Familienfoto, Drijenča 1958. Mutter Tomka, Schwester Marija, Mijo, Bruder Petar, Vater Rafo und Schwester Finka
In dem bosnischen Dorf Drijenča, ungefähr zwanzig Kilometer von Tuzla entfernt, verlebte ich meine Kindheit, ohne Strom, ohne Radio, ohne richtigen Spielplatz oder echten Ball, aber dennoch weitgehend sorglos und fröhlich. Die einzige technische Errungenschaft, die wir besaßen, war ein Wecker! Und dieses Gerät ließ mir keine Ruhe, ich musste es immer wieder öffnen und das geheimnisvoll darin liegende Uhrwerk bewundern. Solche Verhältnisse waren damals, in den Fünfzigern, typisch für ein bosnisches Dorf. Das Leben spielte sich auf dem Feld, am Hof, im Wald, am Fluss Drijenačica, neben Kühen und Hunden ab. Wir kletterten auf Kirschbäume, fuhren auf selbst gebastelten Skiern, meist Zaunbretter, die wir zurechtbogen, liefen im Winter in ebenso selbst gefertigten Schlittschuhen Eis auf zugefrorenen Teichen, die wir an heißen Sommertagen mit Dämmen befestigten und durchschwammen. Sogar eine dorfeigene Variante von Baseball pflegten wird. Wir spielten mit unermüdlicher Begeisterung Ring, Blischke (Anmäuerln, Tschortschik), ließen im Frühsommer die Borien, Trompeten aus der Weiderinde, erschallen, und dazwischen knallten die Tscheparen, Pistolen aus Holunderholz, in die wir Hanfknöllchen hineinpressten. Um die Osterzeit hörte man überall das Krähen unserer Ratschen und am Abend vor dem Tag des heiligen Elias erstrahlte das ganze Dorf im Feuer der Lila, das waren Fackeln, die wir aus getrockneter Kirschbaumrinde zusammenbanden und die lange und lichterloh brannten.
Von der großen, weiten Welt, bekamen wir Kinder überhaupt nichts mit. Wenn im Sommer ab und wann einige Kinder aus der Stadt aufkreuzten, und z. B. von »Dick und Doof« erzählten, hörten wir uns ihre Geschichten an, als ob sie von einem anderen Planeten stammten. Entsetzt waren wir aber, wenn uns die Älteren erzählten, dass die in der Stadt sogar beim Tisch »einen fahren lassen« – eine Handlung, die bei uns am Land einer beichtwürdigen Sünde gleichkäme.
Die Sommer meiner Kindheit waren heiß, die Winter waren kalt und schneereich, die Frühlings- und Herbstzeiten hatten je ihren eigenen Reiz, alles schien in Harmonie und Einklang mit seiner Bestimmung zu sein. Drijenča war damals auch voller Kinder. Niemand hatte die Möglichkeit, während der Schulferien in Urlaub zu fahren, und so mangelte es uns nie an Spielkameraden. Und während wir Kinder spielten, erklang in einiger Entfernung das Singen und Gelächter der jungen Frauen und Männer, die auf den Feldern arbeiteten.
Wenn es dunkel wurde, kehrten wir erschöpft in unsere Häuser mit den zwei Wohnräumen zurück, nahmen auf unseren Schemeln an der Sinija, einem runden, sehr niedrigen Tisch, Platz, aßen gemeinsam aus der Pfanne zu Abend und beteten im schwachem Licht der Petroleumlampe. So verstrich ein Tag nach dem anderen.
Dieses Dorf Drijenča, das jahrhundertelang von keiner einzigen Straße durchquert wurde, am Ufer der Panonien und Posavina gelegen, unmittelbar an der Schwelle zur Antemurale christianitatis, dem »Bollwerk der Christenheit«, wie Papst Leo X. die Kroaten im Jahr 1519 bezeichnet hatte, als sie gegen die Ausbreitung des Osmanischen Reiches nach dem heutigen Europa Widerstand geleistet hatten, bot seinen Bewohnern keineswegs ein bequemes, modernes Leben. Die Äcker am Fuße des Berges Majevica, geheimnisvoll, schön und dunkel und für uns Kinder unendlich weit, waren karg und steil und erlaubten keine ertragreiche Landwirtschaft. Meinem Großvater Marijan hatten die Kommunisten im Jahre 1945 fast das gesamte Hab und Gut geraubt und ihn für einige Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil er es abgelehnt hatte, seinen relativ großen Besitz in eine Volksgenossenschaft (Kolhos) eingliedern zu lassen. Die Volksregierung machte darauf kurzen Prozess, beschlagnahmte sein gesamtes Vermögen, ein Partisanengericht verurteilte ihn als Volksfeind zu drei Jahren Haft, und er wurde darauf nach Foča am Drina-Fluss in den Kerker verfrachtet. So wurden wir aus einer reichen Bauernfamilie über Nacht buchstäblich zu Hungerleidern. Erst Jahre später, nachdem Großvater aus dem Gefängnis entlassen wurde, bekam er einen Teil seines Besitzes wieder. Auch anderen Bauern aus der Gegend erging es wie uns. Ich erinnere mich an Mato Pavlović, genannt Beg, an Mijo Stjepić-Mandić und andere, die ebenfalls verhaftet und enteignet wurden.
Ab dem Jahre 1960 ging ich ins benachbarte Šibošnica, ungefähr zwei Kilometer von uns entfernt, in die Grundschule, im Sommer barfuß, und sonst in Gummistiefeln. In der Schule bekamen wir zur Mahlzeit eine Schnitte Brot und eine Schale Milch, die aus Milchpulver angerührt wurde. Das Pulver stammte aus einer ausländischen Spendenaktion, ich erinnere mich noch, dass die Säcke englische Beschriftungen trugen. Manche Kinder erhielten auch Kleidung vom Roten Kreuz. Die Schule in Šibošnica nahm Schüler aus mehreren Dörfern in der Umgebung auf, allerdings war Drijenča das einzige mit kroatischer Bevölkerung. Gleich am Anfang verbot uns unser Lehrer Dušan den katholischen Gruß Hvaljen Isus (»Gelobt sei Jesus Christus«), der seit eh und je bei uns üblich war, und es noch heute ist. Für uns Kinder aus Drijenča war die Begrüßung mit »Guten Tag« damals ausschließlich kommunistische, also atheistische Gepflogenheit.
Schläge durch die Lehrer waren alltäglich. Wir wurden aus jedem noch so geringen Anlass geschlagen. Mangelhafte Hausaufgaben waren ein hinreichender Grund dafür, oder auch wenn wir zu spät zum Unterricht kamen oder wenn wir keinen Sliwowitz von zu Hause mitgebracht hatten! Der Lehrer gab uns, der Reihe nach, jeden Samstag eine leere Flasche mit, die von den Eltern mit Schnaps gefüllt werden sollte, und wenn ein Schüler oder eine Schülerin die Flasche einmal leer zurückbrachte, setzte es regelmäßig Schläge. Lehrer, Milizionäre und Steuereintreiber galten als unantastbare Autoritäten, sodass niemand es wagte, eine solche Handlungsweise in Frage zu stellen. Manche Eltern kamen sogar in die Schule und verprügelten die eigenen Kinder vor den Augen der Mitschüler, wenn ihnen der Lehrer gemeldet hatte, dass das Kind nicht spurte oder schlecht lernte!
Eines der größten Vergnügen war es für uns, wenn wir mit den Eltern auf Besuch bei Verwandten oder Freunden waren und aus den dämmrigen, von Petroleumlampen spärlich erhellten Ecken den abenteuerlichen Geschichten lauschen durften, die unsere Großväter, um sich wichtig zu machen manchmal sogar auf Deutsch, aus der k.u.k.-Zeit erzählten. Natürlich machten sich manche dabei ein wenig wichtig und brüsteten sich mit ihren Erfahrungen, aber uns Kindern ersetzten diese Stunden Märchenbücher, Radio und Fernsehen. Manchmal jedoch, wenn es um politische Dinge ging, z. B. über Stjepan Radić1 oder andere kroatische Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte, zogen sich die Erwachsenen in andere Räume zurück, damit die Kinder nichts hörten, was sie dann womöglich in der Schule ausplaudern könnten. Und was taten wir Kinder? Wir lauschten heimlich, wie sollte es auch anders sein.
Auf diese Weise erfuhr ich zum Beispiel, was mit meinem ältesten Onkel Blaško geschehen war. Er war Domobran2 und zu Weihnachten 1943 auf Urlaub nach Hause gekommen. Er hatte damals schon drei kleine Kinder. Vor dem Haus erschienen plötzlich serbische Partisanen in deutschen Uniformen. Sie redeten ihn auf Deutsch an, und während er sich mit ihnen unterhielt, schnappten sie ihn und legten ihn in Fesseln. Ungefähr zur selben Zeit und mit demselben Trick entführten sie auch einen gewissen Nikola Mandić aus dem benachbarten Dorfteil Toljaci. In einem Bach in der Nähe unseres Hofes rissen sie ihm brutal den Schnauzbart aus und brachten ihn dann zusammen mit Onkel Blaško zunächst ins Dorf Piperi, eigentlich eine Tschnetnik-Hochburg, und weiter in das Partisanendorf Jablanica. Weil weder mein Onkel noch Nikola Mandić bereit waren, sich den Partisanen anzuschließen, wurden sie brutal ermordet. Erst ein halbes Jahr später, als Jablanica durch deutsche Soldaten erobert wurde, konnte mein Großvater Marijan den Leichnam seines Sohnes heimbringen und im Familiengrab bestatten.
Auf der anderen Seite kamen die (kroatischen) Partisanen vom Husino – die nach dem Krieg sogar zu Volkshelden aufstiegen – Mijo Kerošević-Guja und Pejo Marković oft nach Drijenča, zechten dort gemeinsam mit den Ustaschas3 und Domobranen auf Heimurlaub. Auch sie versuchten zwar, die Drijenčaner zum Übertritt zu den Partisanen zu überreden, jedoch ohne Erfolg, und trotzdem ging man nach solchen Treffen friedlich auseinander, jeder auf seine Seite. Zum Abschied feuerten sie von den Hügeln je einen Schuss in die Luft!
Im Dorf hatten wir damals keine Kirche, sondern nur eine kleine Kapelle aus Holz. Ungefähr zehn Meter von der Kapelle gab es einen Glockenturm, ebenfalls aus Holz, der ein bisschen den Salzpumpen-Türmen in Tuzla ähnelte. Durch die Spalten in den Kapellenwänden pfiff der Wind, und im Winter fegte der Sturm sogar den Schnee auf den kleinen Altar, dass die Kerzenflammen flackerten. Diese Kälte, die flackernden Kerzen und Windstöße in der kleinen Kapelle blieben mir bis heute in Erinnerung. Vielleicht sind dies die Momente, die einen Menschen an die Orte seiner Kindheit fesseln und ihn das ganze Leben nicht loslassen? Nur gelegentlich kam der Pfarrer, Fra Stanko, nach Drijenča, um die Messe zu lesen, normalerweise gingen wir nach Breške, ungefähr 13 Kilometer von Drijenča entfernt.
Die Glocke von Drijenča ist im Laufe der Jahrzehnte zu einem wahren Symbol der tiefen Verbundenheit der Drijenčaner mit ihrem Glauben geworden. Wann immer sich dunkle Gewitterwolken über dem Dorf zusammenballten, griff man zum Glockenstrang und läutete so lange, bis die Wolken verschwunden waren! Viele, vor allem ältere Drijenčaner, darunter auch meine Mutter, schworen, dass es keinen einzigen Hagelschaden mehr im Dorf gegeben hätte, seit man die Sturmglocke läutete.
Nach Breške gingen wir jeden Sonntag selbstverständlich zu Fuß, und zwar bei jedem Wetter, im Sommer bei glühender Hitze oder heftigem Unwetter, im Winter bei Tiefschnee und klirrender Kälte. Wir Kinder mussten zuerst los, weil wir dort auch den Religionsunterricht besuchten, die Eltern kamen dann später, und um elf Uhr feierten wir gemeinsam die Messe. Zum Überdruss kam auch die damalige kirchliche Verordnung, wegen der Kommunion ab Mitternacht keine Nahrung zu sich nehmen zu dürfen, aber wir hielten auch das durch. Am liebsten hatte ich die Mitternachtsmetten zu Weihnachten, wenn ich mit dem Vater und den Onkeln nachts über das tief verschneite Majevicagebirge nach Breške ging. Einmal begegneten wir dabei sogar einem Wolf. Wir konnten ihn im hellen Mondlicht klar erkennen, er war nur wenige Meter von uns entfernt.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Drijenča das östlichste kroatisch-katholische Dorf in Bosnien ist. Es gibt dort vier katholische Pest-Friedhöfe, Stetschack-Grabsteine mit christlichen Ornamenten, aber auch eigenartige, vermutlich heidnische, Obelisken ohne jeglichen Schmuck. Dieser Teil der Posavina befand sich lange Zeit unter ungarischer Herrschaft, und es gibt nur sehr spärliche schriftliche Quellen über die Geschichte der Gegend. Mündlicher Überlieferung zufolge wurde das Dorf vorwiegend von Flüchtlingen aus allen Teilen von Bosnien und Herzegowina, vor allem aus Usora und Žepče, besiedelt. Auf der Flucht vor den Türken in Richtung des Sava-Flusses und Slawoniens (Kroatiens) fühlten sich manche schon im gebirgigen und von dichten Wäldern umgebenen Drijenča in Sicherheit und blieben gleich da.
Aus der Türkenzeit ist in Drijenča wie im übrigen Bosnien ein eigentlich schrecklicher Brauch bis heute erhalten geblieben. Fast alle älteren Frauen tragen Tätowierungen, ein Kreuz an jedem Finger und am Unterarm den Namen sowie das Geburtsdatum. Auf eine solche Weise sollte das weibliche Kind in den Augen türkischer Machthaber »wertlos« gemacht werden. Denn man erzählte sich, dass in alter Zeit viele Kinder von den Türken entführt worden seien. Manche wurden als Sklaven verkauft, andere wurden zu Janitscharen ausgebildet, wenn es sich um Jungen handelte und die Mädchen wurden in einen Harem gesteckt. Heute noch befindet sich im Besitz unserer Familie ein Waldstück, das Prosina heißt. Und in diesem Wald liegt, verborgen hinter dichten Buchenstämmen, eine Quelle, die den Namen »Haidukenwasser« trägt. Dort sollen sich christlichen Freischärler versteckt gehalten haben. Eine andere Sage berichtet, dass die Türken einmal aus dem kroatischem Dorf Zovik ein katholisches Mädchen entführt hätten, das einem ihrer Heerführer zur Frau gegeben werden sollte. Die Männer von Drijenča überfielen jedoch den Hochzeitszug auf dem Weg nach Gornja Tuzla (»Ober Tuzla«), und es kam zu einem erbitterten Kampf, in dem alle Entführer, aber auch das Mädchen den Tod fanden. Am Dorfrand von Drijenča erinnert seither ein Tschalma genannter Obelisk an dieses blutrünstige Ereignis.
Der Schutzheilige Drijenčas ist der heilige Antonius von Padua, und seit jeher ist der diesem Heiligen gewidmete 13. Juni dort ein besonderer Festtag. Er ist für die bosnisch-kroatischen Katholiken ein Symbol der Erhaltung und Verteidigung ihres Glaubens. Wie hoch er verehrt wird, mag der bekannte Scherz zeigen, wonach die Kroaten Gott bitten, er möge Ihre Anliegen dem heiligen Antonius weiterleiten. Am Festtag des heiligen Antonius wurde immer ein Hochamt im Freien gefeiert. Zahlreiche Gäste aus den benachbarten kroatischen Dörfern fanden sich ein, Missionare, Zuckerbäcker, Fotografen, Volks-Milizionäre, und für uns Kinder gab es sogar Eis und richtige Bonbons. (Unvergesslich bleiben die rot-weißen Zuckerstangen, die wie ein Spazierstock gebogen waren). Opa Mijan aus dem Dorfteil Lučići, ein weißbärtiger alter Mann, der stets in Drijenčas Volkstracht gekleidet war, scharte dann uns Kinder um sich und erzählte spannende und lustige Abenteuergeschichten. Dies war für mich damals immer etwas besonderes, vielleicht auch deswegen, weil mein Großvater Marijan starb, als ich nur dreieinhalb Jahre alt war. Als einzige Erinnerungen an ihn ist mir ein Lächeln, und das Kreuz auf seinem Sarg geblieben.
Das muslimische Dorf Nahvioci und das serbisch-orthodoxe Piperi sind die Nachbarorte von Drijenča. Von politischen Querelen oder Feindschaften wussten wir Kinder nichts. Unser Großvater lud vielmehr traditionellerweise zu Weihnachten eine befreundete serbisch-orthodoxe Familie ein, und 14 Tage später wurden dann wir nach Piperi eingeladen, wenn sie Weihnachten feierten. Eine ebenso große Freundschaft pflegte unsere Familie mit der Familie des Rašid Hodžić aus Šibošnica, der einer der angesehensten Moslems in der Gegend war.
Ziemlich viele Männer aus Drijenča arbeiteten als Kumpel in den Kohlebergwerken in Tuzla-Kreka, unter ihnen auch mein Vater Rafo. Nur an Sonntagen, weit nach Mitternacht, konnte er uns besuchen kommen, und bereits nach dem Mittagessen am nächsten Tag musste er sich wieder auf den Weg machen, zu Fuß nach Kreka. So nahm er nach der schweren Arbeit im Kohlebergwerk Woche für Woche fünfzig Kilometer Fußmarsch auf sich, um uns für drei, vier Stunden sehen zu können. Oft erschreckten uns Nachrichten aus Tuzla über tödliche Unfälle in den Bergwerkstollen. Jedes Mal zitterten wir vor Angst, dass auch Vater darunter sein könnte. Aber er hatte Gott sei Dank Glück, und außer einem kleineren Unfall stieß ihm nie etwas zu. Aber immer wieder kamen Kameraden aus seiner nächsten Umgebung in den Stollen ums Leben. Im Frühsommer 1964 erwischte es Onkel Anto Divković. Meine Mutter weinte tagelang, nachdem man uns die Nachricht von seinem Tod überbracht hatte, blieb doch nun ihre Schwester Mara plötzlich allein mit drei kleinen Kindern zurück.
Bald begann Vater, Abendkurse zu besuchen. Nachdem er die Berufsstufe »Qualifizierter Fahrer« erlangt hatte, teilte er uns mit, dass er das Bergwerk verlassen und eine Stelle als Rettungsfahrer in Tuzla annehmen würde. Uns allen fiel ein großer Stein vom Herzen. Das war Anfang der 60er Jahre, und kurz darauf beschlossen unsere Eltern, in die Stadt zu ziehen. Vater verkaufte einen Teil unseres Landbesitzes und von dem Erlös baute er in Solina, einem Vorort von Tuzla, ein neues Haus für uns. Wir, einschließlich der Mutter, haben das neue Haus erstmals gesehen, als wir Anfang September 1965, einen Tag vorm Schulbeginn, dorthin mit einem Pferdewaggon umgezogen sind. Schweren Mutes haben wir unser Geburtsdorf verlassen, in das just zur selben Zeit endlich auch der Elektrische Strom kam. Ein Problem war aber noch zu lösen: Wir hatten eine Kuh namens Brezulja und die Mutter hat es nicht übers Herz gebracht, diese Kuh einfach »wie ein Stück Vieh« zu verkaufen, und stand ziemlich ratlos da. Diese Kuh hat uns, die wir inzwischen bereits sechs Kinder waren, praktisch ernährt. Und die Mutter wusste genau, was die Kuh für unsere Familie bedeutete. Zwei bis drei Wochen vor dem Umzug ging die Kuh durch, und lief wild herum, bis wir sie wieder einfangen konnten. Trotz aller Hilfsversuche der Nachbarn und auch des herangerannten Onkels gab es keine Hilfe mehr, Brezulja verstarb noch vor unseren Augen. Ein lautes Weinen und Winseln brach aus. Wir hatten sozusagen ein Familienmitglied verloren. Einige Männer schlugen vor, die Kuh zu schlachten und das Fleisch zu nutzen, doch Mutter lehnte rigoros ab. Stattdessen haben wir sie würdevoll in der Ecke unseres Anwesens begraben.