick auf sein Spiegelbild. Er war wie hypnotisiert von seiner Schönheit. Sie berauschte ihn. Diese blöde Kuh hatte alles kaputt gemacht. Was war sie doch für ein Klotz am Bein! Im Grunde war es nicht schlimm, dass sie weg war. Er hätte sowieso nichts mehr aus ihr herausholen können. Er hatte sie ausgepresst wie eine Zitrone, bis auf den letzten Tropfen. Diese Idiotin wusste nichts über ihn. Sie würde schon wiederkommen. Er hatte alles unter Kontrolle. Er war der Meister. Er hielt alle Fäden in der Hand.

Während er das dachte, zog er vorsichtig die Glasscherben aus seinen Fingern. Im Arzneischränkchen gab es nichts zum Desinfizieren, das machte ihn erneut rasend. Er suchte seine Sachen zusammen und warf einen letzten Blick in die Wohnung, auf das Pretty Woman-Plakat, das halb abgerissen an der Wand hing. Er lächelte zufrieden beim Gedanken an das Drama, das dieses lächerliche Poster ausgelöst hatte, und wie brillant er das gemanagt hatte. Ohne sich noch einmal umzuwenden, verließ er die Wohnung und warf die Tür hinter sich zu. Dieses Mal sparte er sich das Abschließen. Hier gab es nichts mehr zu holen.

4

»Rechtschaffene Frauen sind demütig ergeben und geben Acht auf das, was verborgen ist, weil Allah darauf Acht gibt.«
Koran: Sure 4, Vers 34

»Samira, ich verstehe deinen Ungehorsam nicht. Warum kommst du nicht einfach wieder nach Hause? Du kannst ja arbeiten. Aber alleine wohnen … warum tust du uns das an, mein Kind?«

»Papa, worauf soll ich denn bitte warten? Dass jemand um meine Hand anhält? Ich bin zwanzig. Es wurde wirklich Zeit, dass ich ausziehe.«

»Was hast du denn gegen das Heiraten? Du warst doch immer ein anständiges, junges Mädchen. Jetzt schämen deine Mutter und ich uns für dich.«

Als sie die Es-Salam-Moschee verließen, herrschte fröhliches Stimmengewirr um sie herum, trotzdem war Samira sich sicher, dass niemandem auch nur ein einziges Wörtchen ihres Streitgesprächs entging. Sie wäre am liebsten im Boden versunken. Seit sie von Zuhause ausgezogen war, hatte ihr Vater sich angewöhnt, sie in der Öffentlichkeit wie den letzten Dreck zu behandeln. Er zog mal wieder eine Riesenshow ab, das konnte er wirklich gut, und warf ihr an den Kopf: »Deine Mutter und ich gehen mit deinen Schwestern jetzt nach Hause. Geh du nur in deine lasterhafte Wohnung zurück, und denk über meine Worte nach. Wenn du das nächste Mal den Fuß über unsere Schwelle setzt, dann nur mitsamt deinen Koffern, um wieder dein altes Zimmer zu beziehen, oder mit einem Ehemann. Natürlich einem Moslem. Aber keinesfalls alleine, mein Mädchen, nicht alleine!«

Samira berührte ihre Mutter am Arm. Die hatte bisher kein einziges Wort gesagt.

»Mama, das kannst du nicht zulassen. Soll das heißen, ich bin zu Hause nicht mehr willkommen? Mama, so sag doch etwas!«

Ihre Mutter antwortete nicht. Sie senkte den Kopf und wich ihrem Blick aus, denn sie schämte sich dafür, ihr geliebtes Mädchen im Stich zu lassen. Trotzdem wandte sie sich ab und folgte wortlos ihrem Mann. Inès und Shirine zögerten kurz, sichtlich verlegen, schlossen sich ihr dann aber an und überließen die große Schwester damit ihrem Schicksal. Die Gläubigen zerstreuten sich im Viertel. Samira wusste nicht, wo sie hingehen sollte. Zurück in die Wohnung? Oder sollte sie Laure anrufen? Sie begann ziellos umherzulaufen, fühlte sich benommen, so als hätte ihr jemand einen ordentlichen Haken verpasst. In einer Nebenstraße fiel ihr ein Mann im Anzug auf, der sich suchend umblickte. Er schien auf jemanden zu warten. Und dieser jemand war ganz offenbar Samira, denn als er sie sah, stürzte er auf sie zu und rempelte dabei einen Passanten an.

»Entschuldigen Sie, Mademoiselle.«

Sie wandte den Kopf. Meinte dieser vornehme Herr wirklich sie? Sie fand ihn einfach nur wunderbar, er war fast zu schön, um wahr zu sein. Ein Prinz, ein echter Märchenprinz. Er schien tatsächlich sie zu meinen. Schließlich stand er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, und sonst war weit und breit niemand zu sehen. Seine Schönheit verunsicherte sie dermaßen, dass sie nur bruchstückhaft mitbekam, was er ihr sagte: »Auto … gestohlen … Handy …« Es war, als versuchte sie, eine Nachricht im Radio zu dechiffrieren, die jemand vom anderen Ende der Welt sandte. Wie naiv bist du eigentlich? Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selber. Der schöne Fremde musterte sie still. Völlig verunsichert wiederholte sie das letzte Wort, das sie verstanden hatte: »Handy?«

Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren seltsam schrill. Der Prinz lächelte noch eine Spur breiter. Er verschlang sie regelrecht mit den Augen. Ihr Herz begann zu rasen, immer schneller, als wollte es aus ihrem Brustkorb ausbrechen und sich diesem schönen Unbekannten entgegenwerfen. Samira kam sich linkisch vor und wie die letzte Idiotin.

»Ja, mein Handy war im Auto. Wie gesagt, ich hatte es hier geparkt, aber offenbar wurde es gestohlen. Mein Portemonnaie war auch im Wagen. Ich müsste nur mal kurz telefonieren, damit mich jemand abholen kann.«

Da sie nach wie vor stumm blieb, fügte er hinzu: »Ich bräuchte Ihr Handy zum Telefonieren. Ich zahle Ihnen auch jeden Cent zurück, ehrlich.«

Der Prinz wirkte ernsthaft besorgt. Er war vertrauenerweckend, sah nicht aus wie jemand, der es auf ihr Telefon abgesehen hatte. Ohne den Blick von ihm zu wenden, wühlte sie in ihrer Tasche. Ihr Handy war da, wo es immer war. Sie nahm es und hielt es ihm hin.

Er griff nach dem alten Nokia-Modell und begann darauf herumzutippen, dann wandte er sich zum Telefonieren ab. Scheinbar ging gleich jemand dran, sie redeten auf Arabisch miteinander. Die junge Frau hörte seinen marokkanischen Akzent heraus, der im Vergleich zum Tunesischen sehr hart klang. Der Mann bat die Person, ihn sofort abzuholen. Er sprach sehr bestimmt, offenbar war er es gewohnt, Befehle zu erteilen. Mit seinem Gesprächspartner sprach er jedenfalls so, als wäre dieser sein Untergebener, und erteilte ihm noch eine letzte Anweisung. Dann gab er Samira ihr Handy zurück, er ließ es direkt in ihre Tasche fallen.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Wären Sie nicht da gewesen um mir zu helfen, dann wäre ich wirklich aufgeschmissen gewesen. Ich erstatte Ihnen das Geld für das Gespräch natürlich. Wie ist denn Ihr Name?«

Samira war nicht in der Lage, darauf zu antworten, sie war wie versteinert durch ihre Schüchternheit und sein selbstbewusstes Auftreten. Sie war außerstande, auch nur einen einzigen halbwegs intelligenten Satz von sich zu geben. Da fegte auf einmal ein Windstoß durch die Straße und hob ihren Schleier an. Sie hatte es versäumt, ihn nach diesem furchtbaren Streit mit ihrem Vater abzunehmen. Was bin ich doch für eine Idiotin, dachte sie, aus Ärger über ihre Vergesslichkeit. Während sie ihn zurückzog, räusperte sie sich. Sie hatte ihre Sprache wiedergefunden und erwiderte:

»Ich heiße Samira … Keine Ursache, wann sollte man denn wohl sonst Nächstenliebe zeigen und nach den Prinzipien des Koran handeln, wenn nicht nach dem Besuch der Moschee?«

Bei diesen Worten nickte der Unbekannte. Samira gelang es nach dieser Erklärung, wieder freier zu atmen. Man musste nur die richtigen Worte finden.

»Sie scheinen nicht nur Ihren Glauben zu leben, sondern sind darüber hinaus auch noch eine wunderbare Frau … mit einem Herz aus Gold, Mademoiselle.«

Das Kompliment traf sie unvorbereitet, sie spürte, wie sie bis zu den Ohren rot wurde beim Gedanken an die mahnende Stimme ihres Vaters, der sie zur Ordnung rief. Der Anstand gebot es, dass ihre Wege sich jetzt trennten. »Ich gehe dann mal weiter«, murmelte sie. Sie drehte sich um und fragte sich, warum ihr am Rücken plötzlich so heiß wurde, ob es an seinem glühenden Blick liegen konnte.