Joachim Strienz

Das Quantenfeld

18 Szenen zur Quantenphysik

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Joachim Strienz ist Arzt und Verfasser zahlreicher Patientenratgeber. Im Vordergrund stehen Hormon- und Erschöpfungserkrankungen. Vor Jahren wurde er auf die Quantenphysik aufmerksam. Seither hat sie ihn nicht mehr losgelassen. Vor allem philosophische Fragen interessieren ihn. Welchen Einfluss hat die Quantenphysik auf den Alltag des modernen Menschen?

für

Anneliese Strienz

Das Thema dieses Buches ist die Quantenphysik. Dieser Teil der Physik wurde vor über einhundert Jahren entdeckt. Unser Leben ist ohne die technischen Errungenschaften der Quantenphysik wie Mobiltelefone oder Magnetresonanztomografie nicht vorstellbar, denn wir alle profitieren sehr davon. Erstaunlich ist aber, dass dieser tiefgreifende Wandel in unserer Gesellschaft philosophisch und erkenntnistheoretisch bisher kaum nachvollzogen worden ist.

In 18 Szenen werden verschiedene Aspekte der Quantenphysik dargestellt. Dies geschieht auf eine spielerische, manchmal auch auf eine skurrile Weise. Es ist also kein wissenschaftliches Werk. Die Unterhaltung des Lesers spielt eine wichtige Rolle. Dazu tragen überlieferte Mythologien und das Flair einer Cocktail-Bar bei.

Inhaltsverzeichnis

  1. Verzeichnis der Personen
  2. Vorwort
  3. 1. Szene
  4. Die Entzauberung der Welt durch die Physik  Artus
  5. 2. Szene
  6. Wellen und Teilchen  Admetos
  7. 3. Szene
  8. Quantenvakuum  Medusa
  9. 4. Szene
  10. Schrödingers Katze  Trio (Einstein, Pauli, Schrödinger)
  11. 5. Szene
  12. Holografie  Leto
  13. 6. Szene
  14. Stringtheorie  Orpheus
  15. 7. Szene
  16. Akasha-Chronik  Ariadne
  17. 8. Szene
  18. Ich erschaffe mir meine Welt  Sisyphos
  19. 9. Szene
  20. Schamane  Medea
  21. 10. Szene
  22. Gedächtnis  Ödipus
  23. 11. Szene
  24. Nullpunktenergie  Brahma
  25. 12. Szene
  26. Nah-Tod-Erfahrung  Shiva
  27. 13. Szene
  28. Unschärfe und Nichtlokalität  Vishnu
  29. 14. Szene
  30. Vogelflug  Rama
  31. 15. Szene
  32. Evolution  Krishna
  33. 16. Szene
  34. Urknall  Buddha
  35. 17. Szene
  36. Schwäne  Kalki
  37. 18. Szene
  38. Kinder  Gilgamesch
  39. Danksagung

Verzeichnis der Personen

Andreas Steinfeld – Arzt und Autor, genannt Andy

Jutta – Steinfelds Frau

Siegfried Hahn – Wissenschaftler, Freund von Andreas Steinfeld, genannt Siggi

Dino – Barkeeper

Albrecht Keller – String-Theoretiker

Eva und Rainer Kindler – Fotografen und Filmemacher

Nora und Marco Weber – Designer

Soraya – Ballett-Tänzerin

Gianfranco Moretti – Künstler und Yogi

Tsangu – Medizinmann der Hopi

Professor Jurmala – Hirnforscher

Beat Kuni – Chaosforscher

Pia und Nick – Nichte und Neffe von Andreas Steinfeld

Vorwort

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Quantenphysik entdeckt. Sie ermöglichte vielfältige technische Entwicklungen wie das Mobiltelefon oder die Magnetresonanztomografie, um nur zwei Beispiele zu nennen. Erstaunlich ist, dass dieser tiefgreifende Wandel auch heute noch in unserer Gesellschaft philosophisch und erkenntnistheoretisch kaum nachvollzogen worden ist. Das Buch versucht dies nachzuholen. In 18 Szenen werden verschiedene Aspekte der Quantenphysik dargestellt. Die Mythologie verbindet das Vergangene mit dem Heutigen. Sie ist Teil der Geschichte der Menschheit. Sie wirkt auch noch in unsere Zeit. Alle Ebenen und Hierarchien sind miteinander verbunden. Nichts ist isoliert zu sehen. Alles informiert sich gegenseitig.

Die Bar o.T. ist Schauplatz vieler Gespräche. Sie bildet den Rahmen für den Informationsaustausch. Sie erleichtert den Zugang zu Informationen und knüpft Verbindungen. Exotische Cocktails, bunt schillernd und kunstvoll zubereitet, beflügeln den Geist. Unsere Welt ist kreativ, grenzenlos, dynamisch, aber auch instabil. Sie ist nicht materiell angelegt, sondern geistig. Es liegt an uns, sie zu stabilisieren.

Unser Gehirn ist zunächst nicht in der Lage, die Quantenphysik zu verstehen. Der moderne Mensch hat sich in Tausenden von Jahren an seine Umwelt angepasst. Das Gehirn soll uns am Leben erhalten und uns zeigen, wo wir Nahrung finden. Wir kennen nur die Gegensatzpaare „Ja“ oder „Nein“. Bevor ich etwas tue, prüfe ich diesen Sachverhalt. „Erreiche ich meinen Wunsch?“ Wenn „Nein“, dann lasse ich es sein.

Die Natur hat eine ganz andere Logik, und die Quantenphysik hat erstmals in der Geschichte der Menschheit diese Logik erkannt und für uns sichtbar gemacht. Das ist ihr großer Verdienst. Die Quantenphysik beschreibt die mehrwertige Logik. Es gibt mehr als „Ja“ oder „Nein“. Es gibt ein „Dazwischen“. Ein „Sowohl-als-auch“. „Das Unentschiedene“. Daran werden wir uns gewöhnen müssen.

Die Quantenphysik zeigt uns eine Welt voller Ermutigung und Optimismus. Wir leben in einer viel größeren Welt als wir bisher angenommen haben und wir haben Einfluss auf diese Welt. Wir können sie gestalten. Unsere Welt, wie wir sie bisher gekannt haben, ist nur ein winziger Teilbereich innerhalb unserer Möglichkeiten. Viele belastende Dinge um uns herum sind menschengemachte Erscheinungen. Wir können sie alle wieder ändern.

1. Szene

Die Entzauberung der Welt durch die Physik

Artus

Gedankenversunken ging ich die große Einkaufsstraße entlang. Die Geschäfte würden bald schließen. Leute mit Einkaufstaschen hasteten vorbei. Ich war auf dem Weg ins o.T. Wenn ich in die Bar o.T. ging, war normalerweise Jutta dabei, diesmal war ich alleine. Sie war heute nach Hannover gefahren zu einer Fortbildung. Darauf hatte sie sich sehr gefreut. Studienkollegen wollte sie treffen und erst morgen wieder zurückkommen. Siggi war heute in der Praxis gewesen. Über zwanzig Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Da stand er plötzlich und fragte nach einem Rezept für sein Medikament. „Hast Du Zeit, später, auf ein Bier?“ „Lass uns ins o.T. gehen“, hatte ich geantwortet und er war wieder gegangen. Siggi kannte ich als ich jung war. Damals saßen wir in der Schule nebeneinander. Immer hatten wir einander irgendetwas zu erzählen, bis die Lehrer ärgerlich dazwischen gingen. Danach waren wir wieder eine Zeitlang still. Später hatten wir uns ganz aus den Augen verloren. Er bekam im Handumdrehen einen Studienplatz, ich dagegen musste warten und konnte erst später an die Uni.

Das „o.T.“ ist eine große Bar im Eingangsbereich des Kunstmuseums. „o.T.“ ist die Abkürzung für „ohne Titel“. Das schreiben Künstler unter ihre Bilder, wenn ihnen kein Titel dazu einfällt. Ich bog um die Ecke und sah den großen Platz.

Tische standen noch draußen und einige Leute saßen im Freien, in Decken eingehüllt. Die Raucher, dachte ich. Drinnen schaute ich mich um. Siggi war noch nicht da. Pünktlichkeit war wohl nicht seine Stärke. Ich winkte Dino. Der Barkeeper nickte lächelnd. Die schönsten Plätze waren direkt am Fenster mit Blick auf den großen Platz. Dort war noch ein Tisch frei. Dino kam mit der Karte, aber ich bestellte gleich eine Margarita. „Mit Salzrand“, fügte ich hinzu.

Mein Blick streifte nach draußen und ich beobachtete die Leute. Ein junges Paar unterhielt sich sehr lebhaft gestikulierend, dann küsste sie ihn.

Eine Margarita wird mit Tequila zubereitet. Für den Salzrand braucht man eine flache Schale mit Salz. Nachdem der Glasrand in einem Limettenviertel gedreht wurde, wird das Glas in eine Schale mit Salz getupft. An den feuchten Stellen bleibt das Salz haften. Überschüssiges Salz wird durch leichtes Klopfen am Glas wieder entfernt. Zum Tequila kommt jeweils die gleiche Menge an Cointreau und Zitronensaft hinzu. Alles wird mit Eiswürfeln geschüttelt und danach durch ein Sieb in das vorbereitete, gekühlte Glas gegossen.

Dino stellte das Glas auf den Tisch. Es duftete nach Limette. „Du bist alleine?“ „Jutta ist in Hannover und ich warte auf einen Freund.“ Ich blickte rückwärts und sah Siggi. „Hallo, ich habe noch mit meinem Chef telefoniert“, sagte er und zog seine Jacke aus. „So spät?“ „Die wollen doch, dass ich wieder zurückkomme, ich habe meinen Vertrag aber noch nicht unterschrieben.“ Er setzte sich. Sofort stand Dino neben ihm und sah ihn fragend an. „Mojito!“ Dino nickte. „Seit ich in Island war, trinke ich gerne Mojito. Dort gab es so viele Variationen, aber das war vor der Finanzkrise. Ich glaube mit der Minze wird es dort jetzt etwas schwierig.“ Das wusste ich, dass für Mojito frische Minzeblätter benötigt werden. Die kommen in einen Limettensaft, der mit Puderzucker gesüßt wurde und sie werden dann mit einem Stößel zerkleinert. Anschließend wird das Glas mit gestoßenem Eis gefüllt. Danach wird der Rum darüber gegossen. Zum Schluss noch etwas Mineralwasser über das Eis, zwei kurze Trinkhalme reinstecken und fertig.

Wir blickten gemeinsam ins Freie, als ob die Gedanken erst synchronisiert werden müssten.

„Deine Praxis gefällt mir gut“, sagte er höflich. Ich nickte lächelnd und dachte, dass demnächst eine größere Renovierung anstehen würde. „Bist Du jetzt wieder hier, Du warst doch lange in München?“ „Ich habe ein Jahr für den großen Automobilkonzern gearbeitet und der Vertrag ist jetzt eigentlich wieder ausgelaufen. Ich bin Quantenphysiker. Aber das weißt Du wahrscheinlich. Die wollen, dass ich jetzt verlängere. Ich denke gerade darüber nach. Ich könnte auch an die Uni zurück. Wusstest Du, dass ein Drittel des Bruttosozialproduktes in Deutschland auf Anwendungen der Quantenphysik zurückzuführen ist? Die Bedeutung der Quantenphysik wird immer weiter zunehmen. Computer, Handys, Solarzellen, aber auch die Kernspintomografie bei euch Ärzten sind Ergebnisse der Quantenphysik. Die Quantentheorie ist die beste und genaueste Theorie, die uns heute in der Physik zur Verfügung steht. Ihre Vorhersagekraft ist bisher noch an keinerlei Grenze gestoßen. Sie ist die größte wissenschaftliche Revolution der Neuzeit. Das erstaunliche ist allerdings, dass Physiker sehr gut mit dem mathematischen Formalismus umgehen können, dass ihnen aber leider das philosophische Verständnis fehlt.“ „Und umgekehrt auch“, bemerkte ich trocken, „jeder hat ein Handy, aber keiner weiß, wie es funktioniert.“

Auf dem Vorplatz war gerade ein äußerst geschickter Radfahrer mit einem Mountainbike erschienen, der über den Treppenabsatz fuhr und anschließend nach einem schnell gefahrenen Kreisel vor unserem Fenster stehen blieb. Ich dachte an die junge Patientin mit den Lebermetastasen vor ein paar Tagen, die weiter mit der Kernspintomografie abgeklärt werden sollten und an die alte Dame mit der Gefäßmissbildung im Gehirn, die Blutverdünnungsmittel einnehmen musste. Ich nippte an meiner Margarita. Sie war köstlich. Ich dachte an Margaret Sames aus Chicago, die 1948 in Acapulco den Cocktail erfunden haben soll. Nach mehreren Versuchen mit Tequila und Cointreau fand sie schließlich das richtige Mischungsverhältnis heraus.

„In der klassischen Physik“, begann Siggi, „also der Mechanik, der Wärmelehre oder der Elektrizität, war das Experiment von großer Bedeutung und es wurde eine hohe Genauigkeit der Messungen gefordert. In der klassischen Physik hatten die einzelnen Objekte Wechselwirkungen zueinander wie bei einem Uhrwerk, behielten aber ihre Eigenständigkeit bei. Der große Unterschied zur Quantentheorie besteht nun darin, dass das vollendete quantenphysikalische System nur in den seltensten Fällen tatsächlich noch aus den Teilen besteht, aus dem es einmal zusammengesetzt wurde. Ein Gegenstand wie etwa dieser Tisch besteht zwar aus Atomen, als Ganzes gesehen, existieren aber nun ganz neue Eigenschaften. Die klassische Physik stellt eine weniger genaue Beschreibung der Welt dar als die Quantenphysik.“ „Wie ist das mit der „Unschärfe“? Daran kann ich mich noch aus dem Physikunterricht erinnern.“ „Ein großes Missverständnis“, begann Siggi. „Unschärfe hat nichts mit „Ungenauigkeit“ zu tun. Besser wäre es, dieses Merkmal der Quantenphysik als „Unbestimmtheit der Messergebnisse an Quantenobjekten“ zu bezeichnen. Wenn Du und ich uns noch nicht entschieden haben, ob wir noch einen Cocktail nehmen oder ob wir nach Hause gehen, dann ist daran überhaupt nichts unscharf. Wir wissen genau, wie der Cocktail schmeckt, aber wir sind noch unbestimmt, solange wir noch keine Entscheidung getroffen haben. In der klassischen Physik ist eine solche Unbestimmtheit nicht gegeben. In der klassischen Physik setzt sich das Gesamtsystem aus der Summe aller Teilsysteme zusammen. Die Mathematik beschreibt dieses Zustandsbild als Addition. Ein Quantensystem ist mehr als die Summe seiner Teile. Es ist das Produkt seiner Teilsysteme. Die Mathematik beschreibt dieses Zustandsbild dann als Multiplikation. Ich gebe Dir ein Beispiel: Angenommen, Du hast fünf verschiedene Kaffeetassen und fünf verschiedene Untertassen. Die Teile wirken in der klassischen Physik additiv, sie werden also 5 + 5 = 10 zusammengefasst. In der Quantenphysik wirken sie multiplikativ, also 5 x 5 = 25. Es ist wie bei Beziehungen im Alltag. Sie wachsen nicht additiv, sondern multiplikativ mit der Zahl ihrer Mitglieder. Quantenphysik ist eine Physik der Beziehungen.“

„Hast Du noch Lust auf einen Mojito?“, fragte ich und gab Dino ein Zeichen. Er zeigte auf unsere leeren Gläser und ich nickte. Mojito verdankte seine Verbreitung über Kuba hinaus Ernest Hemingway. Rum und Minze passen einfach gut zueinander.

„Weißt Du, dass es mir ziemlich schlecht geht, seit sich meine Frau von mir getrennt hat? Meine Beziehungen funktionieren schlecht. Es ist wie bei König Artus, hat mir mein Psychologe erklärt.“

„Auch eine Dreiecksbeziehung?“ Ich dachte an Sir Lancelot und Guinevere, Artus Frau.

„Andreas, genau das ist es.“

„Aber Ihr habt keine Kinder, oder?“ fragte ich. „Meine Frau hatte den Tim schon, als wir uns kennenlernten, und wir trugen Kämpfe aus wie Artus mit seinem Sohn Mordred.“

„Wo hast Du Dein Schwert?“ fragte ich und dachte an Excalibur, das Schwert von König Artus. König Artus wurde König, weil nur ihm es gelang, das Schwert Excalibur aus dem Stein zu ziehen. Alle anderen vor ihm waren daran gescheitert.

„Die Wissenschaft ist mein Schwert.“ „Und die Tafelrunde?“

König Artus hatte die edlen Ritter Sir Parceval und Sir Lancelot, aber auch Sir Galahad um sich versammelt. Ein Stuhl, der so genannte Platz der Gefahr, blieb frei. Es hieß, dass jeder Ritter, der sich auf ihn setzte, sterben würde und dann die Tage der Tafelrunde gezählt seien. Da sich aber mehr und mehr Ritter auf diesen Stuhl setzten, zerfiel tatsächlich die Tafelrunde. Schwierig war das Verhältnis von Artus zu seiner Schwester Morgan le Fay. Einmal hatte sie sein Schwert gestohlen, damit einer ihrer Liebhaber Artus besiegen konnte. Sie hatte auch die Affäre zwischen Lancelot und der Königin öffentlich gemacht, andererseits hatte sie Artus oft unterstützt und ihn nach einer Verletzung im Kampf gepflegt. Mir fiel ein, dass sich ja die ganze Geschichte mit Artus in Südengland, in Cornwall, ereignet hatte und Jutta und ich gerne wieder einmal dorthin fahren wollten.

„Vor ein paar Jahren habe ich viele englische Gärten gesehen. Sissinghurst war dabei. Ein altes Schloss mit einem herrlichen Garten. Ich hatte bis dahin noch nie so viele verschiedenfarbige Iris gesehen. Alle Farbschattierungen waren vorhanden. Bemerkenswert war auch der White Garden. Neben einer Gartenterrasse wuchsen bevorzugt weiße, im Mondlicht leuchtende Pflanzen.“

Dino brachte unsere Cocktails. Ich erhob mein Glas und wir nickten uns zu.

„Wenn Quantenphysik unseren Alltag bestimmt, warum blieb sie uns dann doch so verborgen? Gibt es denn eine eigene Quantenwelt?“ fragte ich.

„Wir können ihr nur indirekt über ihre Wirkungen begegnen, die bis zu unseren Sinnen reicht. Aber wir müssen bereit sein, diese Wirkungen zu erkennen. Dafür brauchen wir ein Gedankengebäude und das ist die Quantentheorie“, sinnierte Siggi.

„Jetzt hat doch die Physik in so erheblichem Maße zur Entzauberung der Welt beigetragen, handelt es sich hier um eine Wiederverzauberung der Welt?“

„Um die Quantenphysik erklären zu können, musst Du auf der klassischen Physik aufbauen. Du musst Dir Gedanken über Raum und Zeit machen. Alle psychologischen Interpretationen interessieren zunächst nicht. Du definierst, was eine Linie, eine Fläche oder ein Raum ist. Das bedeutet, dass Du jetzt jeden beliebigen Punkt im Raum durch drei Zahlen beschreiben kannst. Wenn Du ein System hast, das sich nicht um seine eigene Achse dreht, beschreiben Teilchen, die sich in diesem System bewegen, eine Gerade. Als nächstes musst Du die Zeit einführen. Zeit basiert auf Ereignissen. Ich klopfe jetzt auf den Tisch und zähle bis zehn. Ich kann jetzt sagen, beim fünften Klopfen hast Du gegähnt. Es gibt jetzt ein Vorher und ein Nachher. Wenn wir das Klopfen auf unsere Teilchen beziehen, dann können wir jetzt auch die Geschwindigkeit der Teilchen definieren: Die Geschwindigkeit eines Teilchens ist die Länge des zurückgelegten Weges geteilt durch das an unserem Klopfen abgelesene Zeitintervall. Das ist jetzt sehr vereinfacht dargestellt, außerdem braucht die Physik natürlich genaue Messgeräte, aber zum Verständnis der Zusammenhänge reicht diese Vorstellung aus. Die klassische Physik ist eng mit Isaac Newton verbunden, dessen Experimente und Erkenntnisse ihre Grundlage bilden. Um weitere Erkenntnisse zu bekommen müssen wir das System idealisieren. Dann können wir Abweichungen exakt feststellen und deren Ursachen angeben. Ein Begriff fehlt noch, das ist die physikalische Zeit. Wir greifen uns ein spezielles Teilchen heraus und passen unser Klopfen und Zählen so geschickt an, dass die damit gemessene Geschwindigkeit des Teilchens immer dieselbe ist. Um in diesen idealisierten Systemen messen zu können, brauchen wir technische Geräte. Hier zeigt sich erstmals wie wichtig für die Physik die Technik ist. Nur mit ihr lassen sich neue Erkenntnisse gewinnen. Das geradlinige, gleichförmige Verhalten des freien Teilchens ist das Normalverhalten, ein Abweichen führen wir auf Ursachen zurück. In der Newtonschen Mechanik wird dies mit Hilfe von Kräften beschrieben. Kräfte ausüben kann man z. B. mit Metallfedern, die sich spannen lassen. Abhängig von ihrer Masse lösen gleiche Kräfte unterschiedliche Beschleunigungen der Teilchen aus. Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung. Kräfte lassen sich addieren oder heben sich auf. In der Physik werden sie als Pfeile dargestellt. Sie werden dann als Vektoren bezeichnet. Im elektrischen Feld, das wir durch Reiben eines Gegenstandes aus Plastik an einem Tuch erzeugen können stoßen sich Materialien derselben Sorte untereinander ab, verschiedene Materialien ziehen sich gegenseitig an.“

Siggis Blick wandte sich plötzlich zum Eingangsbereich. Die Eingangstür hatte sich geöffnet und mehrere Paare mit Geschenkpaketen traten ein. Fast alle Damen trugen Pelzmäntel. Zobel oder Nerz. Lockeren Schritts mit schwingenden Säumen gingen sie vorbei und verschwanden im Aufzug, um ins Restaurant unter dem Glasdach zu gelangen. Wer Pelz trägt, ist selbstbewusst. Siggi schaut wieder zu mir. Wir grinsen uns beide an. „Wer ist wohl der Jubilar?“ Bank und Geld sind meine Gedanken. Die Männer in dunklen Anzügen. Keine Politiker. Der Blick ging nach draußen. Leichter Schneefall hatte eingesetzt.

„Die meisten philosophischen Probleme der Quantenphysik sind ihre Interpretationen. Dieses Problem gibt es nur bei der Quantenphysik, denn die klassische Physik erfordert keine Interpretationen“, sinnierte Siggi. „In der klassischen Physik sind die Position, die Geschwindigkeit und die Beschleunigung eines Objekts genau definiert und man weiß genau, was die Messwerte bedeuten. Theorie und Realität unterscheiden sich nicht. Die Quantenphysik beruht auf vier Prinzipien. Erstens auf der Wellenfunktion. Jedes Objekt im Universum wird durch eine quantenmechanische Wellenfunktion beschrieben, also eine mathematische Funktion, die überall im Raum einen Wert hat. Es ist die Schrödinger-Gleichung. Erwin Schrödinger, der Österreicher. Er war ein Semester hier in Stuttgart. Das zweite Prinzip sind die erlaubten Zustände. Ein Quantenobjekt kann nur in einem, aus einer begrenzten Zahl von erlaubten Zuständen beobachtet werden. Das ist der Ursprung für den Begriff „Quantensprung“, also für eine deutliche Änderung zwischen zwei Bedingungen. Drittens: die Wahrscheinlichkeit. Die Wellenfunktion eines Objektes bestimmt die Wahrscheinlichkeit, dass es in einem der erlaubten Zustände gefunden wird. Mit der Wellenfunktion lassen sich nur Wahrscheinlichkeiten berechnen und keine absoluten Ereignisse. Dies ist ein Konzept, das für Menschen, die mit der klassischen Physik groß geworden sind, ziemlich verstörend wirkt, denn dort konnte man das Ergebnis einer Untersuchung mit absoluter Sicherheit voraussagen. Experimente unter den gleichen Voraussetzungen können in der Quantenphysik zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen führen. Diese Zufälligkeiten sind ein philosophisches Problem. Einstein sagte damals, dass Gott nicht würfle. Und viertens: die Messung. Es ist ein aktiver Vorgang. Die Ausführung der Messung erzeugt die Realität, die wir beobachten. Das ist der Kern. Der Zustand eines Objekts wird durch die Messung endgültig festgelegt. Die Ausführung der Messung erzwingt die Realität, die wir beobachten.“

„An diese Aussage muss ich mich erst gewöhnen. Irgendwie klingt das etwas seltsam“, bemerkte ich.

„Diese vier Grundsätze sind die zentralen Elemente der Quantenphysik“, sprach Siggi weiter. „Wir verwenden die Schrödingergleichung, um Wellenfunktionen und die erlaubten Zustände eines physikalischen Objektes zu berechnen. Aus der Wellenfunktion bestimmen wir die Wahrscheinlichkeitsverteilung, doch die Wahrscheinlichkeitsverteilung verrät uns noch nichts über die genauen Ergebnisse einer einzelnen Messung. Das ist genau der Punkt, an dem die Physik gezwungen wird, zur Philosophie zu werden. Ich werde Dir ein andermal von der so genannten Kopenhagener Deutung erzählen.“

Wir waren beide ein bisschen müde geworden.

„Wenn Du Lust hast, reden wir ein andermal weiter.“

Ich dachte daran, dass morgen sicherlich ein anstrengender Tag sein würde. „Gerne“, sagte ich.

Wir bezahlten. Ich verabschiedete mich zuerst von Dino, dann von Siggi und nahm den 44er Bus nach Hause.

König Artus lebte in Zeiten großer Veränderungen. Die Römer hatten Britannien aufgegeben und ihn, den Kelten, als Statthalter eingesetzt. Die römischen Traditionen lebten zunächst weiter. Er war das Bindeglied von der alten zur neuen Welt. Würde jetzt alles anders werden? Würden alle Verbindungen zum Mittelpunkt Europas jetzt abgebrochen werden? Niemand wusste es damals.

2. Szene

Wellen und Teilchen

Admetos

Admetos, ein griechischer König, hatte Artemis, die Zwillingsschwester Apollons, Göttin der Jagd, des Waldes und die Beschützerin aller Kinder und Frauen beleidigt. Zur Strafe sollte er sterben. Artemis galt als grausame und strenge Göttin. Apollon konnte zwar bei Artemis erreichen, dass Admetos weiterleben dürfte, aber nur dann, wenn eine andere Person bereit wäre, für ihn zu sterben. Admetos fragte seine Eltern. Sie waren alt. Eigentlich wäre es ja nicht so tragisch, wenn diese etwas früher sterben würden und der Sohn dafür weiterleben könnte. Aber sie waren dazu nicht bereit. Sie wollten noch nicht sterben und in die Unterwelt gehen. Es fand sich auch sonst niemand, der bereit gewesen wäre, für ihn zu sterben. Die Situation war verfahren. Dann meldete sich überraschend seine Frau Alkestis zu Wort und bot Admetos an, für ihn zu sterben. Admetos war einverstanden. Zunächst passierte nicht viel, Apollon wollte ja seine guten Beziehungen zur Unterwelt spielen lassen, aber schließlich war es dann doch soweit, Alkestis sollte nun für Admetos sterben. Alkestis war bereit für den Weg in die Unterwelt. Sie wurde von Tag zu Tag immer schwächer und schwächer. „Die Kinder brauchen den Vater dringender als die Mutter“, sagte sie. „Heirate nicht wieder, denn die Frau nach mir wird den Kindern keine gute Mutter sein.“ Admetos versprach es ihr. Dann starb sie. Admetos war entsetzt. Seine geliebte Frau war tot. Er war wütend auf seinen Vater. „Warum bist Du nicht gestorben?“ „Sohn, Du bist ein Feigling“, rief der Vater. Trauer und Bestürzung breitete sich aus. Plötzlich betrat ein fröhlicher Wanderer das Trauerhaus, und bat um Einlass. Admetos war zu erschöpft, jedoch gebot es die Gastfreundschaft, dass man keinen abweist. Es war Herakles, der es sich in der Küche bequem machte, und auch bald zu essen und zu trinken bekam. Die Bediensteten mokierten sich über das Zechgelage. Die Stille im Haus kam Herakles seltsam vor. Auf die Frage, ob jemand verstorben sei, verneinte Admetos zunächst. Er wollte den Gast nicht stören. Als Herakles schließlich doch erfuhr, was passiert war, bot er seine Hilfe an. Vielleicht schon ein bisschen vom Wein angeheitert, erklärte er sich bereit, in die Unterwelt hinabzusteigen und Alkestis zurückzuholen. Er stand auf und ging hinaus. Und tatsächlich kehrte er nach einiger Zeit mit einer verschleierten Frau zurück. Herakles wollte Admetos prüfen. Er bot ihm eine Frau an, die er als Sieger in einem Kampf gewonnen habe, als Ersatz für die verstorbene Alkestis. Admetos lehnte mehrfach ab. Schließlich lüftete Herakles den Schleier und vor ihm stand Alkestis.

„Kanntest Du das Drama Alkestis des Euripides?“, fragte mich Siggi, als wir uns am nächsten Abend wieder trafen. „Nein“, sagte ich. „Er selbst hat das Stück vor 2500 Jahren geschrieben und diese Geschichte ist immer noch so spannend wie damals. Er hat allerdings bei dem Wettbewerb nur den zweiten Preis für das Drama bekommen. Erster wurde Sophokles. Griechenland war der Mittelpunkt der Welt. Es war eine Zeit, in der neue Religionen und Philosophien entstanden. Bei den Chinesen Konfuzius, bei den Indern Buddhismus und Hinduismus und bei den Juden der Glaube an einen Gott Jahwe. Die übrige Welt war im Tiefschlaf.“

„Es gab natürlich Kriege, Deportationen, Massaker und Zerstörungen von Städten. Plötzlich wurde allerdings Moral, Ethik, Gerechtigkeit und Respekt vor anderen Menschen hervorgehoben. Der Mensch sollte nichts unbesehen glauben, jeder sollte sich selbst ein Bild machen können. Auch die alten Mythen wurden neu bewertet. Die Naturphilosophen suchten nach einer rationalen Grundlage für die alten Mythen. Die Welt war aus einem Urstoff hervorgegangen. Nicht durch göttliche Initiative sondern durch kosmische Gesetzmäßigkeiten. Das war der Beginn der Physik. Gleichzeitig entwickelten die Athener ein neuartiges Ritual, das Drama. Bei einem religiösen Fest wurden feierlich die alten Mythen inszeniert und gleichzeitig auf ihre Gültigkeit überprüft. Das Publikum wurde zu Richtern. Der Mythos wurde eigentlich nicht in Frage gestellt. Es ging um die Frage der Identifikation. Waren die Götter wirklich gerecht? Die Tragödien wurden zum Fest des Dionysos aufgeführt. Wahrscheinlich waren sie bedeutsam bei der Initiation junger Athener, die sie dadurch zu Erwachsenen machte. Wie bei jeder Initiation zwang die Tragödie das Publikum, sich Tabus zu stellen und Extremsituationen zu durchleben.“