Martin Brüne

Der
un
angepasste
Mensch

Unsere Psyche und die blinden Flecken
der Evolution

Klett-Cotta

Anschaulich und unterhaltsam erzählt der Psychiater und Neurologe Martin Brüne vom evolutionären Werdegang des Homo sapiens – von seinem Ursprung vor vermutlich 300 000 Jahren bis in die Gegenwart. Dabei zeigt er, wie wir Menschen uns mit Steinzeitgehirnen in einer modernen Umwelt zurechtfinden müssen, wie unsere biologische Evolution nur mühsam mit den rasanten kulturellen Entwicklungen Schritt halten kann, und welche Probleme uns dabei begegnen. 300 000 Jahre evolutionärer Anpassung und dennoch hat die Natur nicht alles zum Besten eingerichtet. Wir haben überlebt, doch unsere körperlichen und psychischen Gebrechen sind leider nicht ausgestorben. Ob Krebs, Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankungen, ob Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie – Brünes erhellender Einblick in die Ur- und Frühgeschichte des Menschen ermöglicht ein besseres Verständnis dieser nur allzu gegenwärtigen Leiden.

Impressum

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Klett-Cotta

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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock, Vorobiov Oleksii 8

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96418-9

E-Book: ISBN 978-3-608-12027-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Wie schön, Sie hier anzutreffen! Womöglich hat Sie der Zufall in die Buchhandlung getrieben, in der Sie augenblicklich stehen, und Sie haben dieses Buch in die Hand genommen, weil Sie jemand darauf aufmerksam gemacht hat, oder weil Sie den Titel interessant oder verwirrend fanden, oder einfach aus Zufall. Zufällig habe ich dieses Buch geschrieben, vordergründig natürlich, weil ich Lust dazu hatte, aber eigentlich hätte es auch anders kommen können.

Dieses Buch selbst handelt zu einem nicht unerheblichen Teil von Zufällen, die die Natur für uns bereithält. Genau genommen sind wir alle nämlich Zufallsprodukte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt haben sich Ei(1)- und Samenzelle(1) unserer Eltern getroffen und vereinigt. Aber dieser Zeitpunkt war natürlich nicht festgelegt, sondern ganz im Gegenteil höchst unbestimmt, um nicht zu sagen rein zufällig. Die meisten von uns lesen und hören das nicht gerne, weil unser psychischer Apparat gar nicht anders kann, als nach Bedeutung und Sinn zu suchen, auch und vor allem im Hinblick auf unsere persönliche Geschichte.

Aber wären wir dieselben, wenn Ei(2)- und Samenzelle(2) nur einen Tag, eine Stunde früher oder später miteinander verschmolzen wären, um dann die vielen Millionen Zellteilungen(1) in Gang zu setzen, aus denen letztlich ein unverwechselbares Individuum entstanden ist? Hätte in der Zwischenzeit vielleicht irgendeine Mutation(1) dazu führen können, dass die Entwicklung geringfügig anders abläuft?

Und was ist mit unserer persönlichen Familiengeschichte? Wieviel Zufall steckt in unserer Existenz? Mein Vater beispielsweise wurde als 18-Jähriger von der Schulbank geholt, um im Zweiten Weltkrieg für Hitler-Deutschland(1) zu kämpfen. Dass er dieses Unterfangen überlebt hat, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit weniger seinem persönlichen Geschick, sondern vielmehr dem Zufall zu verdanken. Der Vater meines Vaters hatte die zweifelhafte Ehre, im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Eine »Trophäe«, an die ich mich gut erinnere, war der Zünder einer Granate, ein schweres, kegelförmiges Gebilde aus Messing, das noch Jahrzehnte nach den beiden Kriegen als Briefbeschwerer diente. Diesen Zünder hatte er aufgehoben, nachdem ihm die Granate nur den Stiefelabsatz und zum Glück nicht das ganze Bein weggerissen hatte. Mein Urgroßvater aus der väterlichen Linie hatte in seinem Leben weniger Glück: Er starb mit Mitte 50 an der Spanischen Grippe, die nach dem ersten Weltkrieg Mitteleuropa(1) heimsuchte. Immerhin hatte er bis dahin zwei Kinder hinterlassen (darunter meinen schon erwähnten Großvater), sodass dies reproduktiv nicht ins Gewicht fiel. Viel weiter kann ich meine väterliche Linie nicht zurückverfolgen (schon gar nicht aus persönlichen Erzählungen), sie verliert sich schließlich in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges (1618–​1648). Von meiner mütterlichen Linie weiß ich noch weniger, aber letztlich reichen die wenigen Fakten dafür aus, um zu dem Schluss zu kommen, dass ich meine Existenz einer langen Reihe von Zufällen verdanke. Damit stehe ich natürlich nicht alleine da; vermutlich gab es in jeder Generation Umstände, die das Überleben des Einzelnen in Gefahr brachten, und wenn Sie ein wenig nachforschen, werden Sie ähnliche Beispiele finden, da bin ich sicher.

Nun wäre es langweilig, sich über das ganze Buch hinweg nur mit solchen Zufällen zu beschäftigen. Interessanter ist vielmehr, was aus denjenigen Zufällen geworden ist, die sich in unserer Stammesgeschichte ereignet haben. So ganz zufällig sind wir alle nämlich doch nicht so geworden, wie wir nun eben sind. Das Zufällige bezieht sich nur auf die persönliche Lebensgeschichte, aber wenn wir uns längere Zeiträume des Lebens auf der Erde anschauen, stellen wir fest, dass die Überlebenswahrscheinlichkeiten von Lebewesen, einschließlich uns selbst, nicht so wahllos sind. Die Evolution lebt von der Veränderlichkeit der Arten und das Material, mit dem ihr Hauptmechanismus, die Selektion(1), arbeitet, ist die zufällige Veränderung des genetischen Codes der Zelle(1), genannt Mutation(2). Bringt dies Vorteile für das Individuum im Hinblick auf dessen Überlebens- und Reproduktionschancen, wird die Mutation vielleicht (!) an folgende Generationen weitergegeben. Ist sie jedoch nachteilig (was viel häufiger der Fall ist), wird sie voraussichtlich nicht in kommenden Generationen vertreten sein.

Dieses Vabanquespiel betreibt die Natur seit dreieinhalb Milliarden Jahren und vor einem Wimpernschlag auf dieser Zeitskala hat unsere Art, Homo sapiens(1), die Bühne betreten. Seit vielleicht 300 000 Jahren gibt es uns, davon haben wir 290 000 als Jäger und Sammler(1) gelebt. Welche unserer früheren Artgenossen überlebt haben, wissen wir nicht, aber es waren genug, dass letztlich Sie heute in diesem Buch blättern können beziehungsweise ich es zu Papier bringen konnte. Der Zufall hat dabei gehörig mitgewirkt, das ist sicher.

Aber was für Leute waren bloß in unserer Ahnenreihe? Nehmen wir einmal eine Generationszeit von 25 Jahren an. Sie nehmen Ihre Mutter oder Ihren Vater an die Hand, Ihre Mutter ihre Mutter oder Ihr Vater seinen Vater und so weiter. Bis in die Steinzeit vor 10 000 Jahren würde die Menschenkette nur 400 Personen umfassen! Es wäre relativ leicht, auf einer Party allen einmal die Hand zu schütteln, wenn es gelänge, sie per Zeitmaschine an einem Ort zu einer Zeit zu versammeln. Was würden Sie Ihre Urgroßmutter oder Ihren Urgroßvater der 400. Generation fragen? Wie geht’s? Was bereitet dir Sorgen? Wovon lebst du? Was machen die Kinder? Bist du gesund oder krank? Kannst du dir vorstellen, dass ausgerechnet ich deine Urenkelin oder dein Urenkel in 400. Generation bin?

Vielleicht fielen Ihnen noch andere Fragen ein, aber als Arzt habe ich ein gewisses, nun ja, morbides Interesse an Krankheiten. Warum werden wir irgendwann krank und sterben, und warum sind wir überhaupt anfällig dafür? Sind dreieinhalb Milliarden Jahre nicht genug Zeit, alle Organismen, einschließlich uns selbst, zu perfektionieren? Warum reichen 300 000 Jahre nicht aus, und wo soll uns die Zukunft noch hinführen?

Aufgrund meiner Spezialisierung auf Neurologie und Psychiatrie gilt mein Hauptinteresse natürlich den psychischen Erkrankungen. Dabei ist mir mein ursprünglicher Berufswunsch, Biologe mit Spezialisierung auf vergleichende Verhaltensforschung zu werden, sehr hilfreich gewesen. Der Blick über den Tellerrand darauf, was das typisch Menschliche ausmacht, was uns von unseren nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet und was uns verbindet, hat meine Sichtweisen als Mensch allgemein und als Arzt im Speziellen stark beeinflusst und geprägt. Ich bin also gewissermaßen als »Verhältnisforscher« unterwegs (der Begriff stammt nicht von mir, sondern ist nur geborgt von meinem Freund und Mentor Professor Wulf Schiefenhövel(1), der als Arzt und Ethnomediziner seit Jahrzehnten kulturenvergleichend forscht, vor allem bei den Eipo, einem Bergvolk im indonesischen(1) Teil Neuguineas(1)), vielleicht auch als »Affendoktor«, als der ich auch schon tituliert worden bin.

In diesem Buch geht es also darum, zu verstehen, was uns als Menschen ausmacht, unseren evolutionären Werdegang sozusagen, und natürlich darum, wie wir mit Steinzeitgehirnen(1) moderne Umwelten kreieren und uns darin zurechtzufinden versuchen. Es handelt auch davon, welche psychischen und körperlichen Probleme uns begegnen, wenn wir versuchen, den Spagat zwischen Steinzeit und Moderne zu meistern und beschäftigt sich auch damit, wie uns unsere evolutionäre Vergangenheit lehren kann, Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln.

Bochum, im April 2020.

Einleitung

Vom Baum der Erkenntnis zu naschen, ist ein unsicheres Unterfangen: Man weiß nie, was man bekommt. Die biblische Schöpfungsgeschichte lehrt uns, dass die Vertreibung aus dem Paradies die unausweichliche Konsequenz ist, sozusagen eine Bestrafung für Neugier. Das Leiden der Menschheit nahm hier seinen Anfang.

Einer, der in der jüngeren Geschichte unseres Daseins geradezu inquisitorisch mit seinen Ideen dazu aufgefordert hat, dennoch nach Erkenntnis zu suchen, war Charles Robert Darwin(1). Darwin selbst zögerte lange mit der Bekanntmachung seiner Theorie der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen von einer Urform durch natürliche Selektion(1) – teils aus Rücksicht auf seine Frau, teils, weil er sicher ahnte, welch weitreichende Folgen seine Theorie haben würde (der Originaltitel seiner Veröffentlichung (1859) lautete On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, in der deutschen Übersetzung (1876) von Julius Victor Carus(1) Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein). Wer weiß, wie lange er seine bereits 20 Jahre zuvor ausgearbeitete Evolutionstheorie(1) (den Begriff »Evolution« hat Darwin selbst übrigens nicht besonders gemocht) unter Verschluss gehalten hätte, wenn ihn 1858 nicht der Brief eines gewissen Alfred Russel Wallace(1) aus Südostasien(1) aufgeschreckt hätte. Wallace hatte darin auf wenigen Seiten einen in weiten Teilen mit Darwins(2) Theorie übereinstimmenden Abriss der Evolution vorgelegt und sich nach der Möglichkeit der Veröffentlichung erkundigt. Darwin steckte in einem echten Dilemma. Einerseits gebot es die Fairness, den Brief nicht zu ignorieren, andererseits wollte er sein wissenschaftliches Vorrecht auf die Theorie der Entstehung der Arten(1) nicht aufgeben. Die damals gewählte pragmatische Lösung, die mithilfe von Darwins(3) Freunden Charles Lyell(1) und Joseph Hooker(1) zustande kam, war die, dass beide Arbeiten 1858 auf einer Sitzung der Linnean Society parallel bekannt gemacht wurden – wobei die Öffentlichkeit den Zündstoff, den die Theorie vor allem in Bezug auf die Stellung des Menschen in der Natur in sich barg, zunächst nicht ganz wahrgenommen hatte. Erst allmählich wurde klar, dass die Theorie der Entstehung der Arten und der Abstammung von gemeinsamen Vorfahren mit einer Sonderstellung des Menschen nicht vereinbar war, also gewissermaßen zwangsläufig darlegte, warum es in der Natur keine paradiesischen Zustände geben kann und es solche auch nie gegeben hat. Darwins(4) Einsichten, so die für viele bittere Erkenntnis, haben uns die Augen für Dinge geöffnet, die ein anthropozentrisches(1) Weltbild nicht zulassen – ein Schock für viele von Darwins(5) und Wallaces(2) Zeitgenossen, mit Nachhall bis in die heutige Zeit.

Wir Menschen sind eben nicht ein Abbild Gottes, quasi perfekt per Design (mit einigen Schönheitsfehlern). Im Gegenteil, wir sind in vielerlei Hinsicht höchst unvollkommen, ein Zufallsprodukt der Natur, wie wir noch sehen werden, dessen Überleben mehr als einmal am seidenen Faden hing. Wir sind weder körperlich robust (und mussten in manchen Teilen der Welt sogar genetische Anleihen von unseren heute ausgestorbenen Mitstreitern, den Neandertalern(1) und Denisova-Menschen(1), nehmen, um zu überleben), noch psychisch besonders stabil, sodass wir mit den neuen Herausforderungen, die wir uns durch unsere kulturelle Evolution(1) selbst erschaffen haben, manchmal nur ungenügend zurechtkommen. Immer wieder gibt es Zusammenbrüche unserer Abwehrstrategien, körperlich und psychisch – Psychiater(1) haben sich für diese Zustände einen bunten Strauß von Namen einfallen lassen: Depression(1), Schizophrenie(1), Sucht(1), Phobie(1), posttraumatische Belastungsstörung(1), Anorexia nervosa(1), Alzheimer-Demenz(1), um nur einige wenige zu nennen. Die übrige Medizin hat dafür nicht minder blumige Diagnosen: Diabetes mellitus(1), Arteriosklerose(1), Obesitas(1), Hypertonie(1), Krebs(1), gerne mit Zusätzen wie »kryptogen(1)«, »idiopathisch(1)« oder sogar »essentiell(1)« versehen, wenn die jeweilige Fachdisziplin in Wirklichkeit keinen blassen Schimmer hat, woher diese Erkrankungen kommen und welche Ursachen sie haben. Aber warum, so könnte man mit Darwin(6) fragen (er hat dies leider selbst nie getan, sondern es Anderen überlassen, die seine Theorie gründlich falsch verstanden oder bewusst instrumentalisiert haben, weil sie vom »Sein« auf »Sollen« schlossen, was unglaublich großes Leid über viele Menschen gebracht hat),[1] ist der Mensch scheinbar so unzureichend an seine Umwelt angepasst? Die Evolution hatte doch genügend Zeit, so könnte man argumentieren, die am besten Angepassten hervorzubringen; oder gibt es etwa »blinde Flecken« der Evolution?

Dieses Buch handelt davon, warum wir so sind, wie wir sind, warum wir gleichzeitig so unglaublich erfolgreich und doch so vulnerabel sind, und – eine unbequeme Erkenntnis – warum wir daran wenig bis nichts ändern können. Überhaupt sind Warum-Fragen(1) die Lieblingsfragen evolutionär denkender Menschen; sie ergänzen nämlich die in den Naturwissenschaften und in der Medizin allgegenwärtigen Wie-Fragen(1). Wie etwas funktioniert, ist die Frage nach Mechanismen, zum Beispiel danach, wie ein Vogelflügel konstruiert ist, und wie die Mechanik des Fliegens funktioniert. Eine weitere Wie-Frage(2) beschäftigt sich mit der Entwicklung des Flügels vom Schlüpfen aus dem Ei (oder bereits davor) zum voll funktionsfähigen Körperteil. Warum-Fragen(2) richten ihr Augenmerk dagegen darauf, welchen Anpassungswert etwa die Fähigkeit zum Fliegen hat, warum sich Federn evolutionär gebildet haben und welche Abstammungslinie zur Entstehung von Federn und Flügeln geführt hat. Der spätere Nobelpreisträger für Medizin oder Physiologie, Nikolaas Tinbergen(1), hat die vier Grundfragen der Biologie(1) (Mechanismus, Ontogenese, adaptiver Wert und evolutionärer Ursprung) in einem wunderbaren Aufsatz aus dem Jahre 1963 zusammengefasst, den er seinem Freund, Kollegen und Mit-Nobelpreisträger Konrad Lorenz(1) zum 60. Geburtstag widmete. Tinbergens(2) Fragen können wir uns auch über uns selbst stellen. Zu den ersten beiden, Mechanismus und Entwicklung, wissen wir bereits unglaublich viel, weil sich Wissenschaftler seit Jahrhunderten damit beschäftigt haben. Zu den anderen beiden Fragen, Anpassung und evolutionärer Ursprung, finden wir erst seit wenigen Jahrzehnten mehr heraus – und dieses Wissen wächst rasant. Warum gehen wir aufrecht(1) auf zwei Beinen? Warum ist das menschliche Gehirn so groß(1)? Warum wächst es nach unserer Geburt(1) für ein weiteres Jahr mit vorgeburtlicher Geschwindigkeit? Warum brauchen wir so lange, um erwachsen zu werden, warum leben wir vergleichsweise lange und warum sind wir so abhängig von der Hilfe und Unterstützung Anderer? Warum haben wir wenige Nachkommen und es trotzdem geschafft, das gesamte Festland unseres Planeten (mit Ausnahme der Antarktis) zu bevölkern?

Aber können wir Tinbergens(3) Fragen auch in Bezug auf Krankheiten stellen? Sicher, die beiden ersten sind ja, wie bereits erwähnt, Standardfragen in der Medizin. Aber einen Anpassungswert von Krankheit gibt es nicht. Eine Blinddarmentzündung(1) bleibt eine Blinddarmentzündung, und daran ist nichts von evolutionärem Nutzen. Eine Depression(2) bleibt eine Depression, und auch die bringt uns keine Anpassungsvorteile für das Überleben oder die Fortpflanzung. Wir müssen Tinbergens(4) Fragen daher ein wenig anders stellen. Wozu ist ein Blinddarm(1) gut, welche Funktion hat er, bietet er einen Anpassungsvorteil (dritte Frage), oder ist er nur ein unnützes Überbleibsel, geerbt von unseren Vorfahren (vierte Frage), das sich im ungünstigsten Fall entzündet? Die Antworten finden Sie in Kapitel 3.

Diese Herangehensweise ist für komplexe Erkrankungen wie Depressionen(3) natürlich ungleich schwieriger. Wir können aber fragen, warum wir unterschiedliche Emotionen(1) und Stimmungen haben. Wir wollen natürlich immer gut gelaunt sein, weil wir schlechte Laune als aversiv erleben, aber sind negative Emotionen wie Traurigkeit, Angst(1), Ekel, Scham oder Schuldgefühle immer schlecht, oder wozu nützen sie? Warum gibt es überhaupt Emotionen(2)? Haben Emotionen einen Anpassungsvorteil und welche evolutionäre Geschichte haben sie? Wenn wir uns auf diesem Weg den Tinbergenschen(5) Fragen zu körperlichen und psychischen Krankheiten nähern, können wir beginnen, besser zu verstehen, woher unsere Veranlagung zu ganz verschiedenartigen Funktionsstörungen unseres Körpers und Geistes stammen. Noch ein anderer Gedanke: Fieber und Husten sind sinnvolle Abwehrstrategien unseres Körpers, um mit Infektionen fertigzuwerden und eingedrungene Krankheitserreger zu eliminieren. Wir können uns nun leicht vorstellen, dass diese Abwehrreaktionen aus dem Ruder laufen können und wir mit Antibiotika(1) eingreifen müssen, wenn die natürlichen Abwehrmechanismen nicht stark genug sind. Umgekehrt gilt aber auch, dass wir unserem Körper nicht immer gleich die Chance nehmen sollten, selbst mit mikrobiellen Attacken fertig zu werden. Es kann sogar gesundheitsschädlich sein, jedes Fieber und jeden Husten mit medizinischen Mitteln zu unterdrücken. Genauso verhält es sich mit Angst(2) und Traurigkeit.

Dieses Buch macht sich nun auf den Weg nach Antworten auf eine kleine Auswahl von Warum-Fragen(3). Warum sind wir anfällig für Stress(1)? Warum sollten wir uns gut um unsere Kinder kümmern? Warum sollten wir unseren Körper gut behandeln? Warum altern(1) und sterben wir? Auf den ersten Blick sehen diese Fragen ganz harmlos aus. Bei näherem Hinsehen sind sie es aber ganz und gar nicht. Es sind Fragen, die wir nur beantworten können, wenn wir uns trauen, von Darwins(7) Baum der Erkenntnis zu kosten. Und das hat seinen Preis. Wer der Versuchung dennoch nicht widerstehen kann, ist herzlich eingeladen, weiterzulesen.

1. Menschliche Evolution in der Nussschale

Ursprünge

Michelangelos(1) Deckenfreskos in der Sixtinischen Kapelle sind ein fantastisches Zeugnis dafür, wie sich Menschen im mittelalterlichen, christlich geprägten Europa(1) die Schöpfung vorstellten. Adam und Eva sind dort unbekleidet und unbehaart dargestellt, ganz so wie im Alten Testament beschrieben. Besonders prominent ist die Erweckung Adams durch Gott zu sehen, dessen Fingerspitze sich der Adams nähert, sie aber nicht berührt. Gott ist von umhüllt von einem Tuch, dessen Form an den Längsschnitt durch ein menschliches Gehirn erinnert; andere Wissenschaftler halten es eher für den Umriss eines menschlichen Uterus. Michelangelo(2) selbst galt als zutiefst religiöser(1) Mensch, aber was auch immer die Botschaft des Künstlers sein mag, es scheint klar, dass die Erschaffung des Menschen hier fundamental mit seinem Selbstverständnis als Abbild Gottes verbunden ist. Neben einer eher weltlichen Frage, wie es dem Künstler gelingen konnte, die Körperproportionen überlebensgroß und über Kopf malend derart genau darzustellen (das gesamte von Michelangelo bemalte Deckengewölbe der Kapelle misst etwa 40 × 13 Meter, die einzelnen Fresken ca. 4,80 × 2,30 Meter), sticht gleich ins Auge, dass Adam und Eva wie Du und Ich aussehen – oder besser gesagt, wie gut trainierte normalgewichtige Exemplare des Homo sapiens(2), wobei erstaunlich ist, dass Adams einen gut sichtbaren Bauchnabel hat. Dem Weltbild Michelangelos(3) entsprechend sind Adam und Eva hellhäutig und mit eher mitteleuropäischen Zügen dargestellt. Eingehüllt in ein modernes Badetuch würden sie in einer heutigen Sauna wohl kaum irgendwelches Aufsehen erregen. Ein ähnliches anatomisches Bild des Menschen haben sicher auch die Autoren der Genesis vor Augen gehabt, wussten sie doch nichts von Evolution und gingen davon aus, dass Gott die Menschen so erschaffen hatte und sie sich seitdem äußerlich nicht verändert haben.

Die in der Genesis beschriebene Bestrafung Evas für das verbotene Kosten vom Baum der Erkenntnis, Kinder fortan unter Schmerzen gebären zu müssen, wäre ihr aber nicht einmal unter paradiesischen Umständen erspart geblieben, weil, wie wir noch sehen werden, der aufrechte Gang(2) mit anatomischen Veränderungen des menschlichen Beckens einherging, die den Geburtsvorgang nicht nur schmerzhaft, sondern auch risikoreich für Mutter und Kind machten. Wichtiger noch, die Fähigkeit zum aufrechten(3) Gang zog eine ganze Kaskade von psychischen Anpassungen nach sich, bedingt dadurch, dass Menschen ihre Babys viel unreifer zur Welt bringen müssen als andere Primaten(1), weil reifere Neugeborene den Geburtskanal nicht mehr passieren könnten, und vermutlich auch deshalb, weil der mütterliche Organismus den Energiehunger des wachsenden Fötus (insbesondere seines Gehirns(2)) nicht länger durch Nahrungsaufnahme stillen kann. Unreif heißt aber auch hilflos, ganz auf die Fürsorge(1) der ersten Bezugspersonen angewiesen. Dies wiederum gestaltete sich für unsere Vorfahren als sehr schwierig, zumal der Verlust eines wärmenden Fells nicht nur körperliche Nähe erforderte, sondern auch das aktive Tragen des Säuglings, der obendrein somit ein Tragling(1) ist und unfähig, sich aus eigener Kraft am mütterlichen Körper festzuhalten, denn auch der bei Geburt(2) noch vorhandene Greifreflex erlischt nach wenigen Wochen. Aber wer sorgt für die Mutter, wenn sie 24 Stunden am Tag für ihren Tragling sorgen muss? Nun, besser fangen wir von vorne an, also nicht bei Adam und Eva, sondern viel früher.

Wir können heute davon ausgehen, dass mehrere geologische Ereignisse vor über fünf Millionen Jahren den Startpunkt darstellten, der letztlich, über viele Umwege, zur Evolution des Menschen führte. Welche Ereignisse dies im Einzelnen waren, ist nicht ganz klar. Möglicherweise trugen Veränderungen der Meeresströmungen durch das Schließen der Landbrücke(1) zwischen Nord(1)- und Südamerika(1) zu einer Abkühlung der Polregionen bei, in deren Folge es auch zu einer Abkühlung weiter Teile des ostafrikanischen(1) Riftvalley(1) kam. Darüber hinaus entzog vermutlich das Zusammenprallen des indischen(1) Subkontinents mit Asien(1) und die daraus folgende Entstehung des Himalaya dem östlichen Teil Afrikas(2) erhebliche Mengen an Niederschlag. Vulkanische Aktivität in Ostafrika(3) selbst, die Entstehung des Ruwenzori-Gebirges zwischen dem heutigen Uganda und dem Kongo(1) sowie rasch aufeinander folgende klimatische Veränderungen mit Entstehung und Wiederverschwinden großer Süßwasserseen stellen weitere geologisch relevante Faktoren dar, die zu einem Rückgang des Baumbestandes und einer zunehmenden Savannenbildung führten. Das Ganze darf man sich nicht als Einbahnstraße oder linearen Prozess vorstellen – vielmehr handelt es sich um eine recht unübersichtliche Gemengelage verschiedenartiger geologischer und klimatischer Veränderungen, die vor etwa 5 bis 2,8 Millionen Jahren den Boden bereiteten für die Entstehung mehrerer Homininen-Linien(1), von denen eine schließlich zur Entstehung unserer eigenen Spezies führte.[1]

Zu dieser Zeit war jedenfalls ordentlich Bewegung in den Primatenstammbaum geraten. Die Evolution experimentierte (natürlich nicht absichtsvoll) mit der Entstehung von robusten und grazilen Australopithecinen(1), den heutigen Menschenaffen(1) nicht unähnlichen Kreaturen, deren Gehirne(2) etwa die Größe von Schimpansengehirnen(1) hatten, die überwiegend arboreal(1) lebten (sie hielten sich also hauptsächlich in Bäumen auf, verließen diese aber etwa zur Nahrungssuche), aber schon kürzere Strecken auf zwei Beinen gehen konnten. Die berühmten fossilen Fußspuren aus Laetoli(1) im heutigen Tansania, die vermutlich von mehreren Australopithecinen(2) in frischer Vulkanasche hinterlassen wurden, zeugen davon.[2] Allerdings war das aufrechte Gehen(4) noch recht mühselig und glich eher einem Watschelgang. Diese Fußspuren zeigen aber, dass bereits Veränderungen des Fußskeletts stattgefunden hatten. Die große Zehe war bereits deutlich an die anderen Zehen angelegt und nicht mehr so gut abspreizbar wie bei den heutigen Menschenaffen (letztere werden deshalb auch als Quadrumanen, also Vierhänder(1), bezeichnet, weil sie die Füße beinahe so gut wie die Hände zum Greifen benutzen können). Auch die Anatomie des Beckens hatte sich verändert und der Winkel des Oberschenkelhalses (die Stelle, die bei uns Menschen so gerne bricht, vor allem bei Älteren) war bereits steiler als bei den rezenten Schimpansen(2), unseren nächsten lebenden Verwandten. Die Anpassungsvorteile dieser ersten Gehversuche sind bis heute nicht ganz geklärt. Die weit verbreitete Savannentheorie(1), der zufolge das aufrechte Stehen (und Gehen(5)) dafür vorteilhaft war, Raubtiere(1) schneller erkennen zu können, ist nicht ganz sattelfest, weil der aufrechte Gang(6) vermutlich bereits früher unter Umweltbedingungen entstand, als diese Homininen(2) noch eher an Waldrändern lebten. Wie dem auch sei, eins ist klar: Der aufrechte Gang(7) hatte zunächst nichts mit der Größenzunahme des Gehirns(3) zu tun, sondern entwickelte sich unabhängig davon. In den nächsten zwei Millionen Jahren passierte scheinbar nicht viel, erst vor ungefähr 2,8 Millionen Jahren gab es Neuigkeiten. Zeit also, die wir nutzen können, einen kleinen Ausflug zu machen hin zu der Frage, was denn an Primaten(2) eigentlich so besonders ist, welche Eigenschaften wir von ihnen geerbt haben und mit ihnen teilen, und natürlich warum dies alles bis zum heutigen Tag für unser So-und-nicht-anders-sein bedeutsam ist.

Primatenerbe(3)

Primaten(4) gibt es schon erstaunlich lange auf unserem Planeten. Die ersten Exemplare beziehungsweise deren Spitzhörnchen(1) ähnelnde Vorfahren liefen schon vor über 70 Millionen Jahren durch das Unterholz – also »kurz« nach oder sogar noch vor dem Aussterben der Dinosaurier(1).[3] Die ersten Affenähnlichen (Anthropoiden(1)) im engeren Sinn gingen aus diesen kleinen Säugetieren(1) vor vermutlich 50 Millionen Jahren hervor und eroberten die Baumwipfel. Die Fortbewegung im Geäst erforderte etliche anatomische Adaptationen und Verhaltensanpassungen, die für uns derart selbstverständlich sind, dass wir uns ihre evolutionäre »Sinnhaftigkeit«, also ihren Anpassungswert, selten bewusst machen.

Die ersten Säugetiere waren überwiegend eher verhuschte Kreaturen, die lieber nachts unterwegs waren, um bloß nicht aufzufallen. Unsere heute lebenden Igel(1) gehören zu einer recht ursprünglichen Gruppe von Säugetieren(2), wenngleich sie nicht zu unseren direkten Vorfahren zählen. Sie sind nachtaktiv und haben kleine Augen, die sich an der Seite des Kopfes befinden. Ihr wichtigster Sinn ist der Geruch. Sie ernähren sich vorwiegend von Insekten und Regenwürmern und leben als Einzelgänger. Ihre Kinder sind zunächst blind und hilflos, öffnen aber nach etwa zwölf Tagen die Augen und werden schon nach sechs bis acht Wochen entwöhnt. Geschlechtsreif sind Igel(2) mit sechs bis zwölf Monaten. So oder so ähnlich lebten bereits viele Säugetierarten zu Zeiten der Dinosaurier(2), weil andere ökologische Nischen bereits von den Reptilien(1) besetzt waren.

Was für ein Unterschied zu den heutigen Primaten(5)! Bis auf wenige Ausnahmen (zum Beispiel der Koboldmaki(1)) sind alle heutigen Primaten tagaktiv. Ihre Augen sind frontal nach vorne gerichtet und relativ groß (die größten Augen in Relation zur Gehirngröße(4) haben allerdings die nachtaktiven Koboldmakis(2)). Die nach vorne schauenden Augen ermöglichen ein binokulares Sehen(1). Dieses Sehen mit beiden Augen ist die Voraussetzung für die dreidimensionale Wahrnehmung des Raumes und daher das Einschätzen von Entfernungen. Dies hat enorme Vorteile für Tiere, die sich hangelnd, schwingend oder springend fortbewegen. Anders ausgedrückt, wer den nächsten Ast verfehlt, hat weniger Nachkommen. Zudem hilft es enorm beim Beutefang. Die frühen Primaten(6) sowie die heutigen Koboldmakis(3) ernährten sich nämlich vorwiegend von Insekten. Dies ist der Grund, warum auch Raubtiere(2) nach vorn gerichtete Augen haben, Beutetiere(1) dagegen an der Seite des Kopfes liegende. Seitliche Augen ermöglichen nämlich einen fast panoramaartigen Rundumblick, ein großer Vorteil, wenn es darauf ankommt, schnell das Weite zu suchen. Räumliches Sehen funktioniert so allerdings nicht (halten Sie sich einmal ein Auge zu und greifen nach Ihrer Kaffeetasse).

Als Primaten(7) zunehmend das Tageslicht eroberten, ergab sich ein gewisses evolutionäres Dilemma – davon gibt es sehr viele; evolutionäre Prozesse dienen dazu, »Kompromisse« zu schließen, weil Evolution nicht in die Zukunft schaut und der »Blinde Uhrmacher(1)«, wie es Richard Dawkins(1) auf den Punkt gebracht hat, nicht wie ein Ingenieur ein neues Design entwerfen kann, sondern mit dem bereits Vorhandenen arbeiten muss.[4] Tagaktive binokuläre(2) Tiere, die nicht am oberen Ende der Nahrungskette(1) stehen, und die nicht über außergewöhnliche Abwehrmethoden wie Gift, übelriechende Sekrete oder Ähnliches verfügen, haben das Problem, leicht selbst zur Beute zu werden, weil sie weniger gut übersehen, was sich hinter Ihrem Rücken abspielt. Gemeinerweise schleichen sich Jäger und Raubtiere(3) deshalb gerne von hinten an; auch die Redensart »jemandem in den Rücken fallen« hat sicher damit zu tun. Die evolutionäre Lösung des Problems war nicht etwa ein Zurück zur Panoramasicht, sondern das Sich-Zusammentun mit Artgenossen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und 40 Augen noch mehr.

Alle tagaktiven Primaten(8) sind soziale Lebewesen. Sie können ohne die Nähe und Hilfe von Artgenossen nicht überleben, weder als Kinder noch als Erwachsene. Viele Primaten warnen sich gegenseitig vor Raubtieren(4) mit sogenannten Alarmrufen. Das erscheint zunächst evolutionär gesehen widersinnig, weil sich der Rufer ja durchaus in Gefahr begibt, indem er etwaige Raubtiere(5) auf sich aufmerksam macht. Die Gruppe als Ganzes profitiert jedoch enorm, und somit auch die mit dem Rufer (genetisch) verwandten Gruppenmitglieder. Im Übrigen sind viele Primatengesellschaften(9) (einschließlich uns selbst) außerordentlich geschwätzig. Sie leben keineswegs im Verborgenen – im Gegenteil, sie können beträchtlichen Lärm verursachen und viele Primaten verständigen sich akustisch untereinander über große Distanzen. Der britische Evolutionspsychologe(1) Robin Dunbar(1) meint im Übrigen, dass die menschliche Sprache als Kommunikationsmittel entstand, um das gegenseitige Lausen ohne direkten Körperkontakt zu ermöglichen, sozusagen als soziale Fellpflege (die Erfindung von Mobiltelefonen scheint dieser Entwicklung zuwiderzulaufen; im öffentlichen Raum kommunizieren heute die meisten Menschen mehr mit ihrem Daumen als mit ihrem Mund).

Der Gesichtssinn(1) (ein etwas altmodisch anmutender, aber unglaublich treffender Ausdruck für das Sehvermögen(2)) veränderte sich bei Primaten(10) auch dahingehend, dass sich das Verhältnis von Zapfen zu Stäbchen in der Retina (Netzhaut(1)) des Auges zugunsten der Zapfen verschob. Die Stäbchen sind Sinneszellen(1) am Augenhintergrund, die vor allem lichtsensibel reagieren, während die Zapfen das Farbensehen(1) ermöglichen. Farbensehen (trichromatisches, also das Sehen von drei Farben: rot, grün und blau) entwickelte sich bei Primaten vor etwa 30 bis 45 Millionen Jahren durch mehrere Mutationen des Gens(1), das für die Programmierung des Farbsehstoffes Rhodopsin(1) zuständig ist. Das Farbensehen(2) entstand vermutlich im Rahmen von Anpassungen, die mit einer zunehmenden vegetarischen Ernährungsweise zusammenhängen. Tagaktive Primaten ernähren sich vorwiegend von Blättern (folivore(1) Ernährung) oder von Früchten (frugivor(1)), wenngleich viele Arten proteinhaltige Nahrung wie etwa Eier oder Fleisch nicht verschmähen. Blätter und vor allem Früchte verändern sich über die Zeit farblich(3), und das Auffinden reifer (und somit essbarer) Früchte stellte sicher einen Überlebensvorteil dar.[5] Und noch eine wesentliche, für uns so selbstverständliche Fähigkeit entwickelte sich im Laufe der Primatenevolution(11): die Koordination von Augen- und Handbewegungen. Diese einmalige Errungenschaft ermöglicht nicht nur einen Präzisionsgriff(1), sondern auch das Abtasten von Dingen, um ihre Beschaffenheit zu untersuchen. Deshalb hat sich in diesem Zuge auch der Tastsinn(1) evolutionär entwickelt, also das sprichwörtliche Fingerspitzengefühl. Sie haben sich sicher schon einmal dabei ertappt, wie Sie im Supermarkt den Reifezustand von Obst oder Gemüse ertastet haben. Genau dafür ist die Fähigkeit auch »gedacht«. Aber mehr noch: Der Präzisionsgriff erfordert auch die Opponierbarkeit (Gegenüberstellung) des Daumens gegenüber den anderen Fingern. Wieder so eine typische Primateneigenschaft(12), die wir sicher nicht missen wollen. Der menschliche Daumen ist übrigens besonders lang in Relation zu den anderen Fingern und auch besonders beweglich, quasi im dreidimensionalen Raum, was nicht nur beim Benutzen der Handy-Tastatur von Vorteil ist, sondern auch für den Werkzeuggebrauch(1) allgemein. Sie könnten weder einen Stein oder Speer(1) zielgerichtet werfen noch mit Pfeil und Bogen(1) hantieren oder diese Werkzeuge(1) überhaupt erst herstellen, ohne den Daumen opponieren zu können.

Warum nur sozial?

Aber zurück zum Sozialverhalten. Auf den ersten Blick mag es plausibel erscheinen, dass das Leben in Gruppen Vorteile für das eigene Überleben bietet. Was den Schutz vor Raubtieren(6) betrifft, mag das auch zutreffen. Aber nun sitzt der Nahrungskonkurrent(1) mit am Tisch. Wer Kinder hat, weiß, wovon ich spreche. Das Gruppendasein ist kein Spaß. Nicht nur muss Nahrung geteilt werden, auch sonst wird um Ressourcen(1) konkurriert – sei es um Zuwendung(1), sozialen Status(1), Freunde oder Partner, je nach Entwicklungsstand und Bedürfnissen. Das erzeugt Stress(2): Der kann uns krank machen, wenn unsere Regulationsmechanismen versagen (siehe Kapitel 5).

In den meisten Primatenhorden existiert wie auch in anderen Tiergesellschaften eine »Hackordnung(1)« oder soziale Hierarchie.[6] Diese Rangordnung(2) innerhalb einer Gruppe hängt einerseits sicher von physischen Kräfteverhältnissen ab. Der körperlich Stärkste hat bei vielen Tierarten die besten Aussichten, die Gruppe zu dominieren (deshalb haben bei amerikanischen(1) Präsidentschaftswahlen auch meistens die körperlich größeren Kandidaten gewonnen). In komplexer werdenden Primatengemeinschaften kommen aber noch andere Faktoren dazu: Häufig wird die Rangordnung(3) vererbt, aber nicht etwa genetisch, sondern zum Beispiel auch von der Mutter auf die Tochter oder den Sohn. Die Nachkommen dominanter Weibchen nehmen oft per Geburt(3) eine höhere Stellung in der Rangordnung(4) ein als Kinder von Müttern, die weiter unten in der Rangordnung(5) stehen. Bei den höheren Primaten(13) wie etwa Pavianen oder Schimpansen(3) spielt überdies die Fähigkeit, Koalitionen zu bilden, eine große Rolle. Schimpansenmänner(4), die sich der Gefolgschaft anderer Männer und Frauen sicher sein können und diese wichtigen Beziehungen aktiv pflegen, haben bessere Chancen, einen hohen Rang(6) in der Gemeinschaft einzunehmen (und dadurch reproduktiv erfolgreich zu sein).

Das Schmieden von Koalitionen und engen Beziehungen unter erwachsenen Mitgliedern einer Gruppe – Männchen und Weibchen – hat vermutlich die Entstehung sozialer Intelligenz(1) begünstigt, wie Richard Byrne(1) und Andrew Whiten(1)(1)(1)(1)(2)(2)(1)(1)»Theory of Mind(1)«(2)(1)(1)(2)[7]