EINLEITUNG

Kinder wollen lernen! Ihre natürliche Neugier macht sie zu kleinen Forschern. Nur wenn es um die Schulaufgaben geht, scheint ihr Wissensdurst oft viel zu schnell gestillt. Lernerfolge und gute Schulbildung gelten als die wichtigsten Voraussetzungen für den Start in das Berufsleben, der hohe Leistungsdruck aber führt bei vielen Kindern zu Schwierigkeiten im Unterricht oder bei den Hausaufgaben. Schulängste begleiten Mädchen und Jungen oft jahrelang. Erkenntnisse darüber, wie Kinder erfolgreich lernen, gewinnen daher immer mehr an Bedeutung.

Herauszufinden, warum Lernen für viele Kinder so schwierig ist, zählt zu den größten Herausforderungen. Auf den entsprechenden Erkenntnissen beruht die Entwicklung neuer, hochwirksamer Lernmethoden. Computer-Lernspiele können durchaus dazugehören. Sowohl in der Schule als auch im Rahmen multimodaler Behandlungskonzepte, wie sie in der modernen Kinder- und Jugendpsychiatrie üblich sind, sollten sie sich erfolgreich einsetzen lassen – neben der intensiven Arbeit mit dem Kind in Therapie oder Schule, der Elternarbeit und einer unter Umständen notwendigen medikamentösen Behandlung.

Natürlich stellt sich die Frage, ob das Lernen am Computer wirklich sinnvoll ist in einem Alltag, der oftmals durch moderne Medien bestimmt wird – sitzen Kinder doch ohnehin oft zu lange allein vor den Bildschirmen, spielen zu wenig mit Freunden und vernachlässigen die unendlichen Möglichkeiten, die ihnen ihre Sinne, ihr Denken und ihr Fühlen schenken können. Beim Umgang mit Computer-Lernspielen muss also darauf geachtet werden, dass soziale Interaktionen mit Gleichaltrigen nicht zu kurz kommen und dass ein verantwortungsvoller Umgang mit Medien erlernt wird.

In dem hier vorliegenden Buch möchten wir die heute auf dem Markt befindliche Lernsoftware an Hand ausgewählter Beispiele vorstellen. Diese Übersicht und unsere Bewertung können selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität erheben. Unsere Zusammenstellung basiert jedoch auf langjähriger Erfahrung mit Lernschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen.

Wir beginnen mit einem Einblick in die Welt der Wissenschaften vom Lernen: Im ersten Teil des Buches wird erklärt, wie unser Gehirn beim Lernen funktioniert und was Psychologen heute über die Fähigkeit des Lernens wissen. Über eine Einführung in die wichtigsten Begriffe und Modelle der Lernpsychologie hinaus wollen wir uns dabei mit der Frage beschäftigen, inwiefern die lernpsychologischen Konzepte sowohl für das Lernen im Alltag als auch für das Konzipieren eines Computer-Lernspiels nützlich sind.

Desweiteren wird die grundlegende Bedeutung des Spiels in der Entwicklung von Kindern erläutert. Wir geben einen Überblick über die wesentlichen psychologischen Merkmale des Spielens, ordnen das Spielen nach seinen verschiedenen Formen und erörtern, was diese für die Entwicklung eines Kindes bedeuten. Aus Sicht der Entwicklungspsychologie werden auch tiefenpsychologische Aspekte des Spielens berücksichtigt.

Anschließend gehen wir der Frage nach, wie sich das Lernen in der Schule bis heute entwickelt hat und welche Bedeutung der Lernsoftware dabei mittlerweile zukommt. Da die meisten Kinder mit einer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) gerade auch unter lernschwierigkeiten leiden, greifen wir diesen Zusammenhang immer wieder auf und fassen die derzeitigen medizinischpsychologischen Modelle, diagnostischen Möglichkeiten und therapeutischen Ansätze in Bezug auf AD/HS in einem eigenen Kapitel zusammen. Wir betrachten außerdem die Einsatzmöglichkeiten von moderner Lernsoftware beim unterrichten von AD/HS-Kindern.

Schließlich wird dargestellt, woran man ein gutes Lernspiel erkennt. Neben pädagogischen und psychologischen Fragestellungen zum Lernen mittels eines „Abenteuer-Computer-Lernspiels“ gehen wir auch den gesellschaftlich relevanten Aspekten von Computerspielen nach. Dazu werden neue Erkenntnisse aus der sogenannten Medienpädagogik berücksichtigt. Im Mittelpunkt stehen hier einerseits mögliche Gefahren von Computerspielen, etwa Suchtverhalten oder die Darstellung von gewalttätigen Inhalten, und andererseits der Erwerb sogenannter Medienkompetenz, d.h. der Fähigkeit zu einem selbstbestimmten, kritischen und entwicklungsförderlichen umgang mit Medien.

Wenn Kindern das Lernen schwerfällt, brauchen sie Begleitung. Mit diesem Band hoffen wir, all jene unterstützen zu können, die sich dieser Aufgabe angenommen haben. Denn alles Spielen bedeutet: Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, anzuwenden, einzusetzen, mitzuteilen, zu erweitern und zu vertiefen – all das geht am besten mit viel Spaß und wenig Druck.

Eltern, Pädagogen und Betroffene möchten wir außerdem auf unser umfassendes AD/HS Praxishandbuch (2011) aufmerksam machen, das u.a. auch über die Themen Teilleistungsschwächen und Lernen informiert. Es wird erweitert durch ein Handbuch für Jugendliche, MyADHS.com (2010), sowie durch ein Training für junge Erwachsene, AD/HS Spots (2011). Mit dem nächsten Band in unserer Reihe, der sich bereits in Vorbereitung befindet, wenden wir uns speziell an Lehrer.

München, im Januar 2013

TEIL I – LERNEN

1          DIE
THEORETISCHEN HINTERGRÜNDE DES LERNENS

1.1       Wie lernt unser Gehirn?

Die biologischen Grundlagen des Lernens

1.1.1    Die Anatomie des Gehirns

Großhirn

Klein- und Zwischenhirn

Hirnstamm

Limbisches System

1.1.2    Die Informationsverarbeitung im Gehirn

1.1.3    Die Lernsysteme des Gehirns

1.2       Wovon hängt der Lernerfolg ab?

1.2.1    Individuelle Voraussetzungen

Wahrnehmung

Intelligenz

Aufmerksamkeit

Steuerung der Aufmerksamkeit

Störungen der Aufmerksamkeitssteuerung

Emotion und Motivation

1.2.2    Wissen und Gedächtnis

Bewerten, Einordnen, Verknüpfen

Speichermodelle

Merken und Behalten

1.2.3    Äußere Bedingungen und psychologische Hintergründe

1.3       Was lernen wir daraus für das Lernen und Lehren?

1.3.1    Was bedeuten all diese Erkenntnisse für ein Lernspiel?

1.4       Ein überblick über die klassischen Lerntheorien

1.4.1    Klassische Konditionierung

1.4.2    Operante Konditionierung

1.4.3    Integrative Ansätze

1.4.4    Theorie des sozialen Lernens

1.4.5    Gestaltpsychologie

2          LERNEN UND SCHULE

3          LERNEN MIT AD/HS

3.1       Die AD/HS-symptomatik

3.1.1    Das AD/HS-Kind im Alltag – woran kann man es erkennen?

3.1.2    Wie hilft man Kind und Eltern?

Therapieziele bei der Behandlung von AD/HS

3.2       Kinder mit Konzentrationsproblemen im Unterricht

3.2.1    Ein AD/HS-Kind im Schulalltag

3.2.2    Ein ADS-Kind im Schulalltag

3.3       AD/HS und das Lernen am Computer

3.4       AD/HS-Kinder und Lernsoftware im Unterricht

4          LERNEN UND SPIELEN – ZUR ENTWICKLUNGS-PSYCHOLOGISCHEN BEDEUTUNG DES SPIELS

4.1       spielen – Eine psychologische Bestimmung

4.2       Entwicklungsphasen des spiels

4.2.1    Vier Arten des kindlichen Spiels

Funktionsspiel

Symbolspiel

Rollenspiel

Regelspiel

4.3       spielen und die Entwicklung des selbst - Die tiefenpsychologische Perspektive

4.3.1    Spielen zur Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen

4.3.2    Spielen als Fähigkeit zur Realitätsanpassung

4.3.3    Spielen als gefahrloser sozialer Raum für Aggression

4.3.4    Entwicklungspsychologie als Basis für die Entwicklung unseres Computerspiels 2weistein

5          KRITERIEN EINES GUTEN LERNSPIELS

5.1       spielekategorien und spielbewertung

5.1.1    Offizielle Spielbewertung

Jugendschutzgesetz

Freiwillige Selbstkontrolle

5.1.2    Bewertung nach Qualitätskriterien

Ansprüche an Usability und Inhalt

5.2       spezielle pädagogische Kriterien

5.2.1    Qualitätskriterien nach Kron & Sofos

Darstellung der Inhalte

Rolle des Spielers

Technische Umsetzung

Abstimmung mit dem schulischen Lehrplan

Didaktik und Methodik

Spielerische Qualität

Motivation und Spaßfaktor

5.2.2    Bewertungskatalog nach Fritz & Fehr

5.2.3    Anforderungen an eine Lernsoftware bei AD/HS

6          COMPUTERSPIELE UND MEDIENPÄDAGOGIK

6.1       Computerspiele in der Diskussion

6.1.1    Zur Darstellung von Gewalt in Computerspielen

6.2       Computer und Sucht

6.2.1    Wie häufig benutzen Kinder einen PC?

6.2.2    Wie entsteht Computerspielsucht?

6.3       Spielwelt und Lebenswelt - Entwicklungspsychologische Aspekte von Computerspielen

6.3.1    Spielwelten und Parallelen zur Lebenswelt

6.3.2    Die Chancen im PC-Spiel

6.4       Das richtige Maß im Umgang mit dem PC

7          TIPPS FÜR ELTERN UND BETREUER

TEIL II - SPIELEN

1 COMPUTERSOFTWARE ZUM TRAINING VON WAHRNEHMUNG, KONZENTRATION UND MERKFÄHIGKEIT

2 COMPUTERSOFTWARE ZUM TRAINING BEI RECHENSCHWÄCHE UND DYSKALKULIE

3 COMPUTERSOFTWARE ZUM TRAINING bei LEGASTHENIE UND LESE-RECHTSCHREIBSCHWÄCHE

LITERATUR

IMPRESSUM

TEIL I – LERNEN

1  DIE THEORETISCHEN HINTERGRÜNDE DES LERNENS

Bereits im 19. Jahrhundert wollten Forscher wissen: Wie funktioniert eigentlich das Lernen? Allerdings sind sie dabei auf ein entscheidendes Problem gestoßen: Lernen kann man nicht direkt beobachten. Was wir sehen können, ist das Verhalten während des Lernvorgangs und die Reaktion des Lernenden nach der informationsaufnahme. Doch was geschieht während des Lernvorgangs? Wie wird das Gelernte dauerhaft festgehalten und wieder zur Verfügung gestellt?

In der Psychologie spielt Lernen eine zentrale Rolle. So wie man von Entwicklung spricht, kann auch das Leben als ein ständiger Lernprozess verstanden werden. Die Lernpsychologie (der Zweig der Psychologie, der sich vorwiegend mit den Lernvorgängen beschäftigt) definiert das Lernen als einen Erfahrungsprozess, der letztlich zu einer Verhaltensänderung führt, die nicht auf angeborenen bzw. genetischen Reaktionen beruht (Klein 1996).

Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass man aus Erfahrungen lernt: Erfahrungen, die wir in der einen Situation gesammelt haben, beeinflussen unser Verhalten in der nächsten. Die damit verbundenen Veränderungen sollen nicht etwa auf Reflexe, prägung, Instinkte oder Reifung zurückzuführen sein, die biologisch oder genetisch bedingt sind. – Reifung beispielsweise schafft zwar zum jeweils gegebenen Zeitpunkt optimale Voraussetzungen dafür, bestimmte Angebote der Umwelt lernend wahrzunehmen (Bodenmann et al. 2004), beschreibt aber nicht den Vorgang des Lernens an sich: Spricht man etwa von der Schulfähigkeit eines Kindes, meint man damit bestimmte Voraussetzungen in der Entwicklung, die das Kind zum Zeitpunkt der Einschulung mit sich bringt und durch die es sich im Schulsystem auf verschiedensten Ebenen zurechtfinden kann.

Doch wo findet die Verarbeitung der Erfahrungen aus unseren Interaktionen mit der Umgebung, die Bewertung und Einordnung von Wahrnehmungen statt, aufgrund derer wir unser Verhalten verändern? Betrachten wir zunächst die grundlegende biologische Voraussetzung: das Gehirn.

1.1  WIE LERNT UNSER GEHIRN?

Die biologischen Grundlagen des Lernens

Unser Gehirn ist äußerst aktiv, daher benötigt es enorm viel Sauerstoff und Energie. Es beansprucht zwar nur 2% der Körpermasse, aber es müssen 20% des Blutes (bezogen auf das Herzminutenvolumen) vom Herzen ins Gehirn gepumpt werden.

Das Denkorgan besitzt ca. 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die auf Speicherung und Verarbeitung von Informationen spezialisiert und an 100 Billionen Kontaktstellen (Synapsen) miteinander verbunden sind. Das bedeutet, dass jedes Neuron im Schnitt mit 1.000 anderen Neuronen verknüpft und somit von jedem beliebigen Startneuron aus in höchstens vier Schritten erreichbar ist. Die Länge aller Nervenbahnen des Gehirns eines Erwachsenen beträgt unglaubliche 5,8 Millionen Kilometer. 2,5 Millionen gebündelte Nervenfasern sind für den Input und 1,5 Millionen für den Output verantwortlich; hier kommen weitere zehn Millionen interne Verbindungen hinzu.

Den Großteil der Gehirnmasse stellen sogenannte Gliazellen (glia, griechisch: ‚Leim‘) dar. Ursprünglich nahm man an, dass sie die Nervenzellen verkleben und damit für die Stabilität des Nervengewebes sorgen. Heute weiß man, dass sie noch weitere Aufgaben übernehmen: Sie ermöglichen den Nervenzellen eine rasche Signalweiterleitung, versorgen sie mit Nährstoffen, nehmen ausgeschüttete Botenstoffe auf und bereiten diese wieder auf. Außerdem haben sie eine Schutzfunktion: Sie bilden die Blut-Hirn-Schranke, die das Hirn sowie das Immunsystem des Zentralnervensystems vor schädlichen Substanzen schützt. Darüber hinaus scheinen sie aber auch an der Informationsverarbeitung des Gehirns beteiligt zu sein.

Auf den Interaktionen in diesem enorm leistungsfähigen neuronalen Netzwerk basiert die Funktion unseres Gehirns.

1.1.1  Die Anatomie des Gehirns

Bis vor kurzer Zeit waren die Vorstellungen über den Aufbau und die Funktionsweise unseres Gehirns noch sehr stark begrenzt. Allerdings kennen wir schon seit Langem die grobe Einteilung in die vier Hauptbereiche Groß-, Klein-, Mittelhirn und Hirnstamm (einschließlich des Zwischenhirns, der Brücke und des verlängerten Rückenmarks).

Das Großhirn

Wie eine Haube sitzt das Großhirn über den anderen Hirnabschnitten. Es besteht aus zwei sehr stark gefalteten und gefurchten Halbkugeln. Diese als Hemisphären bezeichneten Halbkugeln sind durch einen dicken Nervenstrang, den sogenannten Balken, sowie einige kleinere Nervenleitungen miteinander verbunden. Dieses Aufbauprinzip dient vor allem der maximalen Oberflächenvergrößerung bei minimalem Raumverbrauch. An die intakte Struktur des Großhirns sind die wichtigsten Funktionen unserer Existenz wie Bewusstsein, Intelligenz, Wille und Gedächtnis geknüpft.

In der obersten, zwei bis vier Millimeter dicken Schicht, auch graue Substanz genannt, lassen sich mikroskopisch die sogenannten Rindenfelder lokalisieren. Durch das Zwischenhirn erhalten sie Informationen über die Wahrnehmungen der Sinnesorgane (Auge, Ohr, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn) und verarbeiten sie weiter. Dieser Prozess findet teils bewusst, teils unbewusst statt. Die Lage und die wesentlichen Aufgaben dieser Felder konnten durch Ausfälle (z. B. nach einem Schlaganfall), Untersuchungen mit elektrischer Stimulation bei Hirnoperationen und mikroskopische Techniken schon in den Pionierzeiten der Hirnforschung relativ genau festgestellt werden. Als ein Grundprinzip der Organisation zeigt sich die topologische Abbildung: Was nebeneinander auf dem Körper liegt, wird im Gehirn in den zuständigen Arealen auch nebeneinander abgebildet.

Man kann die Rindenfelder nach drei Typen unterscheiden: Die sensorischen und motorischen Felder sowie die Gedanken- bzw. Antriebsfelder, welche in den vorderen Gehirnabschnitten liegen und wahrscheinlich die Zentren des Denkens und Erinnerns darstellen.

Im Inneren des Großhirns befindet sich vorwiegend die weiße Substanz, in der die Nervenfasern (Axone) verlaufen, sowie einige kernförmige Ansammlungen von grauen Zellen, die Basalganglien. Sie verbinden die verschiedenen Teile des Nervensystems miteinander und sind eine wichtige zentrale Schaltstelle motorischer Impulse. Ihre Aufgabe ist vor allem die Steuerung von Ausmaß, Geschwindigkeit und Kraft von Körperbewegungen. Die nötigen Informationen dazu gehen im Striatum (dem „Streifenkörper“) ein, das u.a. auch im Dienst des Aufmerksamkeits- und Belohnungssystems steht.

Klein- und Zwischenhirn

Das in der hinteren Schädelgrube unter den beiden Hinterhauptspolen des Großhirns liegende Kleinhirn besteht ebenfalls aus zwei Hemisphären. Es ist vorwiegend für das Erlernen des Gleichgewichts, die Koordination und die Feinabstimmung verantwortlich. Dazu zählt beispielsweise die Fähigkeit, den Blick auf ein bestimmtes Ziel zu fixieren.

Durch das in der Mitte des Gehirns liegende, zwischen den beiden Großhirnhälften eingebettete Zwischenhirn werden alle Informationen der Sinnesorgane zum Großhirn weitervermittelt. Es enthält den Thalamus, das wichtigste, unbewusst arbeitende Integrationszentrum der allgemeinen Sensibilität: Tastsinn, Tiefensensibilität, Temperatur- und Schmerzempfindlichkeit sowie Seh- und Riechfunktion. Der Hypothalamus und die Hypophyse stellen das zentrale Bindeglied zwischen dem Hormonsystem und dem Nervensystem dar. Im Zwischenhirn entstehen Gefühle wie Freude, Angst, Wut und Traurigkeit.

Der Hirnstamm

Den untersten Gehirnabschnitt bildet der stammesgeschichtlich älteste Bereich des Gehirns, der Hirnstamm. Er steuert die meisten automatisch ablaufenden Vorgänge wie Herzschlag, Atmung und Stoffwechsel. Reflexbögen übernehmen Aufgaben, die mit höchster Geschwindigkeit und ohne bewusste Verarbeitung bzw. verzögernde Einflussnahme ablaufen müssen. Der Hirnstamm schließt an das verlängerte Rückenmark an, das die sensiblen und motorischen Bahnen durchleitet, die aus der Peripherie zu höheren Hirnzentren ziehen oder von solchen kommen.

Das limbische System

Ein spezieller Bereich des Gehirns verdient im Zusammenhang mit dem Lernprozess besondere Beachtung – und zwar das limbische System (limbus, lat. ‚Saum‘). Es ist das Randgebiet zwischen Hirnstamm und Großhirn mit seinen Verbindungen zum Zwischenhirn bzw. zu bestimmten Arealen des Großhirns und legt sich wie ein Saum um den Balken.

Das limbische System enthält zwei graue Kerne, die Amygdala (den „Mandelkern“) und den Hippocampus (das „Seepferdchen“). Beide besitzen eine wichtige Funktion besonders bei der Informationsaufnahme und -speicherung: Der Mandelkern vermittelt dabei vor allem negative Gefühle wie Stress und Furcht, der Hippocampus ist der Organisator des bewusstseinsfähigen (deklarativen) Gedächtnisses, das erlebte Episoden und Fakten registriert, kurzzeitig abspeichert und zur Großhirnrinde weiterleitet. Eine Störung des Hippocampus hat erhebliche Störungen der Merkfähigkeit zur Folge: Neue Informationen können nicht mehr länger als ein bis zwei Minuten behalten werden.

Zum limbischen System gehören ferner bestimmte aufmerksamkeitssteuernde Strukturen sowie einige in der Mitte des Zwischenhirns liegende Ansammlungen grauer Zellen, das mesolimbische System. Es ist bei angenehmen Tätigkeiten bzw. Erfolgserlebnissen an der Ausschüttung von hirneigenen Opiaten beteiligt.

Aufgabe des limbischen Systems ist vor allem die Selbst- und Arterhaltung (Ernährung, Verteidigung und Angriff, Sexualität). Beim Lernvorgang kommt es insbesondere auf die direkten Verbindungen des limbischen Systems zu den vorderen Hirnabschnitten an. Denn dort werden bewusste Emotionen, Motive, kognitive Leistungen, die Handlungs- und Impulskontrolle gesteuert.

1.1.2  Die Informationsverarbeitung im Gehirn

Auf welche Weise werden nun Informationen im Netzwerk der Neuronen weitergeleitet? Auf welche Weise interagieren die Zellen?

Die Funktion unseres Gehirns beruht auf der Übertragung elektrischer Impulse und chemischer Signale an den Kontaktstellen zwischen den jeweiligen Zellen (Nerven-, Sinnes-, Muskel-, Drüsenzellen usw.) – man spricht von der Erregungsübertragung an den Synapsen. In der Regel wird dabei das elektrische Signal (das sog. Aktionspotenzial) in ein chemisches umgewandelt: In der Ausgangszelle (d.h. präsynaptisch) wird ein elektrischer Impuls erzeugt, der die Ausschüttung von Botenstoffen (Neurotransmittern) an der Zelloberfläche (der Membran) auslöst. Die Neurotransmitter befinden sich nun zwischen den beteiligten Zellen, im sog. synaptischen Spalt. So können sie an der Membran der Zielzelle (also postsynaptisch) reagieren, indem nämlich ihre Moleküle an bestimmte Rezeptoren („Andockstellen“) gebunden werden. Damit erzeugen sie ihrerseits einen elektrischen Impuls in der Zielzelle. Von Neuronen, die auf diese Weise durch einen Input aktiviert werden, sagt man, dass sie den Input repräsentieren, die Information quasi abbilden.

Die Erregungsübertragung an einer einzelnen Synapse reicht allerdings allein nicht aus, um einen elektrischen Impuls weiterzuleiten. Nur wenn mehrere erregende Impulse gleichzeitig an verschiedenen Stellen oder in ausreichend schneller zeitlicher Abfolge in einem Neuron eintreffen, entsteht in diesem ein neues elektrisches Signal.

Synapsen können mehr oder weniger stark sein, sodass es auch von der Stärke der synaptischen Verbindung abhängt, ob ein Impuls einen großen oder eher kleinen Effekt hat. Und schließlich kann der Vorgang der Impulsübertragung durch andere Synapsen moduliert werden, die die Erregbarkeit der Zielzelle durch hemmende Impulse herabsetzen. Die Funktionsweise der neuronalen Netzwerke wird also bestimmt durch die richtige Zuordnung der Signale, die Stärke der Verbindung und das Wechselspiel zwischen erregenden und hemmenden Synapsen.

Viele bekannte Medikamente, unter anderem die bei AD/HS verwendeten Wirkstoffe Methylphenidat und Atomoxetin, aber auch Stoffe wie Koffein und Nikotin wirken (wie alle Drogen) an den Synapsen.

1.1.3  Die Lernsysteme des Gehirns

Unsere neuronalen Netzwerke können sich in Abhängigkeit von der Erfahrung bzw. den ausgeführten Lernvorgängen stets neu strukturieren. Aufgrund seiner enormen Anpassungsfähigkeit (z.B. hinsichtlich der Stärke von Synapsen oder der Übertragung von Aufgaben in andere Bereiche) spricht man auch von der Plastizität des Gehirns. Hier liegen die wesentlichen Unterschiede gegenüber den herkömmlichen Computersystemen begründet, die lediglich vorgegebenen Regeln des logischen Schließens mit klaren Zuordnungen und Rechenvorschriften gehorchen. Und so schneidet das menschliche Gehirn im Vergleich mit modernen Computern deutlich besser ab: Es schafft etwa 1013 bis 1016 analoge Rechenoperationen pro Sekunde und verbraucht dabei nur etwa 100 Watt an chemischer Leistung. Ein Supercomputer der neuesten Generation bringt es auf 3,6 x 1015 Gleitkommaoperationen pro Sekunde, benötigt dafür aber immerhin 1,2 Megawatt Strom.

Was mit den aufgenommenen Informationen im Einzelnen geschieht, wie sie in das Langzeitgedächtnis gelangen und von dort wieder abgerufen werden, blieb lange Zeit im Dunkeln. Erst die Nutzung neuer Untersuchungsverfahren vor ca. zehn bis 15 Jahren gewährte einen genaueren Einblick in die Arbeitsvorgänge des Gehirns. Die mit diesen Methoden gewonnenen Erkenntnisse der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung zeigen, dass unser Gehirn für das Lernen optimal gerüstet ist und eigentlich gar nicht anders kann, als ständig zu lernen. Es verfügt über zwei unterschiedliche Lernsysteme.

Das Lernen neuer spezifischer Details über die räumlichen, zeitlichen und sonstigen Bezüge eines bestimmten Gegenstands oder einer bestimmten Situation erfordert ein unmittelbares, schnelles und hoch automatisiertes Speichern einer Fülle von Informationen. Der kurzfristige Abruf dieser Informationen wird auch als kontextgebundene Form des Erinnerns bezeichnet (s. Opitz 2004) – wenn etwa eine bestimmte Situation, die Bearbeitung einer konkreten Aufgabe in der Schule oder am Arbeitsplatz ständig wiederholt wird und es darum geht, für die Lösung dieser Aufgabe eine optimale Vorgehensweise zu finden. Die Informationen hingegen, die über viele Erfahrungen gesammelt wurden, müssen über einen längeren Zeitraum integriert, ausgewertet und zu Erfolg versprechenden Regeln verarbeitet werden.

Im ersten Fall – der kontextgebundenen Form des Erinnerns – zeigt das Gehirn eine vermehrte Aktivität im Hippocampus, in den medialen Teilen des Schläfenlappens sowie in den Rindenarealen. Sie sind mit der Aufnahme der visuellen und/oder akustischen Signale befasst, die mit der Aufgabe im direkten Zusammenhang stehen. Im Gegensatz dazu ist bei der langfristigen Regelbildung eine erhöhte Aktivität beidseitig im Stirnhirn und in den seitlichen Teilen des Schläfenlappens zu beobachten.

In Experimenten kann man Nervenzellen im Hippocampus direkt beim Lernen beobachten. Aus solchen Experimenten weiß man, dass der Hippocampus als neu und interessant bewertete Informationen in Form von neuronalen Repräsentationen (Mustern), abbildet. Außerdem vergleicht er sie mit dem bereits abgespeicherten Material und gegebenenfalls ergänzt er sie um weitere, bisher unbekannte Aspekte. Es gibt Hinweise, dass der Hippocampus in Abhängigkeit von der Erfahrung wächst und damit umso besser funktioniert, je mehr er beansprucht wird.

1.2  WOVON HÄNGT DER LERNERFOLG AB?

Unser Gehirn ist perfekt darauf ausgerichtet zu lernen und doch, wie jeder weiß, ist das Lernen nicht immer einfach. Einerseits hängt der Lernerfolg natürlich von den individuellen Voraussetzungen des Schülers ab: von der Wahrnehmung, den kognitiven und emotionalen Möglichkeiten, von Intelligenz, Motivation, und Gedächtnisleistung. Eigenschaften wie Geduld und Ausdauer sind notwendig, denn erfolgreiches Lernen setzt auch häufiges Üben voraus, und erst wenn bestimmte regelhafte Eigenschaften des Lernstoffs an vielen Beispielen erarbeitet wurden, geht das Lernen schneller voran. Kurz: Begabte, aufmerksame und gut motivierte, fleißige Schüler lernen einfach schneller und besser. Was aber den Einzelnen interessiert und motiviert, kann außerordentlich unterschiedlich sein – spezielle individuelle Interessen können genetisch determiniert, frühkindlich festgelegt oder später erworben sein.

Andererseits sind jedoch die äußeren Bedingungen der Lernsituation nicht weniger wichtig: Die Persönlichkeit des Lehrers, die räumliche Umgebung, der wirtschaftliche und familiäre Hintergrund etwa sind Faktoren, die entscheidenden Einfluss auf den Lernerfolg haben.

1.2.1  Individuelle Voraussetzungen

Wahrnehmung

Die Grundlagen für psychische und geistige Aktivitäten wie Denken, Handeln, Wollen oder Fühlen sind die direkte und die indirekte Wahrnehmung: das Registrieren von Informationen, die Interpretation und die Zuordnung. Das Zusammenwirken dieser Elemente spielt eine entscheidende Rolle.

Wir nehmen Informationen über verschiedene Kanäle, über all unsere Sinne auf: durch das Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken. Dabei werden die Sinneskanäle unterschiedlich stark beansprucht. Die intensivste Informationsaufnahme erfolgt über den visuellen Kanal (zehn Millionen Informationseinheiten pro Sekunde), der akustische Kanal wird am zweitstärksten genutzt.

Die bevorzugte Art der Informationsaufnahme entscheidet über den Lerntyp bzw. den Lernstil – jeder hat seine Vorlieben, wie er sich Dinge am besten merken kann. Je mehr verschiedene Sinne aber angesprochen werden, umso mehr kann man im Gedächtnis abspeichern. Außerdem kommt es darauf an, welche Sinne zum Einsatz kommen: Hört man etwas, kann man 10% davon behalten. Kann man etwas sehen und hören (z.B. Vokabeln sehen und sprechen), kann man sich deutlich mehr merken (50%). Erklärt man das, was man behalten soll, auch noch zusätzlich mit eigenen Worten und kann man es sogar anwenden, so bleiben 90% der neuen Informationen im Gedächtnis. Hier ist die Kreativität derjenigen gefragt, die dem Kind den Unterrichtsstoff vermitteln wollen.

Die individuellen Lernstile sind sehr unterschiedlich (Zuhören, Beobachten, Anfassen und Fühlen, Aufschreiben, Analysieren etc.) und unterliegen kaum Veränderungen. Die in unseren Schulen vorwiegend praktizierte sprachliche Wissensvermittlung ist durchaus nicht für alle Lernenden geeignet. In Studien wurde beispielsweise festgestellt, dass der akustische Kanal bei Kindern mit einer Aufmerksamkeitsstörung meist schlechter funktioniert. Das bedeutet, dass insbesondere diese Kinder bei alleinigem Einsatz des Hörens benachteiligt sind. Ein individueller Unterrichtsstil müsste diese persönlichen Eigenschaften der Schüler berücksichtigen, um optimale Lernergebnisse zu erreichen. Bei überfüllten Klassen mit überarbeiteten Lehrern ist die Umsetzung in der Praxis leider kaum möglich.

Intelligenz

Eine mögliche Definition von Intelligenz bzw. der allgemeinen Begabung könnte sein: Die Fähigkeit, auf neue Situationen zweckvoll und vernünftig zu reagieren. Diese Fähigkeit hängt im Wesentlichen von den individuellen kognitiven Lernvoraussetzungen, d.h. in erster Linie von den spezifischen Lernbegabungen (z.B. Mathematik, Sprachen, Sport, Musik etc.) und Gedächtnisleistungen ab. Sie sind zum großen Teil angeboren und lassen sich nur in engen Grenzen verbessern (am besten funktioniert es im Bereich des Gedächtnisses durch die bekannten „Eselsbrücken“).