Corinna Griesbach (Hrsg.)

Monster der Woche

 

 

Horror 7

 


Corinna Griesbach (Hrsg.)

MONSTER DER WOCHE

 

Horror 7

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Februar 2017 p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 081 8

 


Vorwort

 

 

In diesem Buch erwarten Sie Monster, Bestien, Kreaturen und der Mensch im Kampf gegen das Monster, sein Sieg und seine Niederlage.

Poetische und dramatische Geschichten, entstanden aus der Faszination für das unerklärlich Nichtmenschliche, das uns im Monster begegnet.

Woher kommen die Monster? Wer hat sie erschaffen? Entspringen sie der Fantasie oder sind sie real? Sind sie Mensch, Tier oder Außerirdischer? In jedem Fall ist ihre Existenz ein Affront gegen unsere erklärbare Welt.

 

»Monster der Woche« nimmt die Idee der Monstercomics der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre auf: In wöchentlichem Rhythmus stellte sich dem Leser ein neues, unglaubliches Monster of the Week vor, in Bild und Text gegossen.

Auch das Titelbild des Grafikers Lothar Bauer ist eine Reminiszenz an die glanzvollen Anfänge der Monster- und Horrorcomics.

Das Monster finden wir nicht selten in unserer direkten Nähe, unter unseren Mitmenschen, Freunden, vielleicht auch Kriegskameraden …

 

Widmen Sie sich nun unseren dreißig Monstern und den menschlichen Helden, die gegen sie antreten, inspiriert von der Popkultur und Ausdruck unserer uralten Ängste und Träume.

Und wenn es noch nicht reicht: Bestellen Sie noch heute Ihr Lieblingsmonster in unserem Onlineshop monsterbox.eu: Wir liefern versandkostenfrei am folgenden Werktag.

 


Manfred Lafrentz: Be my Baby

 

 

Die Spannung im Saal ist mit Händen zu greifen. Wir stehen dicht an dicht. Die Mädchen mit den Beehive-Frisuren, in denen sich alte Brötchen verstecken. Die Jungs, die ihre Tollen stundenlang mit Brillantine zum perfekten Sitz geformt haben.

Neben mir stehen Horst und Klaus. Wir grinsen und knuffen uns in die Seiten. Die Aufregung. Mensch, gleich geht’s los!

Dann wird es dunkel. Die Playbackmusik setzt ein.

Bommm babomm TSCHACK! Bommm babomm TSCHACK!

Der Scheinwerfer geht an, und da stehen sie.

Ronnie, Estelle und Nedra.

Die Mädchen ganz vorn an der Bühne kreischen wie verrückt, aber eigentlich singen die Ronettes nur für uns Jungs. Wir sind die Sterne in ihren glitzernden schwarzen Augen, und sie lassen es uns spüren.

Be my baby.

Es besteht kein Zweifel daran, dass in diesem Augenblick, am 13.2.1964 um 21 Uhr 35, Ronnie das süßeste Mädchen auf dem Planeten ist. Wenn sie lässig mit den Hüften im Rhythmus der Musik zuckt und singt: I’ll make you happy baby, just wait and see, lässt diese Verheißung deine Knie zittern, und du vergisst, dass du eigentlich in Todesgefahr schwebst.

Natürlich weiß jeder im Saal, dass die Ronettes Vampirjägerinnen sind. Warum sonst sollten sie einen Abstecher von ihrer Englandtournee gemacht haben, um ausgerechnet in diese Kleinstadt nördlich von Hamburg zu kommen? In den Saal des Gasthof Naethers, der einzige Saal in diesem von der Verdammnis heimgesuchten Kaff, auf dessen Parkettboden jetzt zweihundert junge Leute tanzen und in der aufgeheizten Luft schwitzen. Die zweihundert, die übrig geblieben sind.

Die Ronettes müssen geschickt worden sein, weil es sich herumgesprochen hat, dass sich hier ein Pfuhl der Hölle befindet.

Wir haben lange auf Hilfe gehofft. Vor einer Weile ist eine Gruppe von fünf Magiern aus England unter dem Namen The Beatles herübergekommen. Hoffnung hatte sich breitgemacht. Aber dann sind diese Magier in Hamburg in einen Kampf mit Dämonen verwickelt worden. Einen von ihnen hat es erwischt, daraufhin haben sie sich auf die Insel zurückgezogen und sind seitdem nicht wieder aufgetaucht.

Aber nun sind die Ronettes da, und unsere Herzen schlagen höher, nicht nur in der Hoffnung, dass sie das Monsternest ausheben, das dieses Städtchen heimsucht wie eine schwarze, giftige Pest. Auch die Schlitze in ihren Kleidern sind aufregend.

Bommm babomm TSCHACK! Bommm babomm TSCHACK!

Der Sound des Magiers, mit dem sie in Amerika zusammenarbeiten, trägt Reinheit in unsere Herzen. Alles Böse muss weichen.

Noch sind keine Vampire da, aber sie müssen davon gehört haben, dass die Ronettes gekommen sind. Vielleicht haben sie Angst, dann müssen wir die Girls zu ihrem Nest führen. Ich bin bereit. Horst und Klaus auch.

Die Ronettes sind wunderschön. Die hohen Frisuren. Die kleinen Gesichter. So süß. Man könnte zweifeln, ob sie stark genug sind, aber ich glaube an sie. Wir glauben alle an sie, ich kann es spüren.

Dann sind sie plötzlich da, und The Edge ist dabei. Der Anführer. Der Teufel, der in diese Stadt gekommen ist, um sie heimzusuchen. Sein Gesicht ist scharf wie eine Rasierklinge. Wenn er dich ansieht, fängst du an zu bluten.

Da steht er in seinem langen schwarzen Ledermantel und schaut mit hungrigen, verschlagenen Blicken zur Bühne, wo die Ronettes noch nichts von seiner Anwesenheit bemerkt haben. Alle in der Stadt haben ihn schon trinken sehen. Einige seiner Leute waren unsere Freunde, unsere Schulkameraden. Jetzt ziehen sie mit ihm herum. Bleiche Tiere. Blutdürstige Bestien. Verloren und verdammt. Jeder von uns könnte bald zu ihnen gehören.

Ein lautes Fauchen übertönt die Musik. The Edge steht da, den Mund weit aufgerissen. Seine Tolle glänzt ölig schwarz, seine Koteletten reichen bis zum Mund, aus dem deutlich seine beiden Reißzähne hervorragen.

Die Leute springen zur Seite, drängen sich an die Wände des Saals, und eine Gasse zur Bühne bildet sich. The Edge grinst. Seine Horde grinst. Einer schnappt sich ein Mädchen aus der Menge, reißt ihm das Haar zur Seite und nähert seine Zähne dem Hals der Unglücklichen.

Die Ronettes springen von der Bühne. Ronnie wirbelt auf The Edges Gefolgsmann zu, der gerade beißen will, und schleudert ihn mit einem Fußtritt ins Gesicht zurück. Plötzlich hat sie einen Holzpflock in der Hand, irgendwo aus ihrem Kleid hervorgezaubert. Sie stößt ihn dem Vampir in die Brust, und er implodiert in einer Wolke von Staub.

The Edge und seine Monsterbande brüllen vor Wut und greifen an.

Der Kampf ist wunderschön. Estelle und Nedra stehen Ronnie in nichts nach. Sie tanzen, drehen sich, stoßen zu mit ihren Pflöcken. Überall Staubwolken. Gesichter, die ich seit dem Kindergarten kenne, verlorene Gesichter, verschwinden für immer. Goodbye, Thorsten. Goodbye, Monika.

The Edge greift Ronnie an, aber ihre Schwester und ihre Cousine stehen an ihrer Seite, treiben ihn zurück, schaffen es aber nicht, ihn zu vernichten. Er flüchtet mit dem Rest seiner Horde.

Wir jubeln. Die Ronettes sind alles das, was wir von ihnen erhofft hatten. Die Leute applaudieren ihnen, aber sie bleiben angespannt.

»We gotta destroy their nest«, sagt Ronnie.

Alle wollen ihnen zeigen, wo es ist. Sie wählen drei aus. Horst, Klaus und mich.

Draußen steht der schwarze Rolls Royce, den die Ronettes aus England mitgebracht haben. Der Fahrer hat Ähnlichkeit mit Chuck Berry. Er grinst, als wir einsteigen. Seine Augen sind hinter der schwarzen Sonnenbrille nicht zu sehen. Die Zigarette in seinem Mundwinkel glüht hell.

Horst ist auf seine Zündapp gestiegen und hat Glück. Ronnie steigt hinter ihm auf, hält sich an seiner Lederjacke fest. Er grinst glücklich. Sie fahren voraus. Klaus und ich sehen ihnen neidisch nach.

Ich sitze neben Estelle und kann es kaum glauben. Die Seite meines Körpers, an die sie sich drückt, scheint in Flammen zu stehen. Sie ist so zierlich! Der Schlitz ihres Kleides geht hinauf bis zur Hüfte. Ihre kleine Hand umklammert einen Pflock. Das Mascara um ihre Augen lässt sie wie eine Ägypterin aus uralten Zeiten aussehen.

Wir fahren zu der verfallenen Villa hinterm Bahnhof. Dort, im Keller, ist das Nest der Vampire. Jeder in der Stadt meidet den Ort. Hinter dem Haus ist der Waldrand im Mondlicht auszumachen. Der verfluchte Wald. Kreuze stehen überall an den Wegen. Ein Kreuz für jedes Opfer der Blutsauger, aber Kreuze halten sie nicht fern.

»Stay in the car, boys«, sagt Ronnie.

Durchs Wagenfenster sehen wir ihnen zu. Die Ronettes beweisen, dass sie indianische Vorfahren haben, schleichen geschmeidig auf die Villa zu und betreten sie. Wir halten es nicht aus, laufen zum Haus, beobachten durch die Fenster, wie sie kämpfen. Sie sind großartig. Ronnie und Nedra dringen in den Keller vor, wir verlieren sie aus den Augen. Estelle hält die Stellung. Mehrere Vampire greifen sie an, und sie gerät in Gefahr. Ich sehe, dass sie Hilfe braucht. Horst und ich stürmen hinein, stürzen uns auf einen der Vampire. Ich bringe ihn zu Fall. Estelle wirbelt herum und stößt ihm ihren Pflock ins Herz.

»Estelle!««, schreie ich.

Hinter ihr steht The Edge, will zubeißen. Estelle duckt sich, weicht ihm gerade noch aus. Ihr Fuß schießt hoch. Der spitze lange Stilettoabsatz ihres Schuhs bohrt sich in die Brust des Vampirs. Er zergeht in einer Wolke aus Staub, in der nur ein glänzender schwarzer Stöckelschuh bleibt.

Der Kampf geht weiter. Die Ronettes sind fantastisch. Staub bedeckt den Fußboden überall. Vampirscheiße. Wir waten darin. Die wenigen Vampire, die übrig bleiben, fliehen hinaus in die Nacht.

»Well done, boys«, sagt Ronnie, und wir sind stolz.

Das Chuck-Berry-Double trägt zwei Benzinkanister ins Haus und legt dabei eine Spur. Als er wieder herauskommt, wirft er seinen Zigarettenstummel darauf, und die Flammen explodieren zuckend in den schwarzen Gläsern seiner Sonnenbrille. Die Villa brennt lichterloh.

»It’s not just fire«, sagt Ronnie, und wir spüren es.

Es ist eine Reinigung. Es riecht nach Coca Cola, Haarspray und Rock’n’Roll. Die Vampire werden nicht mehr hierher zurückkommen können.

Die Ronettes verabschieden sich. Estelle küsst mich auf den Mund. Mein Herz setzt aus, einen Augenblick, nein, eine Ewigkeit taumele ich durch eine schwindelerregende Leere, in der ich vergehen könnte, dann setzen die Schläge wieder ein – bommm babomm TSCHACK! Bommm babomm TSCHACK! –, und während die Ronettes in ihrem Rolls Royce davonfahren, die Arme winkend aus den Fenstern gestreckt, höre ich in meinem Kopf ihre Stimmen:

Be my, be my baby,

my oooone and only baby …

 


Jan Seibert: Wendigo

 

 

Ein schönes Gefühl war es, den frischen, unberührten Schnee beim winterlichen Wandern unter den Stiefeln knirschen zu hören. Über mir leuchteten die kahlen Baumkronen des Waldes im Abendrot der untergehenden Sonne. Obgleich ich fror und mir der Kopf schmerzte, wurde mir bei diesem Anblick innerlich warm und wohl. Eigentlich hätte ich längst umkehren sollen. Es dämmerte bereits und zu Hause wartete meine Liebste in der warmen Stube auf mich.

Doch das Schauspiel der Natur war so schön anzusehen, dass ich mich verleiten ließ, tiefer in den Wald zu laufen, als es für gewöhnlich üblich war. Ich wusste noch nicht viel über diese abgelegene Region, kannte mich noch nicht gut im Dorf und in der Umgebung aus und auch die meisten Einheimischen erschienen noch fremd und begegneten mir mit eigenartig reserviertem Mistrauen, weshalb ich sie im Gegenzug häufig zu meiden versuchte.

Wir lebten noch nicht lange gemeinsam hier. Erst kürzlich, nach der Heirat, siedelten wir uns hier an. Es ist die Heimat meiner Frau. Es zog sie hierher zurück und ich folgte ihr bereitwillig.

Man sah auf den verlassenen Straßen und Wegen des Ortes nur selten Menschen. In die unberührte, weite, seelenruhige Natur verliebte ich mich dafür sofort nach der Ankunft hier. Mir half die Einsamkeit, das Fürmichsein, das ich dort erleben konnte, sehr bei der Eingewöhnung. Bald schon spazierte ich jeden Nachmittag, bis in die Abendstunden hinein, am Waldrand entlang und wagte mich immer ein kleines Stück weiter hinein als zuvor.

Meine Frau hatte mich jedoch davor gewarnt, zu leichtsinnig in die Wälder vorzudringen. Ich würde mich dabei nur verirren und unnötigen Gefahren aussetzen, immerhin sei die Natur hier weit und tief, und mancherorts dunkler, als wir Städter es heute noch wüssten. Tatsächlich, so viel konnte ich mit Sicherheit aus meinen anfänglichen Beobachtungen schließen, schien es ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, den Wald möglichst zu meiden. Ich sollte den Grund dafür erst nach einiger Zeit erfahren, als ich einmal selbst im Dorf bei Schnaps und Bier mit einem der wenigen mir freundlich geneigten Dorfbewohnern zusammensaß.

 

Das Klima, das heute herrschte, war keine dumpfe, aggressive Kälte, sondern vielmehr listig und stechend subversiv. Kalter Wind kroch mir durch Kragen und Ärmel hindurch, in die Kleidung hinein und am Körper entlang. Mittlerweile war es stockfinster geworden. Und obwohl ich mir selbst sonst sehr gewissenhaft vorschrieb, mich niemals zu weit von den hinter mir rauchenden Schornsteinen und den sonst so deutlich durch die Baumreihen schimmernden Lichtern des Dorfes zu entfernen, das um diese Jahreszeit unter dichter Schneedecke lag, war jetzt, wenn ich mich umwandte, kein Fetzen des schützenden Siedlungsrandes mehr zu sehen. Schnee wirbelte vor meinen Augen umher. Der Wind pfiff kreischend zwischen den Ästen der Bäume und Büsche hindurch. Im schwachen Mondschein riss das Geäst bedrohliche Gesten und Fratzen, oder zumindest schien es mir in der Dunkelheit so.

Der tiefste Winter hatte uns also selbst hier, am Rande der Welt, nun doch noch wahrhaftig erreicht und überzog die ganze Landschaft ohne Mühe. Seine Schneeböen fraßen den ganzen Wald um mich herum förmlich auf und nahmen mir bald die Sicht. Ein Schneesturm war aufgezogen und hatte jetzt auch mich mit eiskaltem Atem verschlungen. Ich war orientierungslos. Verirrt. Verwirrt. Verloren. Doch lief ich beständig weiter, schneller und schneller. Auch, um der Kälte zu entkommen. Immer weiter, mit jedem Schritt heftiger, stampfte ich durch den knöchelhohen Schnee, tiefer und noch tiefer in den Wald hinein.

Den Waldweg musste ich schon vor einer Weile verlassen haben und irrte nun ohne den geringsten Anhaltspunkt quer durch die wachsenden Schneemassen umher. Mir kamen bald die alten Geschichten über den Wald in den Sinn, die man seit meiner Ankunft hier wieder und wieder im Dorf erzählte. Die Leute sprachen darüber nicht direkt zu mir, aber sie ließen wie unabsichtlich zu, dass ich ihre Worte belauschte, im Wirtshaus, auf dem Markt.

»Es werden wieder Tiere gerissen. Heute früh erst wurde ein Kalb gefunden. Kopf und Schulterblatt herausgerissen.«

»Man fand das Tier verstümmelt auf der Heide, der Schnee rot vom Blut des Angriffs.«

»Vor ein paar Tagen ist schon ein Pferd im Stall des Bauern W. ausgeweidet worden. Es wurde mit offener Bauchdecke und herausgezerrten Innereien gefunden.«

»Wir haben das doch schon einmal erlebt.«

»Die Angriffe häufen sich …«

»… es ist zu befürchten, dass die Vorfälle sich auch in Zukunft wiederholen.«

»Und mit ihnen könnte das zurückkehren, was hier mittlerweile nur noch als der ›Leidenswinter‹ bezeichnet wird«, erklärte mir schließlich ein gealterter Prokurist der Dorfverwaltung, als wir eines Abends im Gasthof des Dorfes zusammensaßen.

Er war einer der wenigen Freunde, die ich hier schon gefunden hatte. Ein weiterer Rechtsbeistand sei hier dringend von Nöten, sagte er. So begann ich, dem alten Prokuristen, der vorher ganz allein das Mindeste beisammengehalten hatte, in der Dorfverwaltung zur Hand zu gehen. Man musste endlich die Unmengen alter Akten und ungeklärter Rechtsangelegenheiten aufarbeiten. Eine Menge ungeordneter Akten, Papiere, Gerichtssachen wartete auf Sichtung und Archivierung. Man scherte sich hier normalerweise nicht viel um solche Dinge.

Angefangen, so erzählte der Prokurist mir während unserer stundenlangen Sortierarbeiten, habe alles vor ungefähr einem Monat mit dem plötzlichen Verschwinden einer ganzen Schar von Lämmern über Nacht, von denen am darauffolgenden Tage nur noch die zerrissenen Knochen und Wollfetzen gefunden wurden. Nun wiederhole sich dieser nächtliche Angriffszyklus. Angeblich seien die Bauern dieser Gegend vor Jahren, mehreren Jahrzehnten schon, Opfer ähnlicher Übergriffe geworden. Über viele Jahre hinweg hätte »irgendetwas« oder »irgendjemand« die Viehbestände dezimiert. Ganze Familien und Höfe seien daran zugrunde gegangen. Dann plötzlich hätten die Angriffe aufgehört.

Bis heute könne sich niemand die Geschehnisse von damals erklären. Ebenso wenig, wieso sie endeten und wieso sich gerade nun, nach etlichen Jahren, erneut vergleichbare Vorfälle häuften. Es sei zudem nicht bekannt, um welche Art von Angreifer es sich damals gehandelt habe und heute wieder handeln müsse. »Die Spuren passen zu keinem hier heimischen Tier und sind sogar zu groß für einen herkömmlichen Luchs oder Wolf. Man kann nicht davon ausgehen, dass das Tier nur zum Überleben jagt«, hieß es in einem alten Bericht, den ich bei meiner Arbeit unter den staubigen Akten eines hohen, wankenden Stapels fand. Dazu, hieß es in den Papieren weiter, ginge es, was es auch sein mochte, viel zu verschwenderisch vor, zu lustgetrieben. Die Kampfspuren seien zu brutal, die Bisse zu gezielt. Auch das wahllose Beuteschema deute eher darauf hin, als töte das Tier gänzlich nur aus Spaß oder Genuss am Töten. Mir konnte niemand sagen, wer den besagten Bericht verfasst hatte, oder wie er unter dem staubigen Stapel vergessen werden konnte.

»Die Stallungen sind nachts immer verschlossen, sogar Wachposten stellten wir bald nach dem ersten Angriff auf, also haben wir es hier mit einem durchtriebenen Biest zu tun. Ja, ihr Großstadtmenschen glaubt an so was nicht mehr, ihr habt den Sinn für diese Zeichen verloren, aber etwas Böses weidet sich dort vor unseren Fenstern«, warnte mich der Prokurist mit seinen müden, alten, aber jetzt weit aufgerissenen Augen. Die Kadaver befanden sich zu dieser Zeit gerade zur pathologischen Untersuchung in einer entfernten städtischen Universität.

»Es bleibt doch erst einmal abzuwarten, was die Untersuchungen zutage fördern«, sagte ich ihm, als ich mich verabschiedete und meinen Mantel und Hut nahm.

»Nichts! Nichts werden die finden, die elenden Quacksalber und Städter!«, polterte er hinter mir her.

Ich stieß die schwere Holztür auf, der Schneewind schlug mit entgegen. Bevor ich hinaustrat, wandte ich mich noch einmal zu ihm um und richtete mir den Kragen möglichst eng und warm: »Wir werden sehen. Noch bin ich wohl keiner von euch. Behaltet euren starren Aberglauben noch einen Moment. Haltet ihn fern von mir. Er taugt mir noch zu nichts, als zur schauerhaften Belustigung am Kaminfeuer!«

 

Eine unheimliche Geschichte war es wirklich, schoss es mir jetzt durch den Kopf. Ein böses Wesen, ein dämonisches Tier, das angeblich schon seit Jahrzehnten in den Tiefen der dunklen Wälder lebte. Das Böse habe das Dorf niemals aus den Klauen gelassen, sich immerzu im Wald versteckt und dort überdauert, hieß es. Nur deshalb meide jeder Dorfbewohner den Wald so furchtsam. Damit aber nicht genug, denn nicht nur Tiere seien dem Wesen damals zum Opfer gefallen, auch ganze Familien habe man mit süßesten Stimmen, den Sirenengesängen ihrer Liebsten, damals in die Dunkelheit der Nacht gelockt.

Daraufhin hatten die Dorfbewohner provisorische Barrikaden am Rande des Dorfes aufgezogen. Viehwägen, Pflüge und dergleichen zu einem Wall angehäuft. Sie stellten Wachposten auf, ließen Fackeln die Nacht hindurch brennen, verhängten Ausgangssperren, doch half es nichts. Man sah viele vertraute Gesichter nie wieder. So ging es, bis die Angriffe dann plötzlich aufhörten, unvermittelt und so willkürlich, wie sie begonnen hatten.

Freilich wollte ich diese Erzählungen für reinsten Aberglauben halten, doch gäbe es dieses mysteriöse Tier wirklich, glaubte man das einmal für einen Augenblick, so müsste es folglich ja nun ganz in meiner Nähe sein. Hier. Im Wald. Ich erinnerte mich nun daran, was damals der unbekannte Verfasser in einer gequälten Handschrift quer über den verstaubten Bericht geschrieben hatte: »Wendigo.«

Ich bekam es nun doch mit der Angst zu tun und rannte. Mich verließ das Gefühl nicht, schon meinen ganzen Weg über verfolgt und beobachtet worden zu sein. Wer oder was mir aufgelauert haben könnte, wollte ich am liebsten gar nicht wissen. Ich glaubte, Stimmen zu hören. Vertraute, liebliche Stimmen, aber auch Stimmen, die hier niemand kennen konnte, weil sie aus meiner Vergangenheit, meiner Kindheit und Jugend, stammten. Ich rannte, keuchte, Baumstämme flogen wie Gitterstäbe an mir vorbei. Meinen gierigen Atem konnte ich in der kalten Luft vor mir herjagen sehen. Solange, bis ich, ich wusste kaum wie mir geschah, über eine Wurzel im Schnee stolperte und einen Abhang hinab stürzte.

Glücklicherweise dämpfte die Schneedecke, auf der ich den Hang hinunterglitt, meinen Aufprall ab. Für einen Moment lag ich regungslos am Boden im Schnee. Meine Kleidung war mittlerweile fast komplett eingeschneit oder durch den Fall von Schnee und Eis eingehüllt. Der Schnee, der sich bis in meine Schuhe und unter meine Kleidung geschlichen hatte, begann nun zu schmelzen. Ich unterkühlte, zitterte jetzt sogar. Es war ein unangenehmes Gefühl, aber ich wollte nicht aufstehen. Wie gelähmt vom Schock saß ich in der Schneedecke vergraben und sah mich langsam um.

Scheinbar war ich auf einer Waldlichtung angekommen. Der Sturmwind war fast gänzlich verschwunden und nur noch seicht und spärlich rieselten die Schneeflocken vom klaren Nachthimmel herab. Über mir prangte ein kräftiger, runder Vollmond, der die Lichtung mit seinem Schein hell ausleuchtete. Für einen Moment genoss ich die Ruhe, um zu neuen Kräften zu kommen, als ich hinter mir ein hölzernes Knacken quer über die Lichtung schallen hörte. So, als breche jemand durch sein schweres Auftreten versehentlich einen am Boden liegenden Ast entzwei. Um mich herum war es sonst totenstill. Kein Vogel, kein Wind, kein einziges Geräusch.

Langsam drehte ich mich um, ohne von Boden aufzustehen. Mein ganzer Leib zitterte, halb vor Kälte, halb vor einer mir bis dahin noch unbekannten Angst. Es war die Angst vor dem drohenden Unheil, die Angst vor dem Tod.

Am anderen Ende der Lichtung stand eine Kreatur zwischen den Bäumen, so groß und mächtig, dass sie die hohen, dicken Äste auf Kopfhöhe mit Leichtigkeit hätte herunterschlagen können. Was mir dort mit leuchtenden, rötlich-gelben Augen kalt entgegen starrte, war kein Mensch, aber auch kein Tier. Ein gewaltiger Kopf, knöchrig, wie ein mit gräulich fahler Leichenhaut bespannter Totenschädel, spitze Ohren, ein langer Kiefer und große, faulige Reißzähne. Sein Haupt reckte sich an einem länglichen dünnen Körper empor, der auf kräftigen, aber kurzen Beinen stand, dafür aber lange Arme mit riesigen, scharfen Klauen besaß, die das Wesen gegen den finsteren Himmel streckte. Es jaulte wie im Blutrausch. Es hatte meine Witterung aufgenommen.

Das Monstrum stieß einen schrillen, bestialischen Schrei aus. So unaussprechlich und mit keinem anderen wilden Geheule zu vergleichen, dass es mich zu Tode ängstigte. Es setzte auf allen vieren auf mich zu. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, denn in einer Sekunde hatte es bereits die Hälfte der weiten Lichtung in großen Sätzen überquert. Ich verschloss die Augen in Schrecken. Das Letzte, was ich sah, war ein fürchterliches Paar gelbroter, gieriger Augen, das nach mir trachtete.

Dann … Rufe auf dem Hang über mir, Schüsse, ein dumpfes Rutschen im Schnee, dann Stille.

 

Langsam öffnete ich die Augen. Nur wenige Meter vor meinen Füßen lag die Kreatur regungslos im Weiß, wie ein hoher, pelziger Hügel. Stimmen von Männern, den Hügel hinabsteigend, warnten mich, noch still zu verweilen, fragten dann nach meiner Unversehrtheit. Eine kleine Gruppe mit Gewehren. Unter ihnen war auch mein Freund, der Prokurist. »Jetzt verdanke ich ihm mein Leben«, sagte ich zu mir selbst. Sie umstellten das Biest. Man riet mir an, fortzugehen, heim ins Dorf. Weitere Schüsse schallten hinter mir durch die Nacht, nervöses Rascheln in den Baumwipfeln, Vögel flogen aufgescheucht am Himmel umher. War es vollbracht?

Während die Männer noch zurückblieben, das Biest zu untersuchen, stolperte ich steif vorwärts, ins Dorf zurück. Als ich zu Hause ankam, brach schon früh und fern der neue Tag an und vor mir glühte der Horizont feuerrot im Morgenglanz. Die Haustüre unserer Holzhütte am Rand des Dorfes stand offen. Tiefe Kratzspuren an der ganzen Innenseite. Drinnen die Möbel umher geworfen, Hausrat und Vorräte auf dem Boden verstreut. Kein Lebenszeichen. Es war, als ginge ein schmerzvoller Schrei durch die leblose, dunkle Hütte. Meine Frau war fort.

 

Heute lebe ich noch immer hier. Gänzlich zu fliehen bringe ich nicht über mich. Der Waldrand ist nicht weit vom Schlafzimmerfenster entfernt. Ich schlafe allein. Wenn ich schlafen kann. Doch ich gehe nicht mehr im Wald spazieren, auch nicht am Waldrand. Das Haus verlasse ich nur noch im Schutze des Tageslichts, verschließe noch vor der ersten Dämmerung die Fenster und Türen. Ich versuche, meinen Frieden mit den Geschehnissen in jener Nacht zu machen. So gut dies eben geht.

Ich sah die Männer niemals aus dem Wald zurückkehren. Auch im Dorf hat man sie seither nicht mehr gesehen. Man schickte Suchtrupps und Spurenleser in die Wälder, man fand – nichts. Vielleicht stimmt es, was der Alte im Wirtshaus zu mir sagte. Vielleicht wollte das Böse dieses Dorf niemals aus seinem unersättlichen Griff lassen.

Diese eine Angst verfolgt mich noch immer. Deswegen steht das geladene Gewehr jede Nacht griffbereit an meinem Nachttisch neben dem Bett. Die Idee lässt mich nicht los, die böse Vorahnung, dass es eines Nachts am Fenster über mir klopfen, schaben und kratzen wird, mir die liebste, vertrauteste Stimme vom Wald her zuruft, »Lass mich herein!«, und ich in diese riesigen, fürchterlich gelben, besessenen Augen blicke, sobald ich mich daraufhin zum Fenster hinwende. Der Albtraum verfolgt mich jede Nacht.

 


Karin Jacob: Das Becken im Keller

 

 

Ich schreibe diese Begebenheit nieder, da ich nicht weiß, wie ich sie deuten soll. Sie ereignete sich vor etlichen Jahren, als ich ein junger Mann war. Zu dieser Zeit hatte ich einen Freund mit Namen Hieronymus Bower. Wir waren seit unserer Kindheit unzertrennlich. Schon als kleiner Junge war Hieronymus von den Naturwissenschaften besessen. Ständig machte er Jagd auf irgendwelche Käfer, die er mit peinlicher Genauigkeit sezierte und untersuchte. Er sammelte Pflanzen in jedem Stadium ihres Wachstums und trocknete sie, um sie zu katalogisieren. Er hielt kleine Tiere in Käfigen, um sie genauestens zu studieren.

Diese seine Leidenschaft nahm auch mit dem Erwachsenwerden nicht ab, und, aus einer wohlhabenden Familie stammend, hinderte ihn nichts daran, seinem Forscherdrang nachzugehen. Kaum dass er alt genug war, unternahm er die wagemutigsten Expeditionen. Er bereiste die ganze Welt, zu Land oder zu Wasser, und suchte nach noch unentdecktem Leben.

In den kurzen Pausen, in denen er sich in London, seiner wie meiner Heimatstadt, aufhielt, stattete er mir häufig einen Besuch ab, wobei er mir von den Gefahren, die er überstanden, und von den außergewöhnlichen Dingen, die er gesehen hatte, berichtete. Es war ihm wohl bekannt, wie begierig ich diese Erzählungen in mich aufsog. Ich teilte seine Begeisterung für jedwede naturwissenschaftliche Entdeckung, wurde jedoch von einer starken Anfälligkeit für allerlei Gebrechen daran gehindert, selbst größere Reisen als einen Spaziergang zu unternehmen. So war ich auf die Berichte meines Freundes angewiesen, und es bereitete ihm eine fast närrische Freude, mich mit allerlei übertriebenen Ausschmückungen zu foppen.

 

Es war ein kalter Novemberabend. Ich hielt mich eben in jenem Kaffeehaus auf, in dem ich häufig mein Nachtmahl einzunehmen pflegte. Nach einer mehrwöchigen Lungenentzündung, während der ich das Bett hüten musste, hatte mir der Arzt endlich gestattet, das Haus für eine Weile zu verlassen; eine Gelegenheit, die ich sogleich dankbar ergriff.

Die Bedienung brachte mir just das Glas Sherry, das mir die nötige Bettschwere verleihen sollte, als die Tür des Kaffeehauses stürmisch aufgestoßen wurde. Im Türsturz war ein kleines Glöckchen angebracht, das nun wild hin und her schwang und klingelte.

Ich blickte auf, um den Grund dieser unhöflichen Störung zu erfahren. Durch die Tür trat niemand anderes als mein Freund Hieronymus. Er war die letzten Monate auf See gewesen, um die Lebewesen des Meeres zu erforschen. Nun war er offensichtlich heimgekehrt.

Hieronymus stand in der noch immer geöffneten Tür und blickte sich suchend um. Ich hob meine Hand, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und schließlich entdeckte er mich und eilte an meinen Tisch.

»Ich hatte gehofft, dich hier zu finden!«, rief er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. In seinen Augen lag ein fiebriger Glanz, er war stark abgemagert, und an seinem rechten Mundwinkel konnte ich die Spuren eines abheilenden Geschwürs erkennen. Ich vermutete, dass es sich um Skorbut handelte. Wie es schien, jedoch nur in einer leichten Form.

»Mein lieber Freund, du bist zurück«, hieß ich ihn ehrlich erfreut willkommen, doch Hieronymus gab keine Erwiderung. Stattdessen ließ er sich, ohne auf eine Einladung zu warten, an meinem Tisch nieder. Hieronymus hatte nie allzu großen Wert auf Höflichkeit gelegt, aber dieses rohe Verhalten war selbst für ihn außergewöhnlich.

»Du wirst nicht glauben, was ich entdeckt habe!«, rief er aus und wedelte mit den Händen vor meinem Gesicht herum. Weiter sagte er nichts. Er senkte die Hände und sein Blick wandte sich in sein Inneres.

Ich war begierig zu erfahren, welcher Fund wohl dieses ungewöhnliche Gebaren zu verantworten hatte. Aus leidvoller Erfahrung wusste ich jedoch, dass es sinnlos war, meinen Freund zu drängen. Er würde sprechen, wenn er wollte, nicht früher. Also bedeutete ich der Bedienung, ein Glas Sherry für Hieronymus zu bringen. Vielleicht würde der Alkohol seine Zunge schneller lösen.

Die Kellnerin stellte das Glas vor Hieronymus auf den Tisch, nicht ohne ihn mit einem missbilligenden Blick zu bedenken. Dies war überaus verständlich, denn seine Kleidung war schmutzig und er stank erbärmlich nach Algen und totem Fisch.

Als sich die Bedienung wieder entfernt hatte, konnte ich meine Neugier nicht länger zügeln. Ich schob Hieronymus das Glas zu und ergriff seine Hand.

»Nun, willst du mir nicht verraten, welche Entdeckung dich so in Aufregung versetzte?«, fragte ich.

Er nahm sein Glas und stürzte den Sherry in einem Zug hinunter. Ein Zittern lief durch seine Gestalt, dann schien er etwas ruhiger zu werden. Er blickte sich verstohlen um, ehe er sich über den Tisch zu mir herüber beugte.

»Eine Meerjungfrau«, flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum hören konnte.

Ich glaubte, ihn nicht richtig verstanden zu haben, denn das war absolut unmöglich. Meerjungfrauen waren Sagengestalten, entsprungen aus heidnischem Aberglauben, nichts weiter. Sie existierten nicht wirklich …

Hieronymus musste meine Gedanken in meinem Gesicht gelesen haben, denn er sagte: »Ich vermutete schon, dass du mir nicht glauben würdest. Zunächst konnte ich es selbst kaum glauben. Doch es ist alles wahr! Ich kann sie dir zeigen.« Er sprang auf und ergriff meinen Arm. »Wollen wir gehen?«

Durch meine Krankheit, während der ich mich schrecklich gelangweilt hatte, war ich äußerst empfänglich für seine Erregtheit, und so willigte ich ein, ihn zu begleiten, um dieses Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Ich schlüpfte in meinen Mantel und bezahlte meine Rechnung, während Hieronymus schon ungeduldig an der Tür auf mich wartete. Gemeinsam traten wir in die Nacht hinaus. Zum Schutz gegen die feuchte Kälte schlug ich meinen Kragen hoch. Hieronymus eilte unterdessen in schnellen Schritten die Straße entlang. Ich hatte große Mühe, mitzuhalten.

Glücklicherweise war es nicht weit bis zu dem Haus, das er bewohnte. Dennoch ging mein Atem schwer und rasselnd, als wir dort ankamen.

Hieronymus holte einen großen Schlüsselbund aus seiner Tasche und begann, umständlich die Tür zu aufzusperren. Erstaunt bemerkte ich, dass er gut ein Dutzend schwere Schlösser mit langen Ketten angebracht hatte. Jedes der Schlösser war mit einem eigenen Schlüssel zu öffnen. Ich wunderte mich sehr darüber, aber als ich ihn nach dem Zweck fragte, erhielt ich nur eine vage Antwort. Ich wollte weiter in ihn dringen, doch inzwischen war es Hieronymus gelungen, die Tür zu öffnen.

Er sah sich mit gehetztem Blick um. Als er niemanden in der Nähe entdecken konnte, zog er mich hastig ins Haus und machte sich daran, die Tür von innen ebenso kompliziert wieder zu verriegeln. Dabei murmelte er ständig leise vor sich hin.

Währenddessen stand ich in dem dunklen Gang und machte mir ernsthaft Sorgen um den gesundheitlichen Zustand meines Freundes.

»Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte ich, und Hieronymus fuhr erschrocken herum. Die Schlüssel fielen scheppernd zu Boden, doch Hieronymus schenkte ihnen keine Beachtung. In seinen Augen lag ein irrer Glanz und auf seinen Wangen hatten sich hektische rote Flecken gebildet, die ich trotz des schwachen Lichts sehen konnte. Ich streckte meine Hand nach ihm aus. »Ich befürchte, du fieberst«, sagte ich, doch seine Haut war kühl. Nur sein Puls schien mir zu schnell zu gehen. Vielleicht die Nerven, dachte ich bei mir.

»Mein Freund, geh zu Bett und lass mich einen Arzt für dich rufen«, bat ich ihn, doch er schüttelte meine Hand ab.

»Es geht mir gut, sei unbesorgt«, entgegnete er. »Komm jetzt, ich zeige dir die Meerjungfrau!«

Er schien tatsächlich zu glauben, eine solche gefangen zu haben, und das ängstigte mich. Ich schauderte innerlich und hätte am liebsten das Weite gesucht. Dennoch musste ich wissen, was es denn nun war, was er gefunden hatte.

Hieronymus entzündete eine Lampe, und ich folgte ihm durch sein Haus, hinunter in den Keller. Die Treppe mündete in einen schmalen Gang. Hier war ich noch nie gewesen, obwohl ich meinen Freund schon oft besucht hatte. Die Wände waren feucht und mit einem merkwürdigen Pilz bewachsen. Irgendwo weiter vorn hörte ich das Tropfen von Wasser. In der Luft lag ein seltsam dumpfer Geruch. Unsere Schritte hallten von den Wänden wider, und dazwischen glaubte ich, ein Flüstern zu vernehmen.

Ich vermutete, dass Hieronymus wieder Selbstgespräche führte, doch bald sollte ich feststellen, dass ich mich getäuscht hatte. Je weiter wir in das Gewölbe vordrangen, desto stechender wurde der Gestank nach Meer und desto dringlicher und beschwörender wurde das Flüstern. Es schien zu mir zu sprechen, mich zu drängen, mich zu locken.

Schließlich hielt Hieronymus vor einer eisernen Pforte inne. Wie schon die Haustür war auch diese mit zahlreichen Schlössern versehen. Er öffnete sie, eines nach dem anderen, dann stieß er die Tür auf.

Ein Schwall widerwärtig riechender Luft drang aus dem Raum dahinter heraus und verursachte mir Übelkeit. Ich keuchte und lehnte mich Halt suchend an die Wand.

Hieronymus schien von all dem unbeeindruckt. Er war bereits in den Raum getreten und hatte herumstehende Kerzen entzündet. Die Kammer wurde von einem flackernden Licht erfüllt, und was ich nun sah, versetzte mich in äußerstes Erstaunen.

Ein großer Wasserbehälter aus dickem Glas nahm den größten Teil der Fläche ein. Es musste ungeheure Mühen gekostet haben, die einzelnen Teile des Aquariums in den Keller zu schleppen und es hier aufzubauen. Der viereckige Behälter war etwa eineinhalb Mal so hoch wie ein erwachsener Mann und ungefähr doppelt so lang. Es war mir ein Rätsel, wie Glasplatten dieser Größe überhaupt durch den Gang gepasst hatten, doch von dieser Frage wurde mein Geist durch eine plötzliche Bewegung im Aquarium abgelenkt.

Ein schwaches fluoreszierendes Leuchten drang durch das Wasser und in seinem Schein sah ich ein Wesen, wie ich seinesgleichen noch nie erblickt hatte. Das Erste, was ich wahrnahm, war ein riesiger Fischschwanz, dick und mit leuchtenden Schuppen bedeckt. Der Schwanz peitschte durch das Wasser und erzeugte Wellen. Ich kniff die Augen zusammen, und dann erkannte ich, dass es sich bei dem Wesen nicht um einen Fisch handelte, wie ich zunächst angenommen hatte. Nein, denn ich sah den Oberkörper einer Frau, wohlgestaltet, mit schmalen Schultern und einer schlanken Taille. Entstellt nur durch diese grässliche Laune der Natur, statt der Beine einen Fischschwanz zu haben. Das Gesicht konnte ich zunächst nicht erkennen, es wurde von einem dichten, wogenden Schleier weißblonden Haares verdeckt. Dann ließ eine Bewegung des Wesens die Haare zur Seite fließen und eiskalte Augen fesselten mich. Es lag so viel Hass in diesem Blick, dass ich schauderte, und doch konnte ich mich nicht davon abwenden. Das Wesen bewegte die Lippen und ich vernahm ein Rauschen und Flüstern. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte.

Anders als Hieronymus, wie es schien. Er trat neben mich und ergriff meinen Arm. »Sie ist hungrig«, flüsterte er in mein Ohr. »Es ist einige Tage her, seit sie zuletzt gefressen hat. Komm, wir wollen sie füttern.«

Er geleitete mich am Aquarium entlang zu einer kleinen Treppe, die mir bislang nicht aufgefallen war. Sie führte zu einer schmalen Plattform, die am oberen Rand des Beckens befestigt war. Ein Geländer bot einen gewissen Schutz. Ich folgte Hieronymus auf die Plattform und hielt mich an der Brüstung fest. Jetzt konnte ich sehen, dass das Aquarium oben offen war. Nicht einmal ein Netz bedeckte die Öffnung. Die Kreatur schnellte aus dem Wasser hinaus und schien nach uns zu schnappen.

»Sie ist wirklich sehr hungrig«, flüsterte Hieronymus. »Bald, meine Schöne, bald. Hab noch ein wenig Geduld.«

»Was frisst sie denn?«, fragte ich leise, denn ich konnte nirgends Futter entdecken.

Hieronymus packte mich an den Schultern und sah mich mit flackerndem Blick an. »Menschen!«, zischte er mit einer Stimme, die ich nicht wiedererkannte. »Du wirst verstehen, dass ich mich nicht selbst verfüttern kann, deshalb musst du zu ihr gehen. Sei unbesorgt, sie macht es sanft. Du wirst nichts spüren.«

Noch während er sprach, versetzte er mir einen derben Stoß, der mich in das Becken werfen sollte. Irgendwie gelang es mir aber, mich an seinem Kragen festzuhalten. Hieronymus war davon so überrascht, dass er selbst ins Straucheln geriet. Er schwankte – vor, zurück, vor – dann fiel er kopfüber in das Aquarium. Fast wäre ich hinterher gestürzt. Nur mit Mühe konnte ich nach der Brüstung greifen. Ich klammerte mich daran fest und sah Hieronymus, der im Wasser strampelte. Ich wollte ihm die Hand reichen und ihn aus dem Becken ziehen, doch in eben diesem Augenblick schnellte die Kreatur heran.

Ein hoher, betörender Ton erfüllte die Luft, und Hieronymus hörte auf zu zappeln. Fast andächtig schwebte sein Körper im Wasser, sein Blick mit dem des Wesens verschränkt. Dessen Augen wirkten hypnotisierend, ich selbst verfiel ihrem Zauber und stand wie gebannt. Dann jedoch öffnete die Kreatur ihren Mund, und die spitzen Zähne, die ich erblickte, lösten endlich meine Starre und ließen mich entsetzt zurückweichen. Mit einem Schrei auf den Lippen taumelte ich nach hinten und stürzte die Treppe hinunter. Dabei musste ich das Bewusstsein verloren haben.

 

Als ich wieder zu mir kam, war von Hieronymus keine Spur zu sehen. In dem Becken schwamm die Meerjungfrau gemächlich umher. Gelegentlich näherte sie sich der Scheibe und musterte mich neugierig. Ich zwang mich, meinen Blick abzuwenden, um nicht wieder ihren Augen zu verfallen. Dann kroch ich rückwärts und tastete mich die Wand entlang, bis ich die Tür erreicht hatte. Hastig flüchtete ich aus diesem schrecklichen Raum, durch den feuchten Gang nach oben.

Während ich mit zitternden Fingern die Schlüssel vom Boden aufhob und die unzähligen Schlösser öffnete, glaubte ich erneut dieses unheimliche Flüstern zu vernehmen, das mich wieder in den Keller locken wollte. Ich summte ein Lied, um den grausigen Ton nicht hören zu müssen und endlich gelang es mir, die Tür zu öffnen. Ohne einen Blick zurück verließ ich das Haus.

Ich erlitt einen gesundheitlichen Rückfall und fieberte mehrere Wochen. Die Ärzte bangten um mein Leben. Als ich mich endlich wieder erholt hatte, war ich geneigt, das Erlebte als einen Fieberwahn abzutun. Merkwürdig an dieser ganzen Sache ist nur, dass ich von Hieronymus nie wieder etwas gehört habe. Möglicherweise ist er nie von seiner Expedition heimgekehrt.