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Ludwig Nohl

Liszt

Eine Musikerbiografie

Ludwig Nohl

Liszt

Eine Musikerbiografie

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-30-5

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Inhaltsverzeichnis

Ein­lei­tung

1. »Les prélu­des.«

2. Di­ver­tis­se­ments hon­grois.

3. Ca­pric­cio­so.

4. Im­promp­tu.

5. Réfle­xi­ons.

I.

II.

6. Har­mo­nies poéti­ques.

7. Con­so­la­ti­on.

8. Har­mo­nies ré­li­gieu­ses.

9. Pro­me­theus.

Die Haupt­schü­ler Liszts.

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»Trau­rig und groß ist die Be­stim­mung des Künst­lers!«

Einleitung

Im Ge­gen­sat­ze zu dem Ver­fah­ren bei den ers­ten Bio­gra­fi­en las­sen wir dies­mal, so­wie es auch der Meis­ter in sei­nem ge­wal­tigs­ten Ora­to­ri­um ge­tan, das Le­ben des Hel­den durch sei­ne Ta­ten sich selbst er­zäh­len, die sich denn eben­falls in ste­ter Stei­ge­rung vor uns auf­rol­len.

Da ist zu­nächst sei­ne ers­te Ju­gend­zeit mit ih­rer un­be­greif­ba­ren Vir­tuo­sen­schaft. Es ist ein wah­res Er­drücken der Schlan­gen in der Wie­ge, so spot­tet die­se Kraft je­der Hem­mung und Schwie­rig­keit in der Dar­stel­lung ih­rer Kunst. Da ist die Auf­nah­me neu­er Kei­me aus dem ewig frucht­ba­ren Na­tur­le­ben, vor al­lem aus der dä­mo­ni­schen Welt der Zi­geu­ner. Da ist je­nes Auf­leuch­ten des großen Men­schen in dem großen Künst­ler: es er­steht an der Rei­bung mit ei­nem ver­wand­ten Ge­nie, dem aber an­ders als bei Liszt selbst, das Letz­te, was auch dem künst­le­ri­schen Schaf­fen zu Grun­de liegt, der Ge­ni­us der Mensch­heit nicht auf­ge­gan­gen war, – wir mei­nen den großen Gei­ger Pa­ga­ni­ni, – und es be­tä­tigt sich dann so­fort mäch­tig in der Berüh­rung mit dem ein­zig eben­bür­ti­gen Künst­ler, der ihm im Le­ben be­geg­ne­te, dem er selbst aber auch durchs gan­ze Da­sein treu die große Tat ver­wirk­li­chen half, die wir heu­te in un­se­rem »Bay­reuth« be­sit­zen.

Da ist fer­ner in be­wun­derns­wer­ter Viel­sei­tig­keit die tä­ti­ge An­teil­nah­me an sämt­li­chen ent­schei­den­den geis­ti­gen Fra­gen der Zeit und der Mensch­heit: wir er­fah­ren es stau­nend aus der statt­li­chen Rei­he der »Ge­sam­mel­ten Schrif­ten«, die so­eben vor uns sich auf­tür­men. Da ist sei­ne epo­che­ma­chen­de neue Kunst­tat, die Er­schaf­fung der »Sym­pho­ni­schen Dich­tung«: sie er­gab sich ihm aus sol­cher Be­tei­li­gung an al­lem, was Poe­sie und Le­ben heißt, wie von selbst. Da ist, al­les krö­nend, das letz­te und höchs­te Werk, das er selbst sich ge­setzt, die Er­neu­ung der Kir­chen­mu­sik. Wir ver­such­ten auch dem Lai­en we­nigs­tens das Ent­schei­den­de die­ser Hocht­at an­nä­hernd zu ver­deut­li­chen.

Und da­mit auch nichts We­sent­li­ches in der Skiz­zie­rung ei­nes sol­chen fast über­rei­chen Le­bens feh­le, be­geg­nen wir dem Ge­ni­us zu­letzt noch per­sön­lich in sei­ner Schöp­fung, als »Meis­ter«! Aber so viel lie­ben­de Güte auch hier­bei wal­ten möge, es ist nicht wie Lud­wig Rich­ters ge­müt­lich-ge­mäch­li­cher Bie­nen­va­ter, es ist wie Mi­che­lan­ge­los ge­wal­ti­ger »Herr«, dem die so­eben ge­schaf­fe­ne Eva sich de­mut­voll beugt, es ist wie Pro­me­theus un­ter den ge­lieb­ten Ge­schöp­fen, die sein Hauch erst zum Le­ben be­see­len will. Und in wel­chem Maße dies ge­lun­gen, weiß die Welt aus der großen Zahl sei­ner Meis­ter­schü­ler, de­ren stol­ze Na­men uns das gan­ze Bild um­rah­men.

So wan­deln wir selbst hier wie in ei­ner neu­en Schöp­fung und er­ken­nen, dass un­se­re Tage auch in der rei­nen Kunst der Töne kei­nem an­de­ren Zeit­al­ter et­was nach­zu­ge­ben ha­ben, dass sie viel­mehr dem großen Be­sitz der Ver­gan­gen­heit manch herr­lichst dau­ern­des Edel­stück hin­zu­ge­fügt ha­ben.

1. »Les préludes.«

»Wie­der ein jun­ger Vir­tuo­se, gleich­sam aus den Wol­ken her­un­ter­ge­fal­len, der zur höchs­ten Be­wun­de­rung hin­reißt. Es grenzt ans Un­glaub­li­che, was die­ser Kna­be leis­tet, und man wird in Ver­su­chung ge­führt, die phy­si­sche Mög­lich­keit zu be­zwei­feln, wenn man den jun­gen Rie­sen Hum­mels schwe­re Kom­po­si­ti­on her­ab­don­nern hört«, so lau­tet ein Wie­ner Be­richt über den kaum elf­jäh­ri­gen Kna­ben, und nur ein Jahr spä­ter hö­ren wir Pa­ris förm­lich Wun­der schrei­en über die­se nie ge­se­he­ne Er­schei­nung: wie einst bei dem Kna­ben Mo­zart in Nea­pel muss auch hier das Kla­vier her­um­ge­dreht wer­den, da­mit man se­hen kön­ne, was man bloß zu glau­ben nicht ver­mö­ge. Da­bei wer­den die lie­bens­wür­di­gen mensch­li­chen Ei­gen­tüm­lich­kei­ten des jun­gen Künst­lers an­ge­deu­tet, die spä­ter eben­so das Ent­zücken al­ler Welt wur­den wie sein Spiel. »Sei­ne Au­gen glän­zen von Le­ben, Mut­wil­len und Freu­de, er wird nicht zum Kla­vier ge­führt, er fliegt dar­auf zu, man klatscht, und er scheint über­rascht, man klatscht von Neu­em, und er reibt sich die Hän­de«, heißt es hier, und dann wird das na­tio­na­le Ele­ment, der be­geis­ter­te Un­ge­stüm und die si­che­re Ori­gi­na­li­tät, wie an­de­rer­seits be­zeich­nen­der­wei­se der »männ­lich stol­ze Aus­druck« her­vor­ge­ho­ben, der ihn eben als »hun­ga­ri­sches Wun­der­kind« zeich­ne. Wir wol­len die­sen Spu­ren sei­ner Ei­gen­tüm­lich­keit nach­ge­hen, und zwar vor al­lem nach ei­nem län­ge­ren bio­gra­fi­schen Be­rich­te, der of­fen­bar in den Haupt­zü­gen sei­ner ei­ge­nen Mit­tei­lung ent­spros­sen, am An­fan­ge der drei­ßi­ger Jah­re in der ers­ten Pa­ri­ser Mu­sik­zei­tung, in der vor we­nig Jah­ren ein­ge­gan­ge­nen »Re­vue et ga­zet­te mu­si­ca­le« stand.

Franz Liszt ist am 22. Ok­to­ber 1811 zu Rai­ding bei Öden­burg ge­bo­ren. Das Ko­me­ten­jahr er­schi­en sei­nen El­tern als eine gute Vor­be­deu­tung sei­ner Zu­kunft. Der Va­ter, ei­ner un­be­gü­ter­ten al­tad­li­gen Fa­mi­lie an­ge­hö­rig, ward früh in Ei­sen­stadt Rech­nungs­füh­rer bei je­nem Fürs­ten Ni­co­laus Es­ter­ha­zy, der noch Jo­seph Haydn zu sei­nem Ka­pell­meis­ter hat­te, und wenn er dem ver­ehr­ten Meis­ter des Quar­tetts per­sön­lich auch meist nur im Kar­ten­spiel nahe trat, das der­sel­be als ein­zi­ge Er­ho­lung von sei­ner stets an­ge­streng­ten Ar­beit übte, so weil­te er hier doch im­mer in ei­ner Sphä­re, die von nichts Geis­ti­gem so sehr wie von der Mu­sik er­füllt war und da­her sei­nem ei­ge­nen In­nern die reichs­te Nah­rung bot. Denn auch je­ner bes­te Schü­ler Mo­zarts, der aus­ge­zeich­ne­te Kla­vier­spie­ler Hum­mel, geb. 1778 zu Press­burg, wirk­te jah­re­lang als fürst­li­cher Ka­pell­meis­ter in Ei­sen­stadt und Es­ter­haz, und der Va­ter Liszt ward ihm per­sön­lich nä­her be­freun­det. Nie­mand hielt ihn als Kla­vier­spie­ler so hoch wie er, sein Spiel hat­te ihm einen un­ver­ge­ss­li­chen Ein­druck ge­macht. Aber er war auch selbst von Na­tur in ho­hem Gra­de mu­si­ka­lisch, spiel­te so­gar fast je­des In­stru­ment, be­son­ders Kla­vier und Cel­lo, und war nur durch die Un­gunst der Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­se ab­ge­hal­ten wor­den, sich zum völ­li­gen Mu­si­ker aus­zu­bil­den. Umso mehr über­trug er jetzt alle Träu­me und Hoff­nun­gen des Künst­ler­tums auf den äl­tes­ten Sohn, des­sen sel­te­ne An­la­gen sich schon früh zeig­ten. »Du bist vom Schick­sal be­stimmt, du wirst je­nes Künst­le­r­ide­al ver­wirk­li­chen, das mei­ne Ju­gend ver­geb­lich be­zau­bert hielt, in dir will ich mich ver­jün­gen und fort­pflan­zen«, sag­te er oft zu ihm. Und so sehr er­schi­en ihm schon jetzt al­les in des Kna­ben Da­sein von Be­deu­tung, dass er ein Ta­ge­buch über ihn führ­te und dar­in »mit der klein­lichs­ten und ängst­lichs­ten Pünkt­lich­keit ei­nes zärt­li­chen Va­ters« sei­ne Auf­zeich­nun­gen mach­te. Da heißt es denn zu­nächst aus der Erin­ne­rung je­ner Kin­des­zei­ten:

»Nach der Imp­fung be­gann eine Pe­ri­ode, worin der Kna­be ab­wech­selnd mit Ner­ven­lei­den und Fie­ber zu kämp­fen hat­te, die ihn mehr­mals in Le­bens­ge­fahr brach­ten. Ein­mal, in sei­nem zwei­ten oder drit­ten Jah­re, hiel­ten wir ihn für tot und lie­ßen sei­nen Sarg ma­chen. Die­ser be­un­ru­hi­gen­de Zu­stand dau­er­te bis in sein sechs­tes Jahr fort. In sei­nem sechs­ten Jah­re hör­te er mich ein Kon­zert von Ries in Cis­moll spie­len. Er lehn­te sich ans Kla­vier, war ganz Ohr. Am Abend kam er aus dem Gar­ten zu­rück und sang das The­ma. Wir lie­ßen’s ihn wie­der­ho­len, er wuss­te nicht, was er sang: das war das ers­te An­zei­chen sei­nes Ge­nies. Er bat un­auf­hör­lich, mit ihm das Kla­vier­spiel zu be­gin­nen. Nach drei Mo­na­ten Un­ter­richt kehr­te das Fie­ber zu­rück und nö­tig­te uns zur Un­ter­bre­chung. Die Freu­de am Un­ter­richt raub­te ihm nicht die Lust, mit Kin­dern sei­nes Al­ters zu spie­len, ob­wohl er von nun an mehr für sich al­lein zu le­ben such­te. Er blieb sich in sei­nen Übun­gen nicht gleich, doch im­mer folg­sam bis in sein neun­tes Jahr. Dies war der Zeit­punkt, wo er zum ers­ten Male öf­fent­lich spiel­te und zwar zu Öden­burg. Er spiel­te ein Kon­zert von Ries in Es­dur und fan­ta­sier­te. Das Fie­ber hat­te ihn er­grif­fen, schon ehe er sich ans Kla­vier setz­te, und ward durch das Spie­len noch ver­stärkt. Schon lan­ge zeig­te er großes Ver­lan­gen, öf­fent­lich zu er­schei­nen, er be­wies da­bei viel Un­be­fan­gen­heit und Mut.«

Was aber war, un­ter­bre­chen wir hier zu­nächst den Be­richt, die le­ben­di­ge Quel­le die­ser in­ne­ren Hin­ge­bung an die Kunst so wie der hei­ße Trieb, sie öf­fent­lich zu zei­gen? We­der Fer­di­nand Ries, der bloß die Al­lü­ren sei­nes großen Leh­rers Beetho­ven nach­ahm­te, oder auch Mo­zarts Schü­ler Hum­mel, der Haydn bei Es­ter­ha­zy nach­ge­folgt war, noch die­ser große Va­ter der mo­der­nen In­stru­men­tal­mu­sik selbst, sie konn­ten nicht ent­fernt je­nes »Ge­nie des Vor­trags« er­zeu­gen, von dem man schon da­mals die ers­ten Wun­der­din­ge sah und das eben selbst wie ein schöp­fe­ri­scher Drang die­se ju­gend­li­che See­le er­füll­te und mit hei­ßer Sehn­sucht zum Aus­druck sei­ner selbst, zum öf­fent­li­chen Vor­trag trieb. Denn da heißt es in ei­nem Pa­ri­ser Be­richt der Schu­mann­schen Mu­sik­zei­tung von 1834, er spie­le oft »zart und sanft ele­gisch«, dann wie­der »mit ei­ner sich selbst zer­knir­schen­den Lei­den­schaft«, feu­rig, ja wü­tend, so­dass man mei­ne, das Kla­vier müs­se un­ter sei­nen Fin­gern zer­bre­chen, man höre ihn wäh­rend des Spiels oft stöh­nen, rö­cheln, man sehe ihn Kopf, Au­gen, Hän­de, den gan­zen Ober­leib nach al­len Sei­ten hin hef­tig be­we­gen. Ja ein­mal war er dort ohn­mäch­tig vom Kla­vier her­ab­ge­sun­ken. Wo­her die­se un­er­hör­te Hin­ga­be an die Mu­sik, wo­her die­ses, man möch­te sa­gen Sichaus­le­ben der See­le in sei­nem Spiel?

Es gibt ein selt­sa­mes Volk, das vom Hi­ma­la­ya ver­brei­tet bis zum Ebro und dem schot­ti­schen Hoch­lan­de, nichts auf die­ser wei­ten Got­tes­welt be­sitzt als – sich selbst und die Na­tur. Nicht Haus noch Herd, nicht Staat noch ge­sell­schaft­li­che Ord­nung bin­den es, es hat kei­ne stän­di­ge Tä­tig­keit, kei­nen Be­ruf, der aus Pf­licht und Nei­gung ein fest­ge­kit­te­tes Da­sein aus­mach­te, es hat kei­ne Sit­te, kei­ne Kir­che, kei­nen Gott! Und den­noch lebt die­ses Volk seit den Jahr­hun­der­ten, die wir es ken­nen, un­ver­än­dert in Art und Zahl, doch nir­gends fi­xiert. Es sind die Zi­geu­ner, die so schein­bar nichts be­sit­zen, was die Erde dem Men­schen bie­tet und das Le­ben le­bens­wert macht. Zu­dem noch, wo sie sich zei­gen, auf das In­ner­lichs­te sind sie ver­ach­tet oder doch ge­ring ge­schätzt. Ja­wohl ha­ben sie nichts und sind wie ein von Gott ewig ver­las­se­nes, ewig elen­des Stück Men­schen­ge­schlecht. Aber eins ha­ben sie, und trotz un­se­rer Kul­tur und Kunst, ihre Mu­sik! Und wie sie nun in der Na­tur die vol­len Won­nen ei­nes Da­seins emp­fin­den, das ganz frei ist, frei von al­lem, was die nächs­te Re­gung und Nei­gung hemmt, so las­sen sie in ih­ren Wei­sen, vor al­lem aber in dem im­pro­vi­sier­ten Vor­trag der­sel­ben, die gan­ze gott­ge­ge­be­ne Frei­heit der in­ne­ren Emp­fin­dung in all ih­ren Wal­lun­gen vom stol­zes­ten mensch­li­chen Be­wusst­sein bis zur al­le­rin­nigs­ten Sehn­sucht der See­le nach Mit­tei­lu­ug an gleich­füh­len­de We­sen er­tö­nen: es ist, als wäre ih­nen die­se Mu­sik Welt und Gott, Le­ben und Glück, Son­ne und al­les Ge­dei­hen der Welt, das wir in un­se­rem ei­ge­nen In­nern an­teil­voll wi­der­hal­len füh­len. So hat Liszt selbst uns in ei­ner ei­ge­nen be­mer­kens­werts­ten Schrift die Un­be­greif­lich­keit der Fort­dau­er die­ses in Ato­me auf­ge­lös­ten al­t­in­di­schen Men­schen­stam­mes zu lö­sen ge­sucht, so er­klärt sich die grö­ße­re Un­be­greif­lich­keit, dass ein sol­ches, al­ler sitt­li­chen und geis­ti­gen Le­bens­ba­sis ent­beh­ren­des Volk eine Kunst, und zwar eine von sol­cher Ori­gi­na­li­tät, Tie­fe und Kraft be­sitzt. Hö­ren wir ihn selbst aber wei­ter, um die Wun­der­wir­kung sei­nes ei­ge­nen Vor­trags zu er­fas­sen.

»Das An­den­ken der Zi­geu­ner ver­knüpft sich mit mei­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen und ei­ni­gen ih­rer leb­haf­tes­ten Ein­drücke«, schreibt in den fünf­zi­ger Jah­ren der welt­be­rühm­te »Zau­be­rer aus Un­gar­land«. »Spä­ter wur­de ich wan­dern­der Vir­tuo­se, wie sie es in un­se­rem Va­ter­lan­de sind. Sie ha­ben die Pfäh­le ih­rer Zel­te in al­len Lan­den Eu­ro­pas auf­ge­stellt und ich durch­lief das wir­re Netz von We­gen und Pfa­den, auf dem sie im Lau­fe der Zei­ten um­her­irr­ten, in ei­ni­gen Jah­ren ihre ge­schicht­li­chen Ge­schi­cke ge­wis­ser­ma­ßen in ge­dräng­tem Bil­de wie­der­ho­lend. Ich blieb da­bei gleich ih­nen der Be­völ­ke­rung je­ner Län­der fremd, ver­folg­te gleich ih­nen mein Ide­al in ei­nem un­aus­ge­setz­ten Auf­ge­hen in der Kunst, wenn nicht in der Na­tur.« Und nun ge­steht er sich im Auf­wa­chen je­ner frü­he­s­ten Erin­ne­run­gen, dass we­nig Din­ge in je­nen ers­ten Le­bens­ta­gen ihn so leb­haft er­grif­fen ha­ben, wie das von den Zi­geu­nern an der Schwel­le je­des Palas­tes, je­der Hüt­te auf­ge­ge­be­ne Rät­sel, wenn man ih­nen das Al­mo­sen spen­de­te, um ein paar lei­se ins Ohr ge­flüs­ter­te Wor­te oder ein paar laut ge­spiel­te Tanz­me­lo­di­en, um ein paar Lie­der, wie sie kein Min­strel singt, bei wel­chen Lie­ben­de in Ent­zücken ver­sin­ken und wel­che Lie­ben­de doch nicht selbst er­fin­den kön­nen! Wie oft habe er sich nicht um Lö­sung die­ses Zau­bers ge­fragt, der über al­len wal­te und von kei­nem un­ter ih­nen ge­bro­chen wer­de. Als schmäch­ti­ger Lehr­ling ei­nes stren­gen Meis­ters, eben sei­nes Va­ters, habe er noch kei­nen an­de­ren Aus­blick in die Welt der Fan­ta­sie ge­kannt, als das ar­chi­tek­to­ni­sche Gerüst künst­lich an­ein­an­der ge­reih­ter No­ten, und wenn wir da­bei an alt­vä­te­rische Kom­po­nis­ten wie jene Hum­mel und Ries den­ken, so glau­ben wir ihm dop­pelt, dass es ihn rei­zen muss­te, den Zau­ber zu er­fas­sen, den da sicht­bar­lich vor al­ler An­gen die­se schwie­len­be­deck­ten Hän­de aus­üb­ten, wenn sie mit den Pfer­de­haa­ren über die elen­den In­stru­men­te stri­chen oder so ge­wal­tig her­aus­for­dernd das Me­tall er­klin­gen lie­ßen.

Und nun er­fah­ren wir, wie die­se Kin­der der Na­tur mit ih­rer, dem ge­heims­ten und un­will­kür­lichs­ten Re­gen der Emp­fin­dung ent­spros­se­nen Kunst ihn be­schäf­tig­ten und ihm förm­lich einen in­ne­ren Neid um ihre un­wi­der­steh­li­che Wir­kung in die des Nei­des sonst völ­lig un­fä­hi­ge See­le war­fen. Sei­ne wa­chen Träu­me sei­en von die­sen kup­fer­far­bi­gen, durch den Wech­sel der Jah­res­zei­ten und aus­schwei­fen­der Er­re­gung je­der Art früh­zei­tig wel­ken Ge­sich­tern er­füllt ge­we­sen, von die­sem trot­zi­gen Lä­cheln, den fahl­ro­ten Au­gen, wo ne­ben Blit­zen, wel­che glän­zen ohne zu leuch­ten, eine sar­do­ni­sche Ungläu­big­keit lacht. Im­mer schweb­ten ihm im Geist ihre Tän­ze vor, ihre wei­chen und elas­ti­schen, pral­len­den und her­aus­for­dern­den Be­we­gun­gen da­bei. Halb und halb tauch­te vor sei­nem geis­ti­gen Blick die Ein­sicht auf, »dass statt der Rei­hen­fol­ge neb­lig glanz­lo­ser Tage, wie sie den Hin­ter­grund un­se­rer zi­vi­li­sier­ten Welt bil­den, auf dem sich nur hie und da ei­ni­ge freu­de­strah­len­de oder schmerz­flam­men­de Mo­men­te her­vor­he­ben, die­se Men­schen sich ein tiefe­res Ge­we­be von Freu­de und Leid bil­den, wel­ches, wech­selnd von Lie­be, Ge­sang, Tanz und Wein, wie von vier Ele­men­ten der Wol­lust und des Tau­mels er­weckt und be­schwich­tigt wer­den.«

Sei­ne See­le hat­te sich früh init dem Dä­mo­ni­schen be­rührt, das wie eine Sphinx im In­nern der Na­tur thront, er hat­te die ge­heim­nis­vol­le Macht je­nes Schaf­fens emp­fun­den, das die Welt bil­det und er­hält, er fühl­te sie als sei­ne ei­gens­te in­ne­re Na­tur und Kraft, und sein Herz muss­te im tie­fen Be­wusst­sein die­ses Zau­ber­be­sit­zes umso hö­her auf­jauch­zen, als er sich zu­gleich nicht von je­ner an­de­ren Sei­te mensch­li­chen Hoch­be­sit­zes aus­ge­schlos­sen wuss­te, von der Kul­tur und hö­he­ren Kunst­bil­dung, die auch die­sem tiefs­ten Auss­trö­men na­tür­li­chen Le­bens erst den Adel und die Ho­heit des Ge­dan­kens leiht. Sein Ge­nie leuch­te­te ihm hier vor. Aber, dass es ihm wirk­lich Ge­nie, d. h. schöp­fe­ri­sche Kraft blieb, ver­dank­te er die­ser ste­ten in­ners­ten Berüh­rung mit dem ge­heim­nis­vol­len Wal­ten der schaf­fen­den Mäch­te der Na­tur. Da­her auch schon ein Pa­ri­ser Be­richt vom Jah­re 1834 über sein und das Spiel des ähn­lich dä­mo­ni­schen Pa­ga­ni­ni sagt, die Mu­sik sei ih­nen die Kunst, die den Men­schen sein hö­he­res Da­sein ah­nen las­se und aus dem Trei­ben des ge­mei­nen Le­bens in den Isi­stem­pel füh­re, wo die Na­tur in hei­li­gen, nie ge­hör­ten und doch ver­ständ­li­chen Lau­ten mit ihm spre­che.

Ver­fol­gen wir nun, wie die Wir­kung die­ses Spiels, die also of­fen­bar schon der Kna­be selbst durch sol­ches le­ben­digs­tes Wal­ten­las­sen sei­nes ur­ei­ge­nen Ge­fühls er­zeug­te, sein fer­ne­res Schick­sal be­stimm­te. Denn: »wie Trop­fen ei­ner geist­feu­ri­gen Es­senz schlu­gen die Töne der be­zau­bern­den Gei­ge an mein Ohr«, sagt er von dem großen Zi­geu­ner­vir­tuo­sen Bi­ha­ry, den er im Jah­re 1822 in Wien hör­te. »Wäre mein Ge­dächt­nis aus wei­chem Ton und jede sei­ner No­ten ein Dia­mant­na­gel ge­we­sen, sie wür­den nicht fes­ter dar­in haf­ten. Wäre mei­ne See­le eine von dem in sein Bett zu­rück­ge­kehr­ten Fluss­gott er­weich­tes Erd­reich ge­we­sen und je­der Ton des Künst­lers ein be­fruch­ten­des Sa­men­korn, er hät­te nicht tiefer in mir wur­zeln kön­nen.«

Der Va­ter führ­te ihn jetzt zum Fürs­ten Es­ter­ha­zy, in des­sen Fa­mi­lie ja das mu­si­ka­li­sche Mä­ce­na­ten­tum erb­lich war. Al­lein: »ich glau­be, dass der­glei­chen nur durch Wei­ber bei ihm ge­lin­gen«, schrieb der große Beetho­ven ein paar Jah­re spä­ter, als er ihm wie an­de­ren Fürs­ten sei­ne Mis­sa so­len­nis zur Sub­s­crip­ti­on an­bot, und woll­te sich über­haupt »kei­ner gu­ten Den­kungs­art von ihm ge­gen sich ver­se­hen«. Was soll­te also hier ge­gen­über ei­nem sol­chen blo­ßen jun­gen An­hän­ger in der Kunst Be­son­de­res ge­sche­hen? Der Fürst mach­te ihm ein Ge­schenk von ei­ni­gen hun­dert Fran­cs. »Das war we­nig für den Er­ben von Haydns Mä­cen«, fügt un­ser Be­richt hin­zu. Da­ge­gen in Press­burg, ei­ner grö­ße­ren und ge­bil­de­ten Stadt, fand der Kna­be eine ent­spre­chen­de Auf­nah­me. Ja sechs Ad­li­ge, dar­un­ter die ed­len Gra­fen Ama­dee und Sza­pa­ry setz­ten ihm auf sechs Jah­re ein Ge­halt von sechs­hun­dert Gul­den aus, das des Va­ters Wunsch er­mög­lich­te, dem Kna­ben eine wür­di­ge Aus­bil­dung zu ge­ben.

Bald dar­auf, im Jah­re 1821, fass­te der­sel­be denn auch den Ent­schluss, sei­ne Stel­le auf­zu­ge­ben und sich mit Frau und Kind in Wien nie­der­zu­las­sen. Al­lein jetzt trat ängst­li­che Be­sorg­nis sei­ner Frau, ei­ner ge­bo­re­nen Ober­ös­ter­rei­che­rin, ein, die ih­ren Lieb­ling nicht so der wech­sel­voll be­weg­ten Woge ei­ner Künst­ler­lauf­bahn preis­ge­ge­ben se­hen woll­te und zit­ternd frag­te, was wer­den sol­le, wenn nach Ablauf je­ner Zeit ihre Hoff­nung sich ver­ei­telt zei­ge. »Was Gott will!« rief der neun­jäh­ri­ge Kna­be, der mit stil­lem Ban­gen sol­cher Un­ter­re­dung ge­lauscht, ru­hig aus und hat­te so je­den Ein­wurf und jede Sor­ge der Mut­ter umso mehr be­sänf­tigt, als sie selbst ein in­nig gott­er­ge­be­nes und wahr­haft re­li­gi­öses Ge­müt be­saß.

Sechs­hun­dert Fran­cs war der un­ge­fäh­re Ver­kaufs­preis der Mo­bi­li­en, es hieß also sich ein­rich­ten. Der lie­bens­wür­di­ge und be­schei­de­ne Karl C­zerny war es, den, in Wien an­ge­kom­men, der Va­ter zum Leh­rer des Kna­ben er­wähl­te, denn Czerny war eine kur­ze Wei­le Schü­ler Beetho­vens ge­we­sen und spiel­te fast alle sei­ne Kom­po­si­tio­nen aus­wen­dig. Doch nur die wun­der­glei­che Be­ga­bung des Kna­ben be­stimm­te den über­bür­de­ten Leh­rer zur An­nah­me des­sel­ben, und als er dem­sel­ben gar Beetho­ven zu spie­len gab, hat­te er bald auch des­sen gan­ze Lie­be ge­won­nen. Denn wie moch­te, was Czerny aus päd­ago­gi­schen Grün­den an­fangs be­stimmt, den tro­cken pe­dan­ti­schen Cle­men­ti ein Kna­be spie­len, der sol­chen Feu­er­geist der Mu­sik in sich trug und sol­ches frei quel­len­de Le­ben die­ser Kunst von Ju­gend auf mit Ohren ge­nos­sen hat­te? »Wenn er in die Mu­siklä­den kam, fand er die Stücke, die man ihm gab, nie schwer ge­nug«, sagt un­ser Be­richt. »Einst zeig­te ihm ein Ver­le­ger das H­moll-Kon­zert von Hum­mel, der Kna­be blät­ter­te das Heft durch und mein­te, das sei eben nichts, das wol­le er vom Blat­te spie­len. Und dies be­haup­te­te er auch vor den ers­ten Kla­vier­spie­lern der Stadt. Die Her­ren, über das Selbst­ver­trau­en des Kna­ben er­staunt, nah­men ihn beim Wort und führ­ten ihn in den Saal, wo ein Kla­vier stand. Der Klei­ne führ­te das Kon­zert mit eben so viel Fer­tig­keit wie Si­cher­heit aus.« Es war das­sel­be, mit dem er ein Jahr spä­ter vor Beetho­ven auf­trat.