Von Gregor Bergmann erschien:

1994 „Das Rad hat sich gedreht - Mit dem Fahrrad von Holland nach Litauen“
2006: „Mit Kopf und Herz – Mein weiter Weg ins Leben“

Den Wind kann man nicht verbieten, aber man kann Windmühlen bauen

( Holländisches Sprichwort)

Uns traf der Schlag

Wir haben alle daraus gelernt

Gregor und Renate Bergmann

Books on Demand

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©Gregor Bergmann

Ohweg 15, 21442 Toppenstedt

Tel.:04173/7129

Umschlaggestaltung: Vincent Bergmann

Grafiken: AWP Agentur für Werbung u. Produktion GmbH, Hamburg

Printed in Germany 2010

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-8482-8703-1

Inhalt

VORWORT

Der Begriff „Aphasie“ ist leider zu einem festen Bestandteil der heutigen Gesellschaft geworden und bezeichnet eine Störung der bereits erworbenen Sprache (Sprechen, Lesen, Schreiben, Verstehen).

Man schätzt, dass jährlich ca. 80.000 Menschen in Deutschland neu eine Aphasie erleiden und dass die Aphasie zumeist im Rahmen des Schlaganfalls auftritt, eine der häufigsten Erkrankungen neben Krebs und Herzinfarkt.

Durch ihre Sprachprobleme haben Aphasiker Schwierigkeiten, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken und erkennen oft nicht, dass ihre Worte nicht ihren Gedanken entsprechen.

Aphasie verändert somit für den Einzelnen aber auch für die nächsten Angehörigen das ganze Leben.

Entscheidend ist, dass kein Aphasiker dem anderen gleicht.

So treten bei einzelnen Aphasikern unterschiedlichste Begleitstörungen auf (wie z.B. Halbseitenlähmung, Sehfeldausfälle, Schluckstörungen, psychische Auffälligkeiten, Antriebslosigkeit, erhöhte Reizbarkeit oder Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen). Außerdem hat jeder Aphasiker bezogen auf den schulischen Werdegang, den Beruf, den sozialen Status, die Interessen usw. seine individuelle Lebensgeschichte.

Dieses komplexe Gefüge macht es schwer, genaue Aussagen über Krankheitsverläufe der jeweiligen Aphasie (komplette Heilung, inkomplette Heilung, dauerhafte Schäden) zu treffen.

Diese Ungewissheit trug auch das Ehepaar Bergmann aus Toppenstedt in sich, als es hieß, dass Gregor Bergmann eine Aphasie erlitten hat.

Auf eindrucksvolle Art und Weise schildern Gregor und Renate Bergmann, wie die Aphasie ihr Leben verändert hat. Persönliche Kommentare (auch der Kinder) führen dazu, dass der Leser das Erlebte „mitfühlen kann“. Der Leser bekommt Einblicke in eine Welt, die ansonsten sehr schwer von außen zu durchdringen ist; angefangen von der Ohnmacht nach dem akuten Ereignis, über die Anstrengungen in der Rehabilitation bis zur Ankunft und der damit verbundenen Unsicherheit im häuslichen Umfeld.

„Ich bin und bleibe Aphasiker“, schreibt Gregor Bergmann in dem vorliegenden Buch.

Diese Äußerung zeigt, dass es ein Leben mit Aphasie gibt.

Das Leben ist zwar anders aber wieder lebenswert.

Um das von sich behaupten zu können, braucht ein Aphasiker die Willenskraft von Gregor Bergmann, den Rückhalt der Familie Bergmann und der Mitmenschen sowie die helfenden Hände der Rehabilitation.

Dr. phil. Volker Runge

NOCH EIN WORT ZUVOR

Wir haben gemeinsam an diesem Buch geschrieben,
mein Mann Gregor und ich.

Eingefügt sind Tagebuchnotizen und persönliche Gedanken von den Söhnen Thomas und Matthias, der Schwiegertochter Patricia, der Enkelin Lilith, Gregors Freund Kuno und von mir.

Alle diese Einfügungen sind kursiv gedruckt.

Gregor hat seine persönlichen Gedanken und Empfindungen in seinem eigenen Stil ganz selbständig aufgeschrieben, mit dem Wortschatz und dem Satzbau, der ihm nach erlittener Gehirnblutung inzwischen wieder zur Verfügung steht. Um den Lesefluss nicht unnötig zu behindern, habe ich nur manchmal ein Wort verbessert. Einige Wiederholungen oder Zeitfehler gehören zu seinen Spracheigenheiten.

Wir haben aus sehr vielen Übungsblättern einige abgedruckt. Damit möchten wir deutlich machen, wie unglaublich umfangreich der Weg eines Aphasiker ist, bis er wieder Zugang zu einem Wort, zu Sätzen, Zusammenhängen, Sinndeutungen und letztlich zu verbaler Kommunikation finden kann.

Gregors Krankheit und Heilungsverlauf kann nur ein Beispiel sein. Man muss bedenken, dass jede Verletzung des Gehirns andere Zentren beeinträchtigen kann. Jedes Krankheitsbild ist darum anders, jede Heilung verläuft anders, jeder Mensch ist anders. Man sieht es ihnen oft nicht von außen an, und es gibt viel Unkenntnis darüber.

Wir hoffen, dass unsere Aufzeichnungen Mut machen und eine Stimme sind, für die Vielen, die nicht mehr in der Lage sind, sich selber deutlich genug auszusprechen.

Renate Bergmann

1. NEURO-CHIRURGIE HH-ALTONA 03.–18. 02.1999

UNS HAT ALLE DER SCHLAG GETROFFEN

Eben noch gesprochen, gelacht, gegessen,…dann starke Kopfschmerzen, Erbrechen, und nun liegt er da, mein Mann. Reagiert er noch? Ich bin wie vom Donner gerührt. Hellwach! Plötzlich ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Was muss ich tun? Wer kann mir helfen? Schnell den Notarzt rufen! Endlich kommen Helfer! Fragen, untersuchen, hantieren… Mein Kopf beginnt zu rasen wie die Suchmaschine eines Computers. Was ist jetzt los? Tausend Bilder tauchen auf: Schlaganfall…, Gehirnbluten…, Rollstuhl…, verzerrtes Gesicht…, Sprachverlust…, Haus verkaufen…, Pflegeheim…

Mit dem Auto fahre ich hinter dem Krankenwagen her. Krankenhaus Winsen: Aufnahme – Formulare – Krankenkasse. Nur ruhig bleiben, die richtigen Angaben machen! Computertomographie! Gehirnbluten! Verlegung in das Krankenhaus Hamburg-Altona.

Dann das lange Warten vor dem Operationssaal. Wie dankbar bin ich, dass unser Sohn Matthias mit der Schwiegertochter Patricia, die in der Nähe wohnen, mit mir warten, mit mir sprechen, hoffen und beten. Unser ältester Sohn Thomas und seine Frau Camilla können aus Berlin nicht so schnell kommen. Das Telefon ist unsere Brücke.

Nach Stunden endlich ein Arzt, noch im grünen Kittel, ein Gesicht, ein Mensch, der uns etwas Genaueres sagen kann: Man hat den Schädel eröffnen müssen. Gregor hatte ein faustgroßes Hämatom im linken Hinterkopf. Das Blut ist abgesaugt worden. Nun kann sich das zusammen gequetschte Gehirn langsam entfalten. „Sie müssen damit rechnen, dass Lähmungen zurück bleiben. Vielleicht kann er nicht mehr gehen. Wahrscheinlich kann er nicht mehr sprechen.“

Ich kann mich gut „zusammen nehmen“. Meine ganze Kraft nehme ich zusammen. Ich sage mir: Du musst vernünftig bleiben! Es nützt ja nichts, wenn du durchdrehst. Aber innerlich dreht sich doch alles in mir. Mit einem Mal hängt alles von mir ab. Ich darf nichts vergessen, nichts übersehen.

Wen muss ich benachrichtigen? Verwandte, Freunde…

Wir hatten doch so viel geplant. Der Skiurlaub war gebucht, die Ski gestern mit der Bahn abgeschickt worden. Und was wird aus dem kleinen Laien-Theaterstück, in dem wir die Hauptrollen zu spielen hatten? Außerdem hatte Gregor versprochen, einen Vortrag zu halten über Ostpreußen. Was wird aus der Versicherungsagentur? Wer übernimmt den Vorsitz der ostpreußischen Landsmannschaft? Gerade gestern hatten wir einen großen Feldstein ausgesucht, der sollte mit einer Inschrift versehen und aufgestellt werden.

Es ist mir, als wären ganz plötzlich viele Fäden gerissen. Vorbei! Nein, er kann nicht! Er kommt nicht mehr! Es wird nichts mehr daraus! Ihr müsst Euch einen anderen suchen!

Und ich selber? Wie werde ich ihn wieder finden? Wird er noch derselbe sein? Ist zwischen uns etwas abgerissen? Werden wir uns noch gegenseitig verstehen können?

Die Zeit vom 03.02. – 18.02.1999, in der Gregor auf der Neuro-Chirurgie im Altonaer Krankenhaus lag, habe ich noch gut im Gedächtnis. Zudem habe ich damals Tagebuch geführt. Es war eine Zeit, in der wir uns alle ziemlich hilflos fühlten. Nur beobachten konnten wir. Tagsüber war immer jemand von uns da.

DER SCHLAG TRAF MICH MITTEN IM LEBEN

Ich war schon seit acht Jahren im so genannten „Ruhestand“ und konnte zufrieden zurückblicken auf eine langjährige Dienstzeit als Polizeibeamter, blieb weiter ein aktiver und reger Mensch. Davon will ich erzählen, weil man sich sonst nicht so gut vorstellen kann, wie schwer mich der plötzliche Schlag getroffen, und wie er mich verändert hat.

Schon immer war ich sportlich aktiv und meinen schönen, geliebten Frühsport konnte ich als Pensionär regelmäßig täglich ausüben. Unserem großen, vielseitigen Garten konnte ich nun viel Gutes tun. Ich hatte kaum Muße, mich auf die alte Eichenbank zu setzen. Die Arbeit draußen machte mir Spaß. Am Abend gab es noch so manch anderes zu tun.

Meine Frau und ich hatten schon seit mehreren Jahren ein kleines Versicherungsmakler-Geschäft. So hatte ich vielerlei Besuche zu machen und unser kleines Büro zu führen. Daneben übte ich mehrere ehrenamtliche Tätigkeiten aus. Wöchentlich gingen meine Frau und ich zum Singen in den Kirchenchor. Zum Mitglied im Kirchenvorstand wurde ich auch gewählt, und so gab es schon wieder eine weitere Arbeit. Alle zwei Wochen traf ich mich mit einigen früheren Kollegen. Es wurde ein tüchtiger Doppelkopf gespielt. In unserem Dorf war ich auch aktiv. Ich bekam Kontakt mit Russland-Deutschen. Meine Frau und ich waren ihnen behilflich bei Behördengängen und Versicherungsangelegenheiten.

Im Frühjahr oder Herbst machten wir Bergwanderungen und in der dunkeln Jahreszeit flogen wir auf die schöne Insel La Gomera. Im Mai 1992 hatte ich mir etwas Besonderes vorgenommen. Es wurde eine Fahrradtour von der Maas/Holland bis nach Litauen Ich schrieb darüber ein Buch: „Das Rad hat sich gedreht“. Ein Jahr später fuhr ich wieder mit meinem Drahtesel von Hamburg den Elbwanderweg entlang bis nach Tschechien. Das Radfahren machte mir Freude. Als sich in unserer Umgebung eine Fahrrad-Gruppe aus älteren Menschen bildete, die „Weißkopf-Radler“, wurde ich gebeten, jeweils am Donnerstag eine gemeinsame Fahrradtour mit zu machen. Das war immer ein großer Spaß. Da ich ein gebürtiger Ostpreuße bin, blieb es nicht aus, im Heimatverband der Ost- und Westpreußen Mitglied zu werden. Aber schon nach einiger Zeit wurde ich 1. Vorsitzender dieses Verbandes. Natürlich war dies auch mit Arbeit verbunden. Da wurde in mir der Plan wach, in diesem Verband etwas Bleibendes zu schaffen. Ich wollte in der Kreisstadt Winsen einen Gedenkstein aufstellen lassen, der an die Heimat im Osten erinnern sollte. Ich machte mir viele Gedanken über die Inschrift und versuchte die anderen Ostpreußen zu begeistern. Mit einem befreundeten Steinmetz besahen wir uns zunächst geeignete Friedhofs-Steine. Leider fanden wir nichts Passendes. Am 2. Februar 1999 fuhren meine Frau und ich nochmals los, um einen großen schönen Feldstein zu suchen. Das war meine letzte Arbeit für die Landsmannschaft. Ich selber konnte meine Idee nicht mehr vollenden. Mich traf der Schlag!

Auch am 3. Februar 1999 begann für uns der Morgen wie üblich. Jeden zweiten Tag lief ich vor dem Frühstück meine 5km durch die Feldmark und das nahe liegende Waldgebiet. Auch meine Frau hatte ihr eigenes Programm mit lockerem Lauf und Gymnastik sich eingeteilt. Zufrieden trafen wir uns vor unserem Haus. Gemütlich und in aller Ruhe setzten wir uns vor den Frühstückstisch. Gegen 9.30 Uhr spürte ich plötzlich Kopfschmerzen. Komisch, meinte ich zu meiner Frau: „Mir tut plötzlich der Kopf so weh.“ „Lege dich doch hin“, sagte sie. „Ach was“, sagte ich, „Am Vormittag habe ich mich noch nie hingelegt.“ Aber meine Frau drängte, und so legte ich mich auf die Couch im Wohnzimmer. Schon nach einer halben Stunde konnte ich die Kopfschmerzen kaum noch ertragen. Ich musste erbrechen und wurde ohnmächtig.

04.02. Intensivstation

Er ist unruhig, will zur Toilette. Offenbar hat der Blasenschmerzen. Ich rufe die Schwester. Wie hilflos jemand ist, wenn er nicht klar sprechen kann! Er braucht einen Fürsprecher, einen Dolmetscher. Der Katheter wird entfernt.

Er spricht vor sich hin: „Wie so etwas passieren kann?“ Der Geist arbeitet! Gott sei Dank!

Hoffentlich wird er wieder klar im Kopf. Der Sauerstoff-Schlauch wird abgenommen. Wenn er wenigstens noch mit uns sprechen kann….

05.02.99 Intensivstation

Gregor erkennt mich sofort. Er erkennt auch Matthias und Thomas, obwohl er die Namen verdreht. Er fragt mich etwas, aber er quält sich und sucht jedes Wort. Wenn ich zu ihm spreche, versteht er mich wahrscheinlich. Wir beobachten, dass er die Beine bewegt. Den rechten Arm benutzt er nicht normal.

Er guckt mich an und fragt: „Ich sehe nicht richtig. Warum bist du so schwarz?“ Ich frage den Stationsarzt: „Das Sehen kann geschädigt sein. Man kann es hier nicht genau untersuchen.“

Das Mittagessen wird gebracht. Fisch! Er riecht es. „Ekelig!“ Er mochte noch nie gerne Fisch. Das Essen macht ihm große Schwierigkeiten: Salatschüssel – Gabel - es ist alles zu kompliziert. Ich will ihm helfen. Er ärgert sich. „Lass mich doch!“ Er will aus der Schüssel den Salat trinken. „Warum lässt du mich nicht?“ Er ist wütend. Ich könnte heulen. Joghurt und Löffel, -alles passt nicht zusammen. Er weiß nicht, wie er den Joghurt aus dem kleinen Becher bekommen soll. Er ist sehr ärgerlich. Jetzt will er gar nichts mehr. Stößt alles von sich. Er will jetzt nur noch schlafen.

HILFLOS, VERWIRRT UND SEHR MÜDE

Ganz langsam hatte ich meine Augen geöffnet. Komisch, dachte ich. Wo bin ich? Das ist doch nicht mein Bett? Aber ich bin so müde. Danach bin ich wohl wieder eingeschlafen. Wie im Geiste hörte ich eine Stimme. Wer ist das? Ich glaubte, es ist Renate. Noch eine andere Stimme hörte ich. Aber ich war zu müde. Ich wollte wieder schlafen, nur schlafen.

Irgendwann später merkte ich, dass ich in einem fremden Bett lag. Merkwürdig, alles weiß,…das war nicht mein Zimmer. Bin ich tatsächlich in einem Krankenhaus? Egal! Ich war zu müde! Erst nach einigen Tagen konnte ich mir in Abständen Einzelteile erklären, aber dann gingen meine Augen wieder zu und ich schlief weiter. Gelegentlich kamen Menschen an mein Bett, auch Renates Stimme hörte ich.

An diese Tage im Krankenhaus Altona fehlen mir viele Erinnerungsbereiche. Diese Zeit hat meine liebe Frau Renate damals aufgeschrieben und alles vermerkt.

Ich hatte Schmerzen und wollte unbedingt Wasser lassen. Immer wieder bettelte ich, um mir zu helfen. An andere Kopfschmerzen kann ich mich nicht erinnern. Nachts, aber auch am Tag habe ich den größten Teil geschlafen.

An einem der nächsten Tage hat unser Sohn Thomas aus Berlin mich besucht. Renate und Thomas zeigten mir Fotos. Ich sagte dann wohl. „Ja, das ist die Mutter, die Schwarzwald-Oma und das ist der…, der…“. Die Namen waren alle so schwer zu finden. Ich wollte nicht viel erzählen.

Am liebsten wäre ich wieder eingeschlafen. Die Tageszeiten oder die Uhrzeit waren für mich bedeutungslos. Es war mir alles egal.

06.02. Station 13

Gregor hat nichts gefrühstückt. Heute bekommt er wieder einen Blasenkatheter, weil er nicht Wasser lassen kann. Seine beiden Arme sind gut beweglich. Trotzdem umarmt er mich nur mit dem linken Arm. Er scheint sich Sorgen um die Zukunft zu machen.

Thomas ist aus Berlin gekommen: „Camilla sagt, man muss viel mit ihm sprechen und ihn selber zum Sprechen bringen, damit das geschädigte Gehirn wieder aktiviert wird. Gerade die erste Zeit nach so einer Gehirnblutung ist sehr wichtig. Je länger man wartet mit der Therapie, umso mehr Worte und Begriffe versinken in der Tiefe.“(Camilla ist Sängerin, staatl. gepr. Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin)

Mit Fotos wollen wir ihn zum Sprechen bringen. Er erinnert sich und findet viele richtige Namen. Aber er gebraucht viele Floskeln, die gehen ihm locker von der Zunge. Thomas testet sein Zahlengedächtnis. Es scheint für Gregor kein Problem zu sein. Sie üben mit den Fingern. Auch das Alphabet kann er aufsagen. Straßennamen sind problematischer. Tiere fallen ihm nicht viele ein, nur Pferd und Kuh. Thomas erklärt ihm, dass er in Altona ist, im Krankenhaus, im 13. Stock. Er wiederholt und übt: Al-to-na… Doch Gregor ist fixiert auf die Worte: „ordentlich, Fehler und erübrigen“, damit meint er erinnern.

Ich gebe ihm seine Armbanduhr. Er stutzt, ich tippe auf seinen Arm: Wie spät ist es? Er guckt und erkennt langsam die Zeit. Dann schläft er wieder fest ein.

Er denkt angestrengt nach. Er will mir etwas ganz Wichtiges sagen. Er sagt einen sehr langen Satz ganz langsam, sucht nach jedem Wort, aber - nichts passt zusammen. Ich weiß nicht, was er meint. Er scheint es selber zu merken, wird unwillig und gibt auf. „Ich bin auch so müde!“ und schläft sofort tief ein.

Ich saß später wieder allein im Bett. Mir wurde, wie jedem anderem Kranken das Essen gebracht. Dann saß ich im Bett, vor mir stand das Essen und ich hatte auch Appetit, aber wie konnte ich das Essen zu mir nehmen. Da standen viele Gegenstände: Löffel, Gabel, Messer, aber was bedeutete das für mich? Ob ich das Frühstück zu mir genommen habe? Ich weiß es nicht. Vermutlich gelang es mir nicht, und später wurde es wohl weggebracht. Aber oft war ich ärgerlich, weil das Essen und alles so schwer für mich waren.

Immer wieder musste ich grübeln, was ich wohl früher falsch gemacht habe. Alle werden sagen: Er hat selber Schuld! Eine Frau ist einmal an mein Bett gekommen. Sie wolle mit mir etwas üben. Ich sollte mich an den Tisch setzen. Aber was sie mit mir gemacht hat, dass weiß ich nicht mehr. Ich sollte besser sprechen lernen und schreiben. Aber eigentlich war ich sehr müde.

09.02. Gregor bekommt jetzt Physiotherapie, Sprachtherapie und die Ergotherapeutin soll ihn testen.

Ich habe mit ihm geübt, die Hausschuhe und die Hose anzuziehen. Er konnte sich zuerst nicht daran erinnern. Er darf mit Begleitperson zur Toilette gehen (über den Flur). Ich zeige ihm das Klo, aber er weiß nicht mehr, was und wie er es mit dem Klopapier machen soll. Ich muss ihm alles zeigen. Ich bin erschüttert. Wie soll das bloß weitergehen? Ich beobachte, dass er auch nicht mehr weiß, wie man beim Waschen die Seife anfassen muss, wie er mit dem Rasierapparat umgehen soll. Manchmal erinnert er sich gleich an die alten automatisierten Handgriffe, die man ihm wieder zeigt: „Ach ja!“. Wenn ich ihm helfen will, sagte er: „Ich bin doch nicht blöd!“

10.02. Es wird eine Angiographie gemacht. Dabei werden die Blutgefäße im Gehirn mit Kontrastmittel gefüllt und geröntgt. Ich darf dabei sein. Man findet keinen Anhalt für eine weitere Gefäßerweiterung, auch keinen Blutschwamm. Also bleibt die Ursache für die Blutung unklar.

Gregor muss viel nachdenken. Plötzlich spricht er über unsere Zukunft. Da haben wir beide auch zusammen geweint. Aber wir haben uns gesagt, dass er noch gehen kann und fernsehen und Radio hören, und dass wir in der Nähe auch noch Urlaub machen können, und dass er ja nicht geistesgestört ist. Wir haben auch gesagt, dass niemand Schuld an allem habe.

An einem Tag wurde ich auf einem Wagen gefahren. Dann fehlen mir wieder Teile. Später saß ich in einem schwach erleuchteten Raum. Dann wurde ich plötzlich von hellem Licht bestrahlt. All das hat sicher sehr lange gedauert.

Einmal zur Nachtzeit musste ich zur Toilette, sah keine weitere Person, ging nach links den Flur entlang, wo zur rechten Seite die Toilette war. Jetzt konnte ich es alleine. Ich war richtig stolz und froh. An einem weiteren Tag sah ich einen mir unbekannten Mann, der neben mir auf einem gleichwertigen Bett lag. Er sagte, dass er morgen operiert würde. Ich konnte mir nichts vorstellen, auch sagte ich weiterhin nichts. Renate hat mit mir auch die langen Treppen des AK-Altona geübt. Am Anfang ging es recht mühsam, aber später klappte es schon gut. Ich durfte von meinem Bett, 13 Station, bis nach unten gehen. Renate ging neben mir und ich übte das Zählen dieser Treppen. Erinnern kann ich mich noch, dass im Parterre viele Menschen in mehreren Räumen standen. Beim Öffnen der Haustür kam mir sehr kalte Luft entgegen. An einem Tag habe ich dieses Krankenhaus verlassen. Renate brachte mich auf die rechte Straßenseite. Ich erkannte unser Auto. Wir gingen bis zur Baustelle des Elbtunnels. Ich wusste wieder alles über den Elbtunnel. Aber es war kalt draußen. Wir blieben weiterhin auf Station 13. Hier befand sich ein Waschraum. Renate half mir und ich durfte endlich wieder in einer Badewanne gewaschen werden.

12.02. Die Fäden sind gezogen worden. Er darf baden und ich darf ihm dabei helfen.

Die Sprachtherapie begann mit: Tisch, Fisch, Nase, Vögel…. Er kann es nur mühsam.

Die Stationsärztin meinte, ich solle für ihn die Pflegschaft beantragen, damit ich alle Entscheidungen für ihn treffen kann. Sie sagt, er sei dazu nicht mehr in der Lage. Er könne ja nicht einmal mehr lesen und unterschreiben. Er könne ja nur noch drei Kreuze machen. Ich bin erschrocken, weil das Entmündigen bedeutet.

Habe mit Thomas gesprochen: Nein! Wir werden abwarten! Er muss jetzt auch bald aus diesem Krankenhaus in eine REHA -Klinik entlassen werden. Wir wollen eine REHA - Klinik suchen, die die beste Sprachtherapie bietet.

Ich habe seine eigene Unterschrift ganz groß kopiert, damit er sie nachschreiben kann. Es gelingt tatsächlich. Nach einigem Üben hat sich „seine Hand“ erinnert. Er kann wieder unterschreiben. Ich bin sehr froh.

Später holten mich zwei Männer ab. Ich meine, sie kamen vom Roten Kreuz. Ich wurde in ein großes Auto geladen. Renate sagte mir, dass ich in ein anderes Krankenhaus käme. Die Fahrt dauerte recht lange, aber aus meiner liegenden Position konnte ich mir nichts anschauen. Endlich hielt das Krankenauto und ich wurde herausgefahren. Renate stand schon am Krankenhauseingang. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich in das Krankenhaus gefahren wurde oder ob ich mit anderen in das Haus gegangen bin.

Ich dachte mir, dass jetzt wieder ein neuer Abschnitt beginnen würde und hatte auch etwas Angst.

2. WALDKLINIK JESTEBURG 02. – 06. 1999

ZURECHTFINDEN IN DER WALDKLINIK

Ich habe 14 Tage ziemlich unbewusst auf der Neuro-Chirurgie in Hamburg Altona verbracht. Am 18. 02. 1999 wurde ich in die Waldklinik „Rüsselkäfer“ in Jesteburg verlegt.

18.02. Hier gibt es jeden 2. Donnerstag einen Gesprächskreis, der von einem Arzt und einer Sprachtherapeutin geleitet wird. Hier können Angehörige über anstehende Probleme sprechen. Sehr gut! Ich werde möglichst mitmachen. Ich merke, dass ich Hilfe brauche.

Ich bin überrascht, wie gut Gregor zurechtkommt. Er sitzt angezogen auf dem Flur und blättert in einem Heft. Er sagt, er weiß, was er liest, nur er kann es nicht aussprechen. Komisch!

Sein Schritt wird immer sicherer. Sein Auge behindert ihn noch. Sein Blickfeld ist kleiner geworden. Darum hat er sich an der rechten Schulter gestoßen. Alles, was rechts von ihm auf dem Tisch steht, sieht er nicht. Mehrmals hat er etwas umgestoßen. Man muss aufpassen.

Wir packen seinen Koffer aus. Das viele Zeug irritiert ihn. Wir nehmen nur Unterzeug heraus. Ich lass es ihn selber in den Schrank legen. Viele Dinge irritieren ihn.