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Eine Affenkomödie

Humoristischer Kriminalroman von Robert Kohlrausch

Copyright © 2017 Peter Frey

Herstellung und Verlag

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783743123427

Robert Kohlrausch wurde 1850 in Hannover geboren und starb 1934 in München. Er arbeitete als Architekt und Journalist und ist Autor mehrerer Kriminalromane.

Neufassung und Digitalisierung von Peter Frey. Die Neufassung nimmt leichte Veränderungen am Originaltext vor, die der Lesbarkeit und der Übertragung in die heutige Zeit geschuldet sind. Ziel ist es, den Charakter des Originals so weit wie möglich zu erhalten. Peter Frey arbeitet als Publizist und Autor in Süddeutschland.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Sie nannten ihn das »eine Auge der Gerechtigkeit«. Es war nicht schön von den Leuten; aber man weiß ja, dass die Spottlust der Menschen auch vor den höchsten Autoritäten nicht Halt macht, weder vor Päpsten, noch vor Königen, weder vor Schwiegermüttern, noch vor der Polizei. Wahrhaftig, sogar diese beste Freundin aller gesitteten Staatsbürger ist nicht sicher vor schlechten Witzen. Und so war auch der Herr Oberregierungsrat Bornträger, vielgefürchteter Chef der Sicherheitspolizei, mit einem Spottnamen bedacht worden. Auf das Monokel, das er trug, besaß er als Reserveoffizier der Kavallerie ein wohlbegründetes Anrecht, und seine Schuld war es doch sicher nicht, wenn die Nase in seinem runden Gesicht so kurz geraten war, dass er die sonderbarsten Manöver machen musste, um jenes zweckloseste aller Marterinstrumente vor seinem rechten Auge notdürftig festzuhalten. Dass er dazu dies Auge selbst vollkommen zukneifen musste, wäre an sich nicht so schlimm gewesen; denn durch ein Monokel hat wohl noch niemals irgend ein Mensch irgendetwas gesehen. Aber diese freiwillige Einäugigkeit war auch der Anlass zu dem hässlichen Spitznamen, den der Herr Oberregierungsrat nun durchs Leben schleppte und womit nebenbei seinen vielen Untergebenen bitteres Unrecht geschah. Denn es gab nicht nur dies eine, sondern Hunderte von Augen der Gerechtigkeit, die mit Selbstverleugnung wachten, suchten und spähten.

In dieser Frühlingsdämmerstunde, die so hell war, als wenn die Sonne sich freute, jetzt nicht mehr so zeitig wie ein Kind ins Bett geschickt zu werden, war das bewusste eine Auge außer Dienst und erfreute die heimischen Räume in der königlichen Polizeidirektion mit seinem Leuchten. Es war ein großer, heller, modern möblierter Salon ohne jeglichen polizeilichen Beigeschmack, wo der Herr Polizeichef eins der Abendblätter las. Außer ihm waren noch drei lebende Wesen im Zimmer: ein Papagei und zwei Damen. Der graue Papagei saß auf einer hohen Stange, die jüngere der Damen - sie mochte die Dreißig eben erreicht haben - in einem dunkelroten Klubsessel, die ältere der beiden in einem häufig knarrenden Rohrstuhl, den ein sogenannter Thron in der einen Fensternische trug. Das war Tante Aurelie, die Schwester von der verstorbenen Mutter des hochwohlgeborenen Herrn Bornträger, nahezu zwanzig Jahre älter als er, klein, dicklich, in sich zusammengesunken und so stocktaub, dass nur bei besonders günstigem Wind - sie behauptete, Südwest wäre der beste - ein Wort aus Menschenmund an ihr Ohr drang. In dieser notgedrungenen Einsamkeit schuf sie sich ihre besonderen Freuden, unter denen es die größte war, dort am Fenster zu sitzen und in einem jener Spiegelapparate, die man Spione heißt, jeden Vorgang aus der Straße mit Eifer zu verfolgen. Sie kannte die ganze Nachbarschaft mit all ihren Eigenheiten und Schwächen, und ihre Beobachtungsgabe oder ihre Phantasie war so stark, dass es manchmal schien, als ob sie mit Hilfe ihrer Spiegel durch die Mauern hindurch in das Innere der Häuser hineinschaute. Wenn aber irgendetwas ihr besonders interessant vorkam, dann teilte sie sich der Außenwelt in einer Bemerkung von kurzem und geheimnisvollem Telegrammstil mit, und jetzt eben waren kaum fünf Minuten vergangen, seit sie ihre Angehörigen durch die Mitteilung über irgend einen geheimnisvollen Nachbarn erfreut hatte: Jetzt brennt er doch wieder Briketts.

Nach Erklärungen ihrer Offenbarungen forschte niemand mehr, der sie kannte; die Wahrscheinlichkeit einer Verständigung war gar zu gering. Auch diesmal hatte die Schwester des Oberregierungsrats in ihrem Klubsessel nur ein wenig gelacht und war gleich wieder in ihr nichtstuerisches Träumen zurückverfallen. Sie war merkwürdig hübsch, wenigstens sehr pikant, sehr rassig. Was die Nase ihres Bruders an Ausdehnung zu wenig bekommen hatte, schien der ihrigen zugelegt worden zu sein, die scharf und energisch vorsprang. Das braune, schwere Haar hatte sie sich à la Cléo de Mérode glatt über die Ohren gelegt, doch hatte dies Mittel nicht genügt, ihrem Gesicht den unschuldsengelhaften Ausdruck zu geben, den die schmuckreiche Tänzerin sich so erfolgreich irgendwoher verschrieben hat. Hier war eine Täuschung höchstens solange möglich, als die Augenlider gesenkt blieben. Hoben sie sich, dann sah man sofort allerlei kleine Teufelchen der Lustigkeit und der Bosheit in den entschleierten Höhlen tanzen.

Sie lag mehr im Stuhl, als sie saß, und schaute durch ein gegenübergelegenes Erkerfenster in den gelbgefärbten Abendhimmel hinein. Dort hinten leuchtete der Frühling, und ihre Blicke sagten, dass er eine sehr angenehme Erfindung sei. Zum Sprechen aber hatte sie offenbar keine Lust, und so schwiegen die drei Personen eine ganze Weile.

Der Papagei war der erste, dem die stumme Unterhaltung langweilig wurde.

Laut aufkreischend schlug er mit den Flügeln und sagte dann vernehmlich: Du Scheu-, du Gräu-! Irgendein Lehrmeister hatte sich offenbar Mühe gegeben, ihm die schönen Worte Scheusal und Gräuel beizubringen, doch war der Vogel in der Mitte der Lektion stecken geblieben und über Scheu- und Gräu- nicht hinausgekommen. Nur das noch weniger parlamentarische Wort Luder sprach er zur Schande seines Lehrmeisters ohne Stocken mit Wohlbehagen aus, und zuweilen in besonders günstigen Momenten überraschte er seine Mitwelt durch ein paar längere, schwierige Sätze.

Das abscheuliche Vieh!, sagte der Herr des Hauses, halb von seiner Zeitung emporblickend. In seinem Ton war immer eine Mischung aus künstlicher Würde und natürlicher Nervosität.

Lass ihn doch, entgegnete seine Schwester, ohne ihre Stellung zu verändern. Er ist ja so nett.

Nett?

Ja, er ist lustig. Und das ist schon ein großes Verdienst in dem Haus hier, wo die heilige Justitia mit der heiligen Langeweile tagtäglich Polonaise durch alle Zimmer tanzt. Außerdem habe ich ihn gern um seines Gebers willen.

Was hast du denn mit dem unglücklichen Seekadetten vor?

Mit dem kleinen Dittfurth? Nichts. Er gefällt mir nur. Er ist ein wunderhübsches Kerlchen geworden, seit ich ihn nicht gesehen hatte. Schade, dass er schon wieder fort ist.

Ich aber sage: Gottlob! Mir genügt es vollauf, dass er uns dies schreiende Ungetüm ins Haus gebracht hat. Eine ganze Menagerie hat er, glaube ich, mit sich geschleppt und seine Bekanntschaft und Verwandtschaft damit unglücklich gemacht. Das hätte gerade noch gefehlt, dass du mit dem grünen Jungen angebändelt hättest.

Jugend schändet nicht. Er war kräftig und groß für sein Alter. So ein paar Jahre auf See machen viel. Frische Farben, Helle Augen …

Sei still, Marion; vergiss nicht, wer und was ich bin. Ich mag diese frivolen Reden nicht, du weißt es.

Und du weißt auch, dass ich nicht mehr Marion genannt werden möchte.

Bitte, darauf lasse ich mich nicht ein. Du hast die Marotte gehabt, deinen guten deutschen Namen Marie in Marion umzuändern, und ich habe dir den Gefallen getan, mich daran zu gewöhnen. Dabei bleibt es nun aber. Alle vierzehn Tage einen neuen Namen, das gibt es nicht. Sonst könnte ich mich darauf gefasst machen, dich Mary zu nennen, sobald irgend ein spleeniger Engländer dir gefiele, und Marietta, wenn ein schwarzäugiger Italiener Gnade vor dir fände. Denn das habe ich doch nun ganz zweifellos eruiert, dass du dich nur deshalb Marion hast nennen lassen, weil du bis über die Ohren in diesen Menschen, diesen Delaroche, verschossen warst.

Und wenn …

Bitte, lass mich ausreden. Ich liebe es nicht, unterbrochen zu werden. Als Nachkomme einer Emigrantenfamilie trägt er seinen französischen Namen, und da meintest du, Marion Delaroche würde vortrefflich klingen. Dein plötzlicher, lebhafter Verkehr mit Dittfurths ist auch nur seinetwegen von dir inszeniert worden, weil du ihm vom Garten dort in die Fenster sehen konntest.

Er hat mir auch gefallen. Sie sah ein wenig geärgert aus, aber sie versuchte zu lachen.

Welcher Mann gefiele dir nicht?, sagte der Polizeichef mit einem schweren Seufzer, um dann hinzuzufügen: Bei diesem hast du dich aber doch geschnitten. Man sagt mir ganz bestimmt, er habe sich verlobt.

Verlobt? Sie war aufgesprungen und vor ihren Bruder hingetreten. Ein anderer hätte sich wohl gefreut an ihrer schlanken und hohen Gestalt, die von einem dunkelgrünen Sammetkleid eng umschlossen wurde, doch sind bekanntlich Brüder für die Vorzüge ihrer Schwestern meist einigermaßen kurzsichtig. Auch der Herr Oberregierungsrat machte sich nicht die Mühe, sie anzuschauen; seine Blicke spazierten in den Spalten der Zeitung hin und her, während er sagte: Der Mensch hat ja wirklich eine neue Stellung hier gefunden, ist Journalist geworden. Journalist! Eine hübsche Karriere! Zuerst Infanterieleutnant um die Ecke gegangen. Dann bei uns untergekrochen als Polizeikommissär - vor vier Wochen entlassen ...

Marion fiel ihm rasch ins Wort. Bitte sehr! »Entlassen« ist nicht der richtige Ausdruck. Hinausgeärgert habt ihr ihn. Weil er vornehmer, eleganter und vor allen Dingen klüger war als die übrige hohe Polizei, habt ihr ihn drangsaliert, bis er freiwillig gegangen ist.

Du nimmst ja noch sehr lebhaft für ihn Partei.

Durchaus nicht. Ich bemühe mich nur, gerecht zu sein. Also Journalist ist er geworden, sagst du?

Zeitungsschreiber, jawohl. Hier bei dem nationalmiserablen Blatt, über das ich mich täglich ärgern muss, hat er eine Stelle gefunden. Als Theaterkritiker noch dazu! Hier steht seine erste sogenannte Kritik. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so läppisch wäre.

Gib mir die Zeitung.

Was willst du damit?

Seine Kritik lesen.

Spar dir die Mühe.

Gib sie mir her.

Achselzuckend gab er ihr das Blatt hinüber, und sie trat damit ans Fenster, um beim letzten Tagesschein die erste Kritik des Herrn Leutnants und Polizeikommissärs a. D. Paul Delaroche zu lesen. Wider willen lachte sie ein paar Mal auf mit zornigem Gesicht.

Talentvoll ist er, sagte sie dann, als sie zu Ende war. Das Ding ist gut geschrieben, schneidig, witzig und …

Frech, weiter nichts, warf Bornträger ein.

O nein, die Frechheit allein tut es nicht. Es ist etwas anderes drin - seine Persönlichkeit. Man meint, ihn zu sehen mit seinen lustigen, maliziösen, so verteufelt hübschen Augen. Sie schwieg einen Augenblick, ihr Busen hob sich, von einem verhaltenen Seufzer geschwellt. Dann aber warf sie den Kopf zurück und schlug mit der Hand durch die Luft. Na, ein anderes Bild. Nur keine Kopfhängerei. Lustig gelebt und selig gestorben. Franz, wie wäre es heute Abend mit dem Zirkus?

Was willst du denn dort schon wieder? Wir waren ja doch erst vor drei Tagen drin.

Ja, das macht nichts. Ich interessiere mich für die Pferde.

Er wandte den Kopf zu ihr um und runzelte die von keinem Haar mehr beschattete Stirn; dabei fiel ihm, wie jedes Mal bei dieser Prozedur, das Monokel aus dem Auge. Leider weiß ich, dass die Pferde, für die du dich interessierst, nur zwei Beine haben. Die Geschichte mit dem Jockeyreiter vor zwei Jahren ist dir noch unvergessen, bei mir so gut wie in der Stadt. Einem solchen Menschen Briefe zu schreiben! Marion, Marion, denk an deinen Ruf, denk an meine Stellung!

Ein Brief ist doch nichts Böses. Ich will mich nicht zu Tode langweilen, und ein schöner Mann gefällt mir nun einmal.

Achselzuckend gab der Oberregierungsrat für den Augenblick die Debatte auf, und in die Pause hinein, die entstand, - sie hatte trotz ihrer Taubheit einen merkwürdig feinen Instinkt für Pausen - machte Tante Aurelie die überraschende Bemerkung: Die Hosen hat ihm wieder seine Frau gemacht.

Ohne sich um diese unbekannten Hosen zu kümmern, fragte Marion, die ein paarmal im Zimmer auf und ab gegangen war, nach einer Weile: Und verlobt ist er, sagst du? Mit wem denn?

Ach, mit dieser … wie heißt sie doch gleich? Mit diesem Fräulein von Bühring von dem Verein für Frauenschutz. Dort macht sie ja die Sekretärin und hat es noch nicht einmal nötig, wie man sagt. Sie soll übrigens eine arrogante Person sein; Frau von Hergenrath hat sich neulich höchst abfällig über sie geäußert.

Frau von Hergenrath, ach, dies liebliche Wesen!

Marion!

Was willst du?

Ich verbitte mir jede unehrerbietige Äußerung über diese vortreffliche, geistig so außerordentlich hochstehende Dame.

Mag sie so hochstehen, wie sie will. Ich habe nun einmal nichts übrig für dies Genre.

Das ernst und streng nach alter Sitte

Soeben in der Griechen Mitte

Am Wanderstabe schritt einher,

Als ob die Gottheit nahe wär.

Sprich keinen Unsinn.

Nein wirklich, Franz, mir imponiert eine Frau noch nicht, weil sie Vorsitzende vom Suppenverein ist.

Frau von Hergenrath ist überhaupt nicht im Suppenverein.

Nun, dann in einem Dutzend von anderen Vereinen. Auf diesem blühenden Wirkungsfeld begegnet ihr einander ja gerade. Was dort Mode wird, das macht ihr mit. Jetzt ist eben die Geschichte mit Babel und Bibel aufgekommen - schwupp, seid ihr beide Mitglieder vom archäologischen Verein und sitzt bis über die Ohren in Keilschrift. Ein Polizeichef und Keilschrift! Hat man so was jemals gehört? Bei ihr wundert es mich allerdings nicht, wenn sie sich für Ausgrabungen interessiert. Denn sie sieht selber aus, als ob sie ausgegraben wäre.

Jetzt ist es genug! Ich verbitte mir ein für allemal …

Es blieb ihr verschwiegen, was er sich jetzt verbitten wollte. Denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Dienstmädchen brachte die neu eingelaufene Post für den Herrn Oberregierungsrat, ein Paket von Zeitungen und Briefen, so dick, wie die Würde seiner Stellung es erforderte. Mit Eifer griff er danach, warf aber die Briefe zunächst achtlos beiseite, nahm eine Drucksache hervor, zerriss das Kreuzband und vertiefte sich voll gespannter Aufmerksamkeit in die Lektüre des Blattes. »Im Reiche König Hammurabis«, stand auf dem Titel. Ebenso rasch jedoch, wie er es aufgegriffen hatte, durchflog er seinen Inhalt, faltete das Heft zusammen und barg es in seiner Brusttasche. Nun erst griff er nach den Briefen, überlas ein paar von ihnen und sagte dann: Es tut mir leid, Marion, ich kann heute Abend nicht mit dir ausgehen. Dienstliche Pflichten verhindern mich.

Diese dienstlichen Pflichten sind wirklich deine zuverlässigsten Untergebenen. Immer kommen sie zu rechter Zeit, wenn du keine Lust hast, mit mir auszugehen, weißt du wohl, dass du mir den »Sherlock Holmes« auch schon seit ein paar Monaten versprochen hast? Alle Welt spricht von dem Stück, es wird nächstens zum hundertsten Mal gegeben, und ich habe es noch immer nicht gesehen. Diese hochwohllöbliche Polizeidirektion ist wirklich schlimmer als ein Kloster!

Eine Polizeidirektion ist kein Vergnügungslokal.

Nein, das weiß der Himmel! Wenn ich mich hier zu Tode langweile oder auf Dummheiten komme, du hast mich auf der Seele, lieber Bruder.

Steif und streng erhob sich der Polizeichef von seinem Sitz: Dagegen gibt es ein einfaches Mittel, - seine Stimme war so streng wie sein Gesicht, - denke nicht immer nur an die Freuden des Lebens. Richte den Geist auf die ernsten Fragen, schaffe dir Pflichten. Ich gebe dir darin ein Beispiel. Meine dienstliche Tätigkeit wäre wirklich allein genügend, um meine Zeit auszufüllen, aber du hast eben selbst betont, welch ausgedehnter Vereinstätigkeit ich mich daneben noch widme; auch heute Abend muss ich wieder in einen dieser Vereine. Oft bin ich zum Umsinken müde, wenn ich nach Hause komme, so müde, dass ich mein Vaterunser kaum zu Ende beten kann, aber ich lege mich nieder mit dem trostreichen Gefühl, der Wohltätigkeit, der Wissenschaft oder den kommunalen Interessen gedient zu haben.

Hochaufgerichtet stand er vor seiner Schwester, feierlich wie ein Prediger in der Wüste.

Du Luder, sagte der Papagei, die Tante aber lachte plötzlich laut auf, um dann den erhabenen Moment mit den unpassenden Worten zu stören: Ich dachte, es wäre eine Tortenschachtel, und nun ist es ein Klosettdeckel.

Merke dir meine Worte, fuhr der Oberregierungsrat in etwas weniger feierlichem Ton fort: Ich muss jetzt gehen. Ich weiß nicht genau, wann ich zurückkomme; ihr braucht mit dem Abendessen nicht auf mich zu warten. Ich werde vielleicht … ja, was ist denn das?

Helles, rasches, heftiges Glockenklingen tönte von der Straße herauf, das Rollen eiliger Räder klang dumpf hinein. »Es brennt!«, rief die Tante mit einem so vergnügten Ausdruck, als wenn sie zur Christbescherung einlüde. Es muss Großfeuer sein.

Fast im selben Augenblick fand ihre Aussage die amtliche Bestätigung. An der Tür wurde geklopft, und gleich darauf erschien ein Schutzmann in Uniform mit der Meldung: Herr Oberregierungsrat, soeben wird telefoniert: Großfeuer in der Augsburger Straße.

Dem Polizeichef entfuhr ein sehr unsittlicher Fluch, und das Monokel fiel. Alle Teufel! Wo brennt's denn?

Auf Nummer fünf, Herr Oberregierungsrat.

Wer wohnt da, wem gehört diese Nummer fünf?

Einer alten Frau namens Negenborn. Einer etwas anrüchigen Person, einer Kartenlegerin oder Wahrsagerin. Das Haus an sich ist nur eine alte Baracke …

Aber?

Aber unmittelbar gegenüber, auf der anderen Seite der Augsburger Straße, liegt das große Gefangenenhaus und in einer Flucht mit dem brennenden Gebäude, nur durch einen schmalen Weg von seinem Grundstück getrennt, befindet sich die Kartonagen- und Geschäftsbücherfabrik von Mayer & Rosenfeld.

Abscheulich! Der Oberregierungsrat murmelte das Wort halblaut zwischen den Zähnen, Marion war ein paar Schritte näher getreten und horchte gespannt auf die Worte des Schutzmanns. Nur die Tante blickte unentwegt in ihren Spion und mit seiner Hilfe auf die Straße hinunter, wo eben wieder eine Spritze vorüberdonnerte und klingelte.

Melde ferner, fuhr der Schutzmann fort, der vor Eifer und Respekt förmlich dampfte, dass die Besitzerin des Hauses, die Frau Negenborn, bei dem Brand umgekommen sein soll; vor Schrecken soll sie der Schlag gerührt haben.

Die arme Frau! Marion rief es, doch ihr Bruder verwehrte ihr mit einer majestätischen Handbewegung die Einmischung in polizeiliche Angelegenheiten.

Es ist gut, Sie können gehen. Ich begebe mich sofort persönlich auf die Brandstelle.

Der Schutzmann machte kehrt und verschwand, sein Chef blieb trotz der abgegebenen Erklärung noch einen Augenblick überlegend stehen. Es war, als wenn er seine dienstliche Würde mit einiger Mühe zusammensuchen müsse.

Du willst selbst hinaus?, fragte Marion rasch. Dann sei doch so gut und telefoniere mir, ob die arme Frau wirklich umgekommen ist.

Was geht dich dieses alte Weib denn an?

Ich interessiere mich dafür, ob sie auf so traurige Weise gestorben ist.

Marion, was hat diese neue Laune zu bedeuten? Ich will doch nicht hoffen …

Was denn?

Man sagt, dass viele Damen aus der Gesellschaft in der Abenddämmerung zu der Alten hinausgegangen sind, um sich die Zukunft verkündigen zu lassen oder ihre Dienste vielleicht auch für andere, noch dunklere Zwecke in Anspruch zu nehmen. Soll ich denken, dass auch du dich so weit vergessen hast?

Und wenn es so wäre?

Dann würde ich dir noch einmal sagen, wie schon so oft: Bedenke deinen Ruf, bedenke meine Stellung! Sieh mich an. Meinst du, dass es mir Freude macht, da hinaus zu fahren und mich vielleicht von einem glühenden Balken erschlagen zu lassen? Aber die Pflicht ruft, und ich folge ihr. Ich hatte mich so sehr auf die Vereinssitzung heute Abend gefreut …

Ach, dieser liebe Verein!

Was soll dieser spöttische Ton?

Ich meine nur, dass die Vereinssitzungen eine sehr angenehme Erfindung für die Herren der Schöpfung sind.

Wieso? Warum?

Weil sie so hübschen Vorwand abgeben, wenn man sich einmal ein wenig im geheimen amüsieren will.

Marion, du beleidigst mich. Fast kann ich sagen: Du beleidigst mich in amtlicher Eigenschaft. Ich untersage dir das. Und wenn du fortfährst, mich so zu ärgern bei Tag und Nacht, dann sollst du deinen Bruder einmal kennen lernen!

Er war schon draußen, bevor sie die Bemerkung hatte machen können, dass ihr dieser Ärger nur doppelt verdächtig erscheine. Hinter sich hatte er die Tür mit ungewohnter Heftigkeit zugeschlagen, so dass die Wände dröhnten und ein leises Echo dieses zornigen Tones auch bis zu Tante Aurelie hinüberdrang. Sie wandte sich hastig um und sagte freundlich mahnend: Marion, ich glaube, es hat geklopft.

Zweites Kapitel

Das Theater war gefüllt bis unter die Decke hinan und unter der Decke sogar am allergefülltesten. Man gab die Detektivkomödie »Sherlock Holmes« zum hundertsten Mal, ohne dass ihre Zugkraft auch nur um ein Atom geringer geworden war. So manches Jahr hindurch hatte man sich im Theater mit Anstand so sträflich gelangweilt, hatte Neurastheniker, Idioten und Perverse psychologisch vivisezieren helfen, ohne dass auch nur die gelindeste Beimischung von äußerer Handlung die Qualen gemildert hätte, und hatte dabei auf das Gebot der allmächtigen Mode immer nur flüstern dürfen: Wie fein, wie wahr, wie echt! Nun kam dies überseeische Detektivstück wie eine Erlösung von dem Bann tödlicher Undramatik. Mochten die geistvollen Feinheiten des genialen Sherlock Holmes auch vergröbert oder verwässert sein, mochte das Ding so plump zugehauen und zurechtgezimmert erscheinen, wie eine Kasperlkomödie von anno dazumal, es passierte doch wenigstens wieder einmal etwas dort oben auf den eingeschlafenen Brettern. Gottlob! Man brauchte sich ausnahmsweise einmal nicht zu langweilen.

Und williger, widerstandsloser noch als bei früheren Vorstellungen gab man sich den derben und überraschenden Wirkungen des Stückes an diesem Abend hin. Die fettgedruckte und mit einem Lorbeerkranz umwundene Zahl Hundert übte eine suggestive Kraft. Was hundertmal gegeben wurde, musste doch etwas Gutes sein. Und so herrschte im Theater jene heiße, gespannte Atmosphäre, die ein aufregendes Theaterstück mit einem Gewitter gemein hat; für den Donner sorgte an den Aktschlüssen das Publikum. Während der Aufführung aber saßen die Damen mit auf das Herz gepressten Händen, und in der aufregenden Revolverszene sprang im Parkett ein fünfzehn- oder sechzehnjähriges Mädchen vom Sitz empor und schrie: Herr Sherlock Holmes, Herr Sherlock Holmes, er hat den Revolver! Man lachte, man zischte, man beruhigte sich. Hinterher behaupteten Übelwollende, der Direktor hätte die Kleine engagiert, um den Glanz der hundertsten Aufführung zu erhöhen. Aber das war unwahrscheinlich; denn keine Menschengattung hasst bekanntlich alle Reklamekunststücke so sehr wie die der Theaterdirektoren. Sie dienen sämtlich nur der edlen, reinen und wahren Kunst. Das ist auf jedem ihrer Prospekte gedruckt zu lesen.

Endlich hatte auch Marion Bornträger es bei ihrem Bruder durchgesetzt, dass er zu dieser Aufführung mit ihr ins Theater ging. Er hatte lange Widerstand geleistet, weil es ihm höchst unsympathisch war, ernste polizeiliche Angelegenheiten in einer Gauklerbude vor Krethi und Plethi erörtert zu sehen. Auch diesmal war er beim Morgenkaffee noch obstinat gewesen, und erst die eingelaufene Post hatte plötzlich eine andere Stimmung in ihm aufgeweckt. Mit unerwartetem Eifer war er nun auf die Sache eingegangen und hatte gleich telefonisch ein paar Plätze für den Abend reservieren lassen.

Sie saßen im ersten Rang, in der zweiten Loge vom Proszenium. Mit Wonne gab sich Marion den aufregenden Vorgängen auf der Bühne hin und ließ das Glas nicht vom Auge, so lange der Darsteller der Titelrolle, ein großer, schön gewachsener Mensch, auf der Bühne stand. Ab und an flüsterte sie ihrem Bruder eine Bemerkung zu, doch erkannte sie bald, dass er auffallend zerstreut war. Sie sagte sich, dass der Ärger von vorhin vielleicht daran schuld sei; denn mit einem Ärger hatte der Abend für sie beide begonnen. Bornträger hatte sich kaum in stattlicher Würde auf seinem Platz in der vordersten Reihe niedergelassen, als in der zweiten Loge rechts von ihnen eine junge Dame in Begleitung eines Herrn erschien. Sie war hellblond, mit einer Fülle leuchtenden Haares, mittelgroß, gleichmäßig gewachsen, dunkel und einfach, aber elegant gekleidet. Ihr Begleiter war, von gleicher Eleganz in der Kleidung abgesehen, in allen Stücken ihr Gegensatz. Er war kleiner als sie, aber ungewöhnlich schlank und sehnig, die Augen dunkelbraun, lebhaft, lustig und scharf gleich Vogelaugen, die Gesichtsfarbe bräunlich, die Lippen lachend und leuchtend rot. Eine Deutsche neben einem Romanen, musste jeder denken, der die beiden sah. Zugleich aber musste ihm klar werden, dass hier zwischen den beiden Nationen ein Zweibund geschlossen worden war, bei dem es keine vorausbestimmte Kündigungsfrist gab wie bei ähnlichen Bündnissen größeren Stils. Denn die zwei schauten einander in ganz kurzen Zwischenräumen mit so ungeheuchelter Seligkeit in die Augen, dass über ihre Gefühle nicht der mindeste Zweifel blieb.

Einmal aber glitten dabei die Blicke des Mannes doch ab von dem blonden Mädchenkopf, den sie so eifrig umschmeichelten, und flogen hinüber zu der Loge, wo der Herr Oberregierungsrat und seine Schwester ihn mit hochmütigen und zornigen Augen musterten. Höflich erhob er sich sogleich und begrüßte mit einer tadellosen Verbeugung die beiden. Was er wieder bekam, war weniger tadellos. Der Herr Polizeichef machte eine Bewegung wie eine Figur von Porzellan, die mit dem Kopf nicken kann und die man leise in den Nacken stößt; Marion aber wusste so viel Kälte in ihren Gegengruß zu legen, dass eine steinerne Niobe sie darum hätte beneiden können.

Sogleich machte Bornträger auch den edlen Wallungen seines Herzens Luft. Dass dieser Mensch, dieser Delaroche, die Keckheit hat, sich hier in den ersten Rang zu setzen, - es ist ein Skandal! Ein entlassener Kommissär in demselben Rang mit seinem früheren Chef; ich habe dafür nur das eine Wort: Skandal!

Marions Antwort klang nach erkünstelter Gleichgültigkeit. Er ist ja jetzt bei der Zeitung, und die Herren von der Presse werden bekanntlich überall verwöhnt. Dabei entfaltete sie den Fächer und beschirmte damit ihr Gesicht nach der Seite hin, wo Paul Delaroches Augen blitzten, die sie vor kurzem lustig und maliziös genannt hatte und die sie heute zu ihrem eigenen Ärger hübscher denn jemals fand.

Der zum Kritikerthron emporgestiegene Polizeikommissär unterhielt sich inzwischen mit seiner blonden Braut. Habe die Ehre, dir meinen verflossenen, höchst ungnädigen Chef vorzustellen, sagte er halblaut. Sie hatte schon bei seinem Gruß hinübergeblickt.

Das also ist er? Paul, es ist eigentlich komisch, - ich habe ihn schon gekannt.

Woher?

Aus deiner Schilderung. Du weißt so gut zu beschreiben, dass ich ihn ganz lebendig vor mir gesehen habe.

Das war doch bei ihm nicht schwer. Mischung von Bulldogge und Meerschweinchen, damit ist alles gesagt.

Sie lachte. Paul, du bist schrecklich!

Keine Spur. Sag doch selbst: Sieht er so aus oder sieht er nicht so aus?

Eigentlich sieht er wohl so aus.

Nun also. Die Wahrheit muss man doch sagen? Seinem Nächsten wenigstens. Bei Fremden ist etwas Falschmünzerei eher angebracht. Aber du bist doch nun meine Nächste, Kind, nicht wahr? Meine Allernächste?

Ja, Paul, flüsterte sie ganz leise. Auch er hatte die Stimme bei seinen letzten Worten gesenkt, und ihre vier Augen spielten jetzt wieder ein wunderhübsches Quartett miteinander.

Der Oberregierungsrat, der an seinem Ärger noch immer im stillen würgte und heimlich ab und an zur nahen Loge Delaroches hinübersah, grunzte in sich hinein, als er das zärtliche Augenspiel bemerkte. Dann aber bekam sein Kopf urplötzlich eine andere Wendung wie eine Wetterfahne, wenn der Wind sich dreht. In der Loge gerade gegenüber, die bisher ganz leer gewesen war, hatte die Tür sich geöffnet, und eine einzelne Dame trat herein, bei deren Anblick Bornträger eine plötzliche Elastizität in Beine und Rücken bekam. Sich halb erhebend, grüßte er mit der Eleganz eines Reserveoffiziers der Kavallerie. Ein fremdes, gnädiges Neigen des Frauenkopfes gegenüber war die Antwort, eines Kopfes, der mit lauter geraden Linien gezeichnet schien, aber doch der Vornehmheit und einer gewissen kühlen Schönheit nicht entbehrte. Dunkelblondes Haar legte sich glatt an die Schläfen, ein violettes Seidenkleid hob eine feste, kräftige Figur deutlich, aber diskret hervor. Die Dame war wohl kaum vierzig Jahre alt, ihre Bewegungen waren jedoch von so feierlicher Gemessenheit, dass Delaroche mit schnell bereiter Bosheit zu seiner Braut sagte: Sieh einmal drüben: die Ahnfrau.

Marion hatte den Gruß ihres Bruders mit höflicher Kopfbewegung begleitet, in ihrer Stimme war aber nicht viel Freundlichkeit bei den Worten: Ach, die Hergenrath auch hier?

Frau von Hergenrath, jawohl. Sie fragte mich neulich beim Diner bei Wessels, ob es angebracht sei, dieses Stück zu besuchen, und ich sagte ihr, dass meines Wissens nichts Anstößiges darin enthalten sei.

Ich glaube auch, dass ihre Jugend und Tugend ungefährdet davonkommen wird, sagte Marion mit einem Ton, der zeigte, dass es ihr angenehm war, für ihren Ärger einen Blitzableiter gefunden zu haben.

Das alles war gewesen, bevor die Geschichte von dem niemals irrenden Detektiv begonnen hatte. Dann aber war der Zuschauerraum auf einmal in geheimnisvolles Dämmerlicht versunken, der Vorhang hatte sich gehoben und Sherlock Holmes als permanenter Triumphator seinen Einzug gehalten. Freilich nur als Triumphator in Überzieher, langen Hosen und Zylinder, aber nicht minder sieggekrönt, als die antiken Herren mit nackten Beinen und Lorbeerkränzen auf dem Kopf, die sich des tarpejischen Felsens zur Erhöhung ihrer Lustbarkeit bedienten. So grausam war Sherlock Holmes nicht. Er machte wohl einmal ein wenig Feuerwerk, er eskamotierte Kugeln und Patronen in Revolver hinein und aus ihnen heraus, er zerschlug eine funkelnagelneue Petroleumlampe, die zwei Mark und fünfzig Pfennig gekostet hatte, doch an Menschenleben vergriff er sich nicht. Er blieb stets ein höchst eleganter Vorkämpfer der beleidigten Gerechtigkeit.

Als er das erste seiner Feuerwerke abgebrannt hatte, fiel der Vorhang zum ersten Mal. Das Publikum atmete auf und applaudierte. Der elegante Detektiv erschien und verbeugte sich, Marion hob das Glas wieder ans Auge, ein Blick von ihm flog zu ihr hinauf.

In der Loge neben Delaroche und seiner Braut war bisher ein Platz leer geblieben; jetzt aber öffnete sich die Tür, und ein Herr füllte die Lücke aus, die den dichten Zuschauerkranz noch unterbrochen hatte. Das Alter des großen, schwarzgekleideten, vornehm aussehenden Herrn war schwer zu bestimmen. Sein Schädel war schon bedenklich durch die Haare hindurchgewachsen, aber das Gesicht war frisch und rot, und in den Augen, die scharf durch einen Kneifer in die Welt blickten, leuchtete ein Protest gegen alles Alte und Abgelebte. Das benachbarte Paar zu seiner Rechten bemerkte er nicht sogleich, aber wenige Sekunden erst hatte er auf seinem Platz gesessen, als Delaroche ganz nahe an seinem Ohr sagte: Wenn das nicht Hans von Hildebrand ist, will ich selber Hans heißen.

Rasch wandte der andere den Kopf zur Seite, ein froher Glanz ging über sein Gesicht. Delaroche, wahrhaftig! Ja, wie gehts, alter Junge?

So gut, wie ich es niemals verdient habe und niemals verdienen werde, was der Mensch Glück nennt, sitzt nämlich augenblicklich in eigenster Person an meiner Seite. Diese junge blonde Dame hier ist seit ein paar Tagen die Braut eines argen Sünders, der Paul Delaroche heißt.

Sein Nachbar neigte den Kopf ein wenig, wartete jedoch noch auf die förmliche Vorstellung, die Delaroche unmittelbar folgen ließ. Du gestattest, Martha, dass ich dir einen früheren Regimentskameraden und hoffentlich heute noch guten Freund vorstelle. Herr von Hildebrand - Fräulein von Bühring. Ein großer Jäger vor dem Herrn; der alte Nimrod ist ein Waisenknabe gegen ihn. Was macht Afrika, Hans? Was machen die Tiger, die Alligatoren, die Löwen und Elefanten? Hast du noch ein paar übrig gelassen für die zoologischen Gärten und Menagerien, oder gehören jetzt alle schon der Vorwelt an?

Ganz so gefährlich ist es noch nicht geworden. Aber meinen Glückwunsch vor allem, dir und auch Ihnen, mein gnädiges Fräulein. Es ist nämlich ein kolossal guter Kerl, den Sie da heiraten wollen. Maulwerk ja manchmal schlimm, aber das Herz tadellos.

Mit einem feinen Lächeln schüttelte sie den Kopf ein wenig und entgegnete freundlich: Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Herr von Hildebrand. Das weiß ich schon so. Und ausgetobt hat er sich auch, wie er behauptet, also wollen wir es wagen.

Ja, ausgetobt hat er sich, das kann ich bezeugen, antwortete Hildebrand lachend. Er hat niemals nein gesagt, wenn es einen tollen Streich auszuführen gab; meistens hat er ihn sogar selber ausgedacht. Aber nun scheint er ja ganz solide geworden zu sein, und solche geben die besten Ehemänner.

Aber selbstverständlich!, warf Delaroche ein. Musterexemplar, zur Prämiierung geeignet. Große goldene Medaille!

Martha blickte so stolz und glücklich auf ihn, als wenn sie die goldene Medaille heimlich schon in der Tasche hätte, Hildebrand aber fragte: Haben gnädiges Fräulein schon lange hier gelebt?

Drei Jahre erst. Geboren bin ich nicht hier in der Stadt. Aber mein Leben hat sich hier sehr angenehm gestaltet, da ich eine Tätigkeit gefunden habe, die mir Freude machte.

Und welche, wenn ich fragen darf?

Ich weiß nicht, haben Sie schon einmal von dem Verein für Frauenschutz gehört? Es ist einer von den vielen Vereinen, die den Frauen aus dem Volk heute das Leben etwas leichter machen sollen. Dort erhalten sie unentgeltlichen Rat in Rechtsangelegenheiten. Und diesen Rat erteile ich ihnen - ich habe nämlich Jura studiert, weil es aber bei uns noch keine weiblichen Rechtsanwälte gibt, ist es schwer, seine Wissenschaft an den Mann zu bringen. Da ist es mir nun sehr lieb, diese Beschäftigung gefunden zu haben, wenn ich auch nichts damit verdiene.

Und in welchen Dingen wird solcher Rat gefordert?

Die Sache ist sehr vielseitig. Da kommen Frauen, die eine kleine Erbschaft gemacht haben oder selbst ein Testament machen möchten. Andere möchten sich scheiden lassen oder haben doch Beschwerden über ihren Mann. Und oft kommen auch die armen Mädchen, die verführt worden sind und sich nun keinen Rat wissen für sich und ihre kleinen Würmer.

Das ist famos!

Was denn?

Dass gnädiges Fräulein das so offen heraus sagen, so ganz ohne Prüderie.

Prüderie gibt es doch heute nicht mehr!

Oft aber ist mannweibliche Effronterie an ihre Stelle getreten, und ich sehe mit Vergnügen, dass das bei Ihnen auch nicht der Fall ist.

Warum soll ich nicht ruhig davon sprechen? Was können denn die armen Würmer für die Sünden ihrer Eltern, wenn anders man eine unvorschriftsmäßige Liebe zu den Sünden rechnen will?

Paul Delaroche, ich gratuliere dir noch einmal, sagte Hildebrand. Du hast eine Braut bekommen, die das Herz auf dem rechten Fleck hat.

Ein Herz wenigstens für die unglückliche Frau und für die armen, schuldlosen Kinder. Ich habe die kleinen Dinger immer ganz unmenschlich gern gehabt.

Ich kann sie nicht ausstehen, sagte Paul, aber seine Augen bezeugten, dass er log.

Haben gnädiges Fräulein selbst noch Eltern?, fragte Hildebrand.

Eine Veränderung, die sein scharfer Jägerblick sogleich bemerkte, ging mit ihr vor. Ihre Augen verdunkelten sich wie ein See, über den eine Wolke dahinzieht. Auch kam ihre Antwort nur stockend heraus.

Nein - das heißt, mein Vater ist gestorben. Die Mutter lebt noch, aber sie ist so leidend - das heißt, nicht eigentlich krank, sie regt sich nur über alles so furchtbar auf. Paul hat sie noch nicht einmal sehen dürfen; wir konnten es nicht wagen, zu ihr zu fahren. Darum haben wir auch noch keine Verlobungsanzeigen verschickt. Sonst …

Sonst wärest du natürlich unter den ersten gewesen, alter Freund, die eine bekommen hätten, beendete Paul die Rede seiner unerwartet wieder stockenden Braut.

Das Glockenzeichen von der Bühne her unterbrach alle weitere Unterhaltung für den Augenblick, und die Komödie auf der Szene löste die verschiedenen Komödien im Zuschauerraum ab. Sherlock Holmes ergötzte die Hörer mit einigen der verblüffenden Schlussfolgerungen, die sich aus dem Buch auf die Bühne gerettet hatten, machte die hübschen Revolvermanipulationen, die das kleine Zwischenspiel im Parkett hervorriefen, und ging aus dem Kampf mit seinem gleichfalls übermächtig schlauen Gegner wiederum als Triumphator hervor, wie es nun einmal seine angeborene Bestimmung war.

Im nächsten Zwischenakt gab es einen Besuch in der Loge des Oberregierungsrats. Frau von Hergenrath erhob sich mit ahnfrauenhafter Würde von ihrem Sitz, durchschwebte die Korridore, wo leichtfertige Kavallerieoffiziere und ihresgleichen eine leise Gänsehaut beim Anblick ihres ganz in strenge Tugend getauchten Gesichtes empfanden, und öffnete die Tür zur Loge des Polizeichefs, der auf seinem Sitz schon bedenklich unruhig hin- und hergerückt war. Er sprang nun empor, begrüßte die violette Dame aus dem Jenseits mit feierlichster Höflichkeit und rückte mit ein wenig zitternden Fingern den Stuhl zurecht, auf dem sie sitzen sollte. Marion stieß einen leisen Seufzer aus; viel lieber hätte sie wieder umherkokettiert, vor allem hatte Hans von Hildebrand mit seinem energischen Profil ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie hatte um seinetwillen schon in aller Eile dem sieghaften Sherlock Holmes im Herzen die Treue gebrochen. Nun musste sie tugendhaft sein und sich mit Frau von Hergenrath über Sachen unterhalten, die ihr höchst langweilig waren.

Ich bekomme Sie so wenig zu sehen, gnädiges Fräulein, sagte die Besucherin, dass ich diese Gelegenheit doch wahrnehmen möchte, um Sie wieder einmal zu begrüßen.

Marion sah ihr ins Gesicht und wunderte sich, wie schon häufig zuvor, über den sonderbaren Gegensatz zwischen diesen hartlinigen Zügen und der weichen, milden, singenden Stimme, die zwischen den schmalen Lippen hervorkam. Es war, als wenn die Dame heimlich einen Phonografen bei sich führte, der an ihrer Stelle sprechen musste.

Sie sind sehr liebenswürdig, gnädige Frau, sagte Marion dann. Unsere Wege kreuzen sich in der Tat nur selten.

Ich bedaure das auf das Lebhafteste. Wenn Sie sich ein wenig mehr in Ihres Herrn Bruders Interessen hineinfinden könnten, so würde das anders sein.

Ach, wissen Sie, für Keilschrift fühle ich nicht den allermindesten Beruf.

Die Ahnfrau schien sich über diese Bemerkung zu ärgern, denn sie wurde rot. Aber der Phonograf in ihrer Brust sprach noch ebenso milde wie vorher, als sie sagte: Daran hatte ich nun eben nicht gedacht. Diese archäologische Liebhaberei, die ich mit Ihrem Herrn Bruder teile, bietet mir nur die Erholung von strenger geistiger Arbeit und von lebhafter Tätigkeit im Dienst der öffentlichen Wohlfahrt. Ich bin, wie Sie wissen, Mitglied von verschiedenen Vereinen, und ich würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen auch manchmal in einem von ihnen begegnen würde.

Da dürften Sie doch wohl etwas lange warten müssen.

Wie meinten Sie?

Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich habe nur einmal wieder laut gedacht; das ist so mein Fehler. Nicht wahr, Franz?

Bornträger seufzte tief und erbarmungswürdig. Einer deiner Fehler, jawohl.

Marion lachte. Dem Verein für entlassene Sträflinge zur Fürsorge empfohlen, sagte sie dann mit vibrierender Stimme.

Frau von Hergenrath kniff ihren Mund zusammen, dass er sich nur noch wie ein schmaler, gerader Strich in ihrem eckigen Kopf abzeichnete. Zugleich wandte sie diesen mit einer so langsamen und zugleich harten Bewegung zu Marions Bruder hinüber, als wäre sie ein Automat, in dem ein neues Rad in Aktion tritt. Auch ihr Phonograf musste sich geärgert haben; denn er sprach jetzt um ein paar Töne tiefer, wie gefällt Ihnen das Stück, Herr Oberregierungsrat?

Darf ich zuerst fragen, wie es Ihnen gefällt, meine gnädige Frau?

Mein Gott, man sieht es sich einmal an. Mit der Literatur hat so etwas ja nichts zu schaffen. Moral und Wissenschaft haben keinen Vorteil davon.

Aber auch keinen Schaden, nicht wahr? Sie fragten mich neulich …

Ich weiß, ich weiß. Nein, bisher ist mir in dieser Hinsicht nichts aufgefallen.

Aber es könnte noch kommen, gnädige Frau, sagte Marion mit kunstvoll ängstlicher Stimme. Das wäre doch schrecklich! Wollen wir nicht lieber nach Hause gehen?

Frau von Hergenrath erhob sich, für ihre Verhältnisse auffallend schnell. In meine Loge werde ich wieder hinübergehen. Guten Abend. Mit einem wütenden Blick auf seine Schwester stand Bornträger auf und begleitete die Besucherin hinaus. Als er nun aber draußen stand und die Tür sorgfältig hinter sich zugezogen hatte, geschah etwas Überraschendes. Der Ausdruck seines Gesichtes verwandelte sich, ein sinnliches Feuer loderte aus seinem einen verfügbaren Auge heraus, und er flüsterte ganz leise: Morgen also?

Morgen. Die Antwort war kaum vernehmlich, so sehr hatte die Sprecherin die Stimme gedämpft, obwohl keine Lauscher in der Nähe waren. Für einen Augenblick hoben sich auch hier die Lider und ein heißer Blick antwortete dem des Oberregierungsrates. Dann aber legte sich gewohnte Kälte wieder auf die erstarrenden Züge, und würdevoll, wie sie gekommen war, ging die Ahnfrau nach Hause, - das heißt, in ihre Loge hinüber.

Drittes Kapitel

Der dritte Akt folgte, die Spannung des Publikums erreichte den Gipfel. Die Mörder umlauerten den unbesiegbaren Detektiv und lauerten wiederum vergebens. Sherlock Holmes zerschlug die Petroleumlampe für zwei Mark fünfzig Pfennige und entwischte. Der Jubel kannte keine Grenzen mehr, Lorbeerkränze flogen mitten in die Mörderspelunke hinein.

Hans von Hildebrand hatte drüben in der Proszeniumsloge einen alten Jagdgenossen entdeckt und eilte hinüber, um ihn zu begrüßen. Paul Delaroche aber sagte zu seiner Braut: Wie wäre es, Kind? Ich hätte Durst auf einen Topf Bier. Kommst du mit in die Restauration?

Ich danke, Paul. Du weißt, ich trinke sehr wenig. Aber lass dich nicht abhalten; ich bin hier sicher aufgehoben, bis du zurückkommst.