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Stefano Benni

Von allen Reichtümern

Roman

Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

Die italienische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Di tutte le ricchezze bei Giangiacomo Feltrinelli Editore in Mailand.

E-Book-Ausgabe 2014

© 2012 Giangiacomo Feltrinelli Editore

© 2014 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 /41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Photographie © Werner Richner, Saarlouis.

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978 3 8031 4147 7

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3255 0

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Quellenhinweise und Anmerkungen der Übersetzerin

Lesen Sie weiter...

Ich war der Schatten eines Seidenschwanzes,

Den trügerisches Azurblau im Fensterglas erschlug;

Ich war der Schmutzfleck aschnen Flaums – und ich

Flog weiter, lebte fort im reflektierten Himmel.

Vladimir Nabokov, Fahles Feuer

Mit deinen langen blonden Haaren

Und deinen blauen Augen

Ist das Einzige, was ich jemals von dir bekam,

Kummer

David Bowie, Sorrow (Cover der McCoys)

 

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1.

Lass mich in andrer Musik berichten

Von mir Lebendem unter den lebenden Dingen

Lass mich dein schärfster Blick sein

Dein Herz und die Worte, die du wählst

Heute entkleidet der Herbstwind die Bäume

Der brennenden Erinnerungen des Sommers

Am Boden durchwirbelt er sie, doch wir wissen

Dass das, was erzählt ist, uns bleibt.

Siehst du, wie sich alles wandelt und bereit macht

Der Schlange Haut, des Fuchses Geistesblitz

Das Stachelschwein, das sein schwarzes Pfeilheer

Aufbläht, über den Weg kreuz und quer

Das derbe Wildschwein, der Pferde Trab

Und ein Hirschkalb, das dich unverhofft überrascht.

Die Einsamkeit, sie steht den Alten

Wie ein altes Kleid

Und in ihren Taschen klimpern

Die Träume, die sie nicht mehr ausgeben

Maudit l’amour/ ausgesperrt aus diesen Zimmern

Schrieb ein Dichter auf die Wand der Zelle

In die zeit seines Lebens man ihn schloss

Und seine Pein sollte mein Thema sein.

Ich bin der Autor der Verse, die Du gerade entdeckt hast, liebenswerte Leserin, lieber Leser.

Deshalb ist es nur richtig, dass Du etwas mehr über mich erfährst. Mein Name ist Martin. Wie Martin Eden, ein Roman, mit dem ich jahrelang meine Studenten verdorben habe. Oder wie der epische Gaucho Martín Fierro. Oder wie Dean Martin, ein Sänger aus den fünfziger Jahren mit tiefer, schmeichelnder Stimme, so wie meine, die ich modulierte, um meine Studentinnen zu bezaubern. Oder wie martin pescatore, wie man hier in Italien den Eisvogel nennt, der aus der Luft ins Wasser herabstürzt, um ihm ein silbriges Geschöpf zu entreißen.

Ich gehe auf die Siebzig zu, ein ehrwürdiges Alter, wenn es nicht schamlos ist, und ich lebe allein in einem Haus auf dem Apennin, einsam, aber nicht allzu sehr, in der Nähe eines kleinen Ortes, der mit einigen Bedenbrekfast ausgestattet ist; und einige Kilometer weiter liegt eine kleine Stadt mit einundzwanzigtausend Einwohnern, die mit drei enormen Supermarkt-Outlet-Shoppodromen ausgestattet ist, welche die gesamte Einwohnerschaft fassen können. Meine Behausung ist ein Landhaus, das von einem Wandteppich aus Efeu und Glyzinien überwachsen ist, oben hat es einen kleinen Balkon. Als Wachposten fungieren auf der einen Seite ein Walnussbaum mit majestätischem, aufrechtem Stamm und auf der anderen ein krummer, anarchischer Feigenbaum. Davor habe ich einen Panorama-Patio, wo ich häufig grübele, arbeite oder auf einer Weidenbank einschlummere. Dahinter eine kleinere Veranda, die zum Eichen- und Ahornwald hin liegt, Sitz einer Federviehphilharmonie.

Gefährte und Knappe ist mir Ombra, ein kräftiger schwarzer Hund, eine Kreuzung zwischen einem Neufundländer und einem Güterzug, wenn er freudig losstürmt. Er respektiert nämlich alle Zwölf Gebote der Hunde außer das elfte, das da lautet:

Deine Freude sei proportional zu deinem Gewicht.

Stellt euch vor, wie ich gerade draußen sitze, im Herbst, den Blick auf die fernen Hügel gerichtet, vor einem Computer, der manchmal in der Sonne funkelt. Auf der Wiese fliegen weiße Schmetterlingspaare, die den zukünftigen Schnee vorspielen. Ich bin ein emeritierter Professor, Dichter durch ein einziges Buch sowie fruchtbarer und pedantischer Essayist. Mein meistgelesener Text behandelt den verfluchten Dichter Domenico Rispoli, genannt der Catena, der in einem Irrenhaus starb, als er halb so alt war, wie ich es jetzt bin. Mein Haus hat keine großen Spiegel, aber ich weiß, wie ich aussehe. Ich bin groß und dünn, ich hinke wegen des Ischias, ich habe indianische Wangenknochen, eine spitze Nase und weiße Haare mit einem Büschel, das mir oft in die Stirn fällt und dabei die Landschaft in zwei Hälften teilt und das eine Frau, die von mir wahrscheinlich vor Jahren geliebt wurde, »deine Trauerweide« nannte.

In der Umgebung und in der Ortschaft, die zwischen meinem Haus und der Stadt mit den Supermärkten liegt, werde ich als sonderbarer, stiller Fremdling angesehen. Das Dorf heißt Borgocornio. Einige meinen, der Name komme von den corniole, den Kornelkirschen, die in den hiesigen Wäldern im Überfluss vorhanden sind. Andere meinen, von seinen wunderschönen, reizbaren Ziegen und deren corna, den Hörnern. Doch ich habe auch eine gehässigere Version gehört. Es ist ein Dorf leidenschaftlicher Jäger, und während der langen Treibjagden versuchen die Ehefrauen sich die Zeit zu vertreiben, indem sie mit Freiwilligen die Betten testen. Der Ort ist fast rundum erneuert, Steinhäuser mit enormen Satellitenschüsseln, Handys, die zwischen Schafen und Schwimmbädern voller ertrunkener, auf dem Rücken schwimmender Bremsen ertönen. Der letzte Stolz, wie das dazu bestimmte Hinweisschild mitteilt: Das Dorf ist Partnerstadt von Hörby (Schweden).

Es gibt drei architektonische Attraktionen des Ortes:

- eine Kirche mit Fresken aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in immerwährender Restaurierung, in deren Krypta die geheimnisvolle ›Hurenglocke‹ verborgen ist,

- die Disko Bully, Ziel von Zugedröhnten aus diversen Regionen,

- die Bar Marlon, deren Leuchtreklame, ein Motorrad in elektrischem Neonblau, kilometerweit sichtbar ist.

In dieser lieblichen Gegend lebe ich allein, wie ich Euch schon gesagt habe, ich habe einen Sohn namens Umberto, der Musiker im Ausland ist und dessen Anrufe ich sehnsüchtig erwarte. Der Klingelton meines antiquierten Handys, den mir eine Nichte ›heruntergeladen‹ hat, ist Dream a little dream of me mit der Stimme von Ella Fitzgerald und der Trompete von Louis Armstrong. Ich arbeite an einem Computer mit einem regelmäßig dreckigen und verschwommenen Monitor, meine Schreibmaschine ist seit einem Jahr in der Reparatur, als ich sie hinbrachte, war das, als hätte ich verlangt, die Garderobe einer Toten zu erneuern, ich habe dann einen Paläo-Handwerker gefunden, der diese mechanischen Fossilien restauriert, aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich erinnere mich mit Sehnsucht an ihren kreativen Lärm.

Jetzt hingegen ist meine Tastatur sanft und schweigsam. Ich habe mein Herz den Rhythmen der modernen Kommunikation hingegeben, doch ich bleibe misstrauisch. Bildschirme erzeugen Beklemmung, seit die böse Königin das Spieglein an der Wand nach den Top Ten der Schönsten im ganzen Land gefragt hat.

Ich frequentiere keine jener enormen kybernetischen Tafelrunden, in denen Millionen Menschen mit anderen Millionen kommunizieren. Unter meinen Adelstiteln fehlt das @, der Orden des Heiligen Klammeraffen. Ich besitze jedoch ein Umbertophon, das mir mein Stammhalter geschenkt hat, beziehungsweise einen dieser winzigen Weltenbehälter, mit dem ich Musik aus Kopfhörern hören und ohne hupende Anzeichen überfahren werden kann, wenn ich die Straße überquere. Wenige Personen verkehren in meinem Haus, und Ihr werdet sie alle noch kennenlernen.

Wie ich mit der Einsamkeit lebe? Manchmal mit wohlwollender Geduld, manchmal mit Kummer. Ich gehe langsam spazieren, koche schlecht, schreibe mit Sorgfalt, schlafe wenig und denke viel.

Ich denke immer darüber nach, dass ich viele Jahre damit verbracht habe, den Aufreißer zu spielen (Liebhaber oder Schwein, sucht Ihr Euch das Beiwort aus). Und während ich wunderbaren weiblichen Exemplaren hinterherrannte, hatte ich weder Zeit noch Lust, eine feste Partnerin zu suchen, nicht einmal die Mutter meines Sohnes. Macht mir ruhig den Prozess, ich werde die Strafe verbüßen, oder besser: Ich verbüße sie gerade schon.

In meinem Haus hallen keine anderen Schritte wider, und ich werde von Eros für meine vergangene Unordnung bestraft. Heute habe ich zu Frauen eine trügerische Distanz aufgebaut. In Wirklichkeit träume ich im Schlaf manchmal von Küssen, und dann wird die Glut der vergangenen Feuer wieder in mir geschürt. Doch mittlerweile fühle ich mich wie ein nicht empfehlenswerter und nicht präsentabler Alter, der wacklig läuft und immer gleich angezogen ist, die Hosen mit diversen Essensresten bepinselt und mit Schuhen wie auf Fotos von Auswanderern.

Ich rasiere mich aus Langeweile, und als einzige Eitelkeit habe ich mein schneeweißes, wallendes Haar behalten sowie drei oder vier provenzalische Hemden, die ich in Paris in der Rue du Seine gekauft habe und deren Kragen von Anmut erzählen. C’est tout.

Maudit l’amour/ ausgesperrt aus diesen Zimmern

Schrieb ein Dichter auf die Wand der Zelle

In die zeit seines Lebens man ihn schloss

Und seine Pein sollte mein Thema sein.

Lass mich dir die alte Legende erzählen

Von der blonden Maid, der schönsten und liebsten

Die in den falschen Ehehafen nicht einlaufen wollte

Ein andres eiskaltes Bett wählte sie

Stieg langsam und weinend hinab in den See

Gelöst war ihr Haar, und ihre Augen

Hob sie zum Himmel für immer ab da

Kornblumen wuchsen, Himmelswasser ist er genannt

Wanderin in einer Zeit, die die Wanderer verbannt

Hör mich bei der Flamme eines imaginären Kamins

Man sagt, dass ihr Schatten noch immer umherirrt

Stumm fragend, warum man ihr nicht gelassen die Wahl

Wie zu verschwenden ihr junges Schicksal

Ich liebe Gespenster, die nicht wollen scheiden

Die mehr als wir den Tod anfeinden.

Ich höre auf dem Weg ein neues Geräusch

Ein schwarzes Auto im Gold der Bäume

Meinetwegen kommen sie nicht. Doch nun wird

Jemand meine Einsamkeit sehen

Der mit dem Finger auf sie zeigen kann

Lass mich dir erzählen

Wie eintraten in mein Leben

Eine geheimnisvolle Frau und ein verletzter Mann.

Maudit l’amour ist der Anfang eines Gedichts des Catena, eines seiner schmerzhaftesten und strittigsten, zu dem ich mir noch heute Fragen stelle. Es ist einfacher, Euch zu erklären, welche Legende die darauffolgenden Verse inspiriert. Es ist eine Geschichte aus dieser Gegend, die einigen zufolge ihren Ursprung im Mittelalter hat, andere meinen, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Ich habe verschiedene Versionen davon gehört, die schönste von einem alten Truhen- und Sargtischler, der letztes Jahr inmitten seiner duftenden Hölzer gestorben ist.

Es lebte einst in einem Landhaus auf der anderen Seite des Tals ein blondes Mädchen mit blauen Augen, eine Seltenheit in unserer Gegend, wo die Frauen dunkel sind und einen misstrauischen Blick haben, der nur selten von Gefühlen sanfter gemacht wird. Sie trug ihre Schönheit ohne jegliche Eitelkeit, und sie träumte wie alle jungen Menschen davon, diese einsamen Berge zu verlassen. Ihr Vater, ein Bauer, hielt sie wie ein kostbares Tierchen, nur selten verlangte er von ihr schwere Arbeiten, er begnügte sich mit ihrer Küche. Die Mutter war schon lange tot. Es geschah aber, dass ein Grundstückshändler, ein finsterer und kropfiger Mann, ein Säufer, den die ungerechte Fortuna mit Geld und Hochmut überhäuft hatte, das Mädchen wunderschön und erschöpft auf einem Dorfball kreisen sah und er sich augenblicklich in sie verliebte. Sofort, ohne überhaupt mit ihr zu sprechen, bat er den Vater um ihre Hand. Der Bauer fasste dies als großen Glücksfall auf. Die Tochter würde den Reichsten des Dorfes heiraten. Und er erklärte es ihr vor dem Kamin, ihr blondes Haar vom Widerschein des Feuers vergoldet und dann unerwartete Tränen. Nein, ich will nicht, sagte das Mädchen, er ist ein verabscheuungswürdiger Mann. Du wirst tun, was ich sage, sagte der Vater zornig und verwandelte sich schlagartig in einen unnachsichtigen Kuppler. Die Tage vergingen, sie in ihrem Zimmer eingeschlossen, der Vater den abscheulichen Bräutigam hinhaltend. Der Tag der Hochzeit ward festgesetzt, der weiße Schmetterling eines Hochzeitskleids wurde auf ihr Bett gelegt. Es schien, als habe sich das Mädchen in sein Schicksal gefügt. Doch in der Nacht vor dem Hochzeitsmorgen huschte sie aus dem Landhaus, ihr Rock raschelte in den Lavendel- und Rosmarinsträuchern, dann erreichte sie in der Waldesruhe und im Mondenschein das Wasser. Es war ein kleiner See, der von einem Wildbach geformt worden war, ein blaues Wunder am Fuß einer tonhaltigen überhängenden Felswand. Hier gingen die Jugendlichen des Dorfes baden, und sie erinnerte sich an die Tage, an denen sie sich ihnen angeschlossen hatte, ohne je ein Bad zu wagen, denn sie konnte nicht schwimmen und der See war tief. In jenem Winter war er zur Hälfte gefroren, und sein Wasser war geschmolzenes Silber und Saphir geworden.

Hier stieg sie Schritt um Schritt auf Schneeregen und Schlamm hinab und ertränkte sich.

Man sagt, dass an dem Morgen, an dem all dies entdeckt wurde, ein unerwarteter, strahlender Kornblumenteppich am Ufer sprießte, und deshalb wurde der See Himmelswasser genannt.

Ich habe verschiedene phantasiereiche Versionen in einer einzigen kurzen Version vereint. Tatsächlich gibt es den See noch, auch wenn er weniger blau ist, und die Nachfahren des Händlers besitzen das halbe Tal.

Doch der Teil der Legende, der mich am meisten interessiert, ist der gruseligste. Er besagt, dass seit jener Nacht das Gespenst des Mädchens immer noch an den Ufern des Sees und in den Wäldern umherschweift und manchmal mit traurigem Blick am Rand des Dorfes auftaucht. Eine Frau, die örtliche Hexe, schwört, sie gesehen zu haben. Ihre blonden Haare seien so lang wie die Schleppe einer Braut gewesen und sie habe ihr mit Kinderstimme gesagt:

»Warum habt ihr mich nicht die Liebe wählen lassen?«

Und ich? Warum habe ich gewählt, sie nicht zu wählen? Und warum suche ich ununterbrochen, in den Nebeln, in den Lichtreflexen, in den Luftspiegelungen des Morgengrauens den Schatten des Mädchens, um mit ihr zu sprechen und sie nach ihrer wahren Geschichte zu fragen?

Dieser Ort ist prächtig, aber er verbirgt bittere Geheimnisse.

Und auch ich habe welche.

Doch kommen wir zur Neuigkeit dieses Nachmittags. Meinem Haus gegenüber, nur einen Steinwurf entfernt, unter zwei riesigen, jahrhundertealten Ulmen, steht ein Landhaus, das seit einem Jahr unbewohnt ist, seit der Besitzer, ein bärtiger und unverträglicher deutscher Maler, es verließ, um zum Sterben irgendwo ins abgelegene Indien zu gehen. Es ist fast identisch mit meinem, nur dass es in einem verblassten Blau gestrichen ist, und natürlich ist das Gras, das es umgibt, hoch. Heute Morgen ist ein dicker schwarzer Geländewagen angekommen, eines jener Monster, mit denen die Stauforscher unnötigerweise den Verkehr verstopfen. Die gewaltigen Reifen haben Wolken gelber Blätter aufgewirbelt, und der Lärm hat Amseln und Krähen davonfliegen lassen.

Drei Personen sind ausgestiegen. Eine ist der Hausbesitzer, ein Händler wie derjenige aus der Legende, ein Grobian mit Schweinsgesicht und barbarischen Umgangsformen. Aufgeregt hat er gestikuliert, sicher hat er von den Vorzügen seines Eigentums geredet, und zwar zu einem Paar. Ein Er in Lederjacke, wohl so um die Vierzig, lange Haare und ein schwarzes Haarbüschel vor der Stirn. Eine Sie mit ellenlangem, blondem Haar, schlank, von weitem wunderschön.

Von weitem wunderschön. Was verbirgt sich in diesen drei Wörtern? Werde ich Nachbarn haben? Werden sie Einzelgänger sein wie ich, werden wir uns bloß grüßen oder werden sie meine Ruhe in Brand setzen? Ombra ist schon hingelaufen, um sie kennenzulernen, mit seinem großen Schwanz wedelnd, mit dem er fröhlich die Dinge im Haus umwirft. Sie hat ihn sofort gestreichelt.

Ich habe mich dabei ertappt, jeden Moment dieser Verhandlung zu beobachten. Mir ist in den Kopf gekommen, wie wenige Personen ich in diesem Tal wirklich kenne. Ich habe in jenen beobachteten Gesten einen Hauch gespürt, eine Vorahnung. Sie hat sich zu meinem Haus umgedreht und hat darauf gezeigt, der Händler hat eine Geste mit offenen Armen gemacht, ich glaube, er hat gesagt: Dort lebt ein Professor, ein verrückter, aber harmloser Dichter, der mit den Tieren spricht, aber sehr diskret. (Ich habe seine Meinung wiedergegeben, nicht sein Idiom.)

Ich werde ein vortrefflicher Nachbar sein, hätte ich am liebsten gerufen. Doch rührt meine alten Wunden nicht an. Respektiert die Asche meines Verlangens. Hört keine Musik in voller Lautstärke. Mästet meinen Hund nicht mit euren Resten. Lasst den Motor eures schwarzen Segelschiffs nicht laufen. Pflastert die Wiese nicht, fällt keine Bäumchen. Und verlangt keine Stille von den hiesigen Nächten. Nachts raunt und schreit hier alles.

Sie sind weggefahren, und ich habe mich daran gemacht, eine Suppe zu kochen. Irgendetwas, ein Teufelchen, das im Topf versteckt war, hat gemurmelt, dass es von neuem hervorkommen wird.

Auf der Wiese war mein Freund, das Stachelschwein, gekrönter Zerstörer von Gemüsegärten.

»Wir haben Besuch«, hat es gesagt.

»Ja, so ist es. Hoffen wir mal, dass sie nicht so borstig sind wie du und ich.«

»Jetzt hör aber mal, verdammt, ich bin gesellig, du bist hier der verblödete Alte.«

(Die Stachelschweine sprechen auf eine gewisse spitze, vulgäre Art.)

»Gerade du sprichst von Geselligkeit, der du mit diesen Schwertern auf dem Rücken lebst. Ich weiß nicht, ob ich noch Lust auf Nachbarn habe. Erinnerst du dich an die Schreie und die Wutanfälle des Deutschen, und wie er nackt durch die Wiesen lief?«

»Ihr Menschen macht einen Haufen entsetzlicher Sachen. Einschließlich, uns zu fressen …«

»Ich habe nie einen Kollegen von dir verspeist.«

»Du nicht, aber deine Kumpane aus dem Ort schon. Die würden selbst ein Mammut essen, wenn es nicht schon ausgestorben wäre.«

»Woher weißt du was von Mammuts?«

»Der Dachs hat ein Buch, in dem etwas davon steht.«

(Der Dachs, alias Doktor Meles, ist ein jähzorniger Philosoph, der seinen Bau in der Nähe hat.)

»Naja, jedenfalls glaube ich nicht, dass sie das Haus mieten werden. Zu isoliert und zu kahl.«

»Meiner Meinung nach«, hat das Stachelschwein, den Kopf wiegend, gesagt, »gefällt es ihnen so, sie werden es ein bisschen putzen und mit technologischem Teufelszeug vollstopfen, und sie werden einen sterilen, ungenießbaren Gemüsegarten anlegen. Sie werden jeden Tag kommen, um dir absurde Fragen zu stellen und um dieses seltsame Exemplar eines alten Dichterlings zu betrachten. Und du wirst wegen der Blonden ganz aus dem Häuschen geraten und dich als erfahrener Pflanzenkenner und Landvermesser ausgeben.«

»Ganz bestimmt nicht«, habe ich geantwortet.

»Ich glaube schon. Du erträgst es nicht mehr, alleine zu sein. Tu nicht so, als wäre es nicht so.«

Ich habe nicht geantwortet. Das Stachelschwein ist ins Grüne zurückgekehrt, um Knollen und Zwiebeln zu verzehren. Ich habe widerwillig eine Suppe aus fahlen Kartoffeln gekocht. Eine Nachtigall sang im Dunkel von einem geheimen Schmerz. Nachts habe ich von Mammuts geträumt, und vom Catena, der mich um Farben zum Malen bat.

2.

Können wir so tun, als bedauerten wir nichts?

Wir können sagen, alles ist getan

Und das Verlangen, das uns verließ

Wir wollten es so. Wir können

Neid und Ehrgeiz vergessen

Und die Geringschätzung nicht nur des Gemeinen

Sondern auch des Großen und Edlen

Die unsere Beschränktheit verrät.

Mehr kriegst du nicht, sagt die Stimme im Dunkel

Eine Frau, die wir liebten, wies uns zurück

Ein Buch begann und ward sofort Asche

Wir verrieten einen Freund und ein Feind hatte mehr Glück

Es gibt ein Bild in einem versteckten Raum

Ein übersehenes Tier im Wald

Der schönste Falter flog hinter unsrem Rücken

Eine Pforte wartete vergeblich auf uns

Und in unsren schönsten Erinnerungen

Wie auf den frühen Kindheitsfotos

Verhüllt ein Schatten unser Lächeln. Ein Schatten

Verdunkelt die Gewissheit des Weisen

Die Wildheit des Kriegers, die Sehnsucht des Satyrs

Das, was wir nicht hatten, das, was noch fehlt

In irgendeiner versteckten Abstellkammer des Herzens

Ein Spielzeug auf dem Dachboden, ein Gesicht in der Menge

Und der Tropfen, der von der Dachrinne perlt

Erinnert an das weite Meer. Dann regnet es

Und stillt für einen Moment jeden durstigen Traum.

In der Nacht bin ich plötzlich erwacht

Auf dem feuchten Gras höre ich nun

Den Fragen der Grillen und des Käuzchens zu

Warum bloß gehört euch die Welt?

Warum fürchtet ihr das Dunkel, das die Hälfte des Lebens darstellt?

Ich, geboren im Lampenschein

Habe nicht vergessen jenes Licht

Ich verstehe den Schrecken nicht, der den Städter

Peinigt, wenn die glühende

Maschinerie erlischt

Die seine Laster erleuchtet.

Maudit l’amour/ die Jugend altern lassend

Gerechte und Ungerechte mit Erinnerungen quälend

Verflucht das Alter und seine geringe Weisheit

Der Fuchs färbt seine Schnauze weiß

Und kümmert sich nicht drum. Einen Tag nur lebt der Nachtfalter

Und bringt sich in der Flamme um. Lange leben

Schildkröten und Papageien, ganz ohne Kalender

Lange leben die besten Bücher

Andere sind zu Recht vergessen

Andere fallen und erstehen wieder auf

Zweihundertmal las ich die ersten Zeilen

April ist der grausamste Monat

Doch auch der Oktober scherzt nicht, sagte der Freund

Der nicht mehr in meiner Nähe weilt.

Ich beobachte das Leben der andren. Meines hingegen nicht mehr

Die Schnauze des Professors wird weiß

So weiß wie die Schminke des Clowns

Jede seiner Grimassen ist traurig, jede seiner Possen fällt

Zu Boden wie ein benutztes Taschentuch

Auf, hofft er. Es wird kommen ein tanzender Tag

Eine Hoffnung an deiner Tür

Auf dem Schneeschlitten wirst du noch

Geheime Liebesworte deiner Liebsten zuflüstern

Wie in der geliebten Erzählung.

Drei Tage sind vergangen. Das Geschäft ist eingetütet. Schon seit zwei Tagen verkehren kraftvolle eingeborene Reinigungskräfte mit Besen und Lappen bewaffnet in dem blauen Haus. Heute Morgen ist das leise Gebet meiner Espressomaschine von Motorengeräusch übertönt worden. Der schwarze Geländewagen ist zurückgekehrt, gefolgt von einem großen Lastwagen. Sie und Er und andere haben mit einer gewissen Hektik angefangen, Kisten und Koffer auszuladen.

Obwohl mein Wunsch, sie auszuspionieren, so groß war, dass ich fast platzte, bin ich in den Ort gegangen, um Besorgungen zu machen. (Ja, so ist es, wir Dichter leiden angesichts des Bösen in der Welt, aber auch angesichts eines leeren Kühlschranks.) Normalerweise bin ich mit meiner alten Dyane unterwegs, aber gerade ist sie in der Werkstatt wegen einer Arthrose am Treibriemen. Der Mechaniker, der legendäre Divano, hat mir ein kleines rotes Auto namens Flexus oder Nexus oder Sexus oder ähnliche Lateinereien geliehen. Als ich von der Schotterstraße auf die asphaltierte gekommen bin, habe ich zuerst den Zementpilz der Disko Bully auftauchen sehen, ein mitten in der Landschaft gelandetes Ufo mit traurigem Ruf: jeden Monat wegen Drogen geschlossen und jedesmal auf geheimnisvolle Weise wiedereröffnet. Dann die Bar Marlon mit dem großen Schild, das vom neonistischen Meister Scheggia geschaffen wurde. In dieser Bar pflegen sich die Marlons zu treffen, Zentauren, die Harley Davidsons reiten. Ihr Chef ist der bereits erwähnte Mechaniker Divano, der so genannt wird, weil er groß, dick und ganz mit schwarzem Leder bezogen ist. Ich habe diese Wunderwerke hinter mir gelassen und an einem kleinen, nach Putzmittel riechenden Supermarkt gehalten, wo ich wenig für mich und viel für Ombra gekauft habe. Ich kann es gar nicht abwarten, nach Hause zurückzufahren, um zu schnüffeln.

Die Geschäftigkeit meiner neuen Nachbarn war unermüdlich.

Vom Haus aus habe ich sie in Ruhe beobachtet. Zwischen ihnen und mir ist eine Lichtung mit Quecken und Lavendelsträuchern, die von der Schotterstraße in der Hälfte geteilt wird. Mein Haus steht auf einer kleinen Terrasse, dem höchsten Punkt dieses Teils der Talebene, man gelangt über sieben große Steinstufen hinein. Unsere Behausungen sind symmetrisch, von meiner Küche aus kann ich ihr Fenster in der Nähe des Eingangs sehen, vom Schlafzimmer aus das daneben. Ich darf es mit meiner Neugier nicht übertreiben, auch wenn die Versuchung groß ist, das Fernglas zu benutzen. Er war im T-Shirt und schien nervös. Sie hatte die Haare im Nacken zusammengebunden. Sie haben noch über eine Stunde weitergemacht, dann sind sie ruhiger geworden und ich habe ihre Köpfe abwechselnd an den Fenstern auftauchen sehen. Ich habe mir alle Tätigkeiten vorgestellt, die man in solchen Fällen verrichtet, den Möbelhaufen und die schmerzhafte Entdeckung des Staubs und entsetzlicher Spinnen. Ombra hat mich mit fragender Miene angesehen, dann ist er abgezogen, aber nicht in Richtung des blauen Hauses, er ist auf den Wald zugesteuert, wo er mit zwei üppigen jungen Hündinnen aus dem Dorf tobt.

Etwas widerwillig habe ich mich an den Computer gesetzt. Ich konnte mir aussuchen, ob ich ein Gedicht des Catena kommentiere, das er in seinem letzten Lebensjahr im Irrenhaus geschrieben hat.

Ich schlafe nicht in Kristall oder in Federn

Sondern in brennender Lava und Ungestüm

Maudit l’amour, ausgesperrt aus diesen Zimmern

Von draußen nach mir rufend weiterhin

Wie ein törichter Freund /der nicht weiß, dass ich tot bin.

Oder ob ich noch an meinem Büchlein über komische Lyrik arbeite.

Brown lebte auf so luftiger Farm,

Dass jeder meilenweit und frei

Sein Licht sah, wenn die Hausarbeit

Er tat im Winter nach halb drei.

An diesem Morgen wollte das Schicksal jedoch, dass ich nicht zum Arbeiten kam. Ich erhielt zwei Besuche. Der erste war ein Skorpion, der auf dem Fußboden erschien und den ich mit einem präzisen Pantoffelschlag tötete. Der zweite war Vudstok, ein leicht verwelktes Blumenkind.

Virgilio, genannt Vudstok, lebt in einem von Graffiti leuchtenden Haus anderthalb Kilometer von hier. Für ihn ist die Zeit in der Epoche von Paläo-Rock und von Woodstock stehen geblieben. Er ist in meinem Alter, aber er trägt bebilderte Schlaghosen, eine Lederweste, einen langen weißlichen Pferdeschwanz und als letzten Schliff ein Bandana in der Stirn. Er denkt, dass er Keith Richards von den Rolling Stones ähnelt, mich erinnert er eher an meine Urgroßmutter, die ich runzelig und im Sterben liegend sah, mit einem feuchten Taschentuch auf dem Kopf.

Er lebt mit einer spindeldürren Gefährtin zusammen, die mit Außerirdischen in Kontakt steht und regelmäßig donnerstagnachts die Marsmenschen sieht. Das ist schlechter als eine Geliebte, aber immer noch besser als ein Psychoanalytiker. Sie haben ein gelbes Wohnmobil, auf dem born to be wild steht. Sie stellen so Dinge her wie schlichten Schmuck, Körbe, Holzarbeiten und so weiter, und sie verkaufen sie auf Flohmärkten. Sie bewirtschaften einen Bio-Gemüsegarten, der sie ganz biologisch jedesmal enttäuscht. Die größten Einnahmen hat Vudstok aus seinem kleinen Handel mit Marihuana, das er im Schilf hinter seinem Haus angepflanzt hat. Damit weiß er besser umzugehen, und zwei- oder dreimal hatte er Ärger mit der Polizei, aber er macht unbeirrt weiter.

Er ist eingetreten, ohne anzuklopfen, hat sich aufs Sofa gefläzt und eine normale Zigarette angezündet. Aber wegen seiner Pupillen konnte ich erahnen, dass er den Tag schon mit seiner Lieblingspflanze begonnen hat.

»Hast du gesehen, du hast neue Nachbarn«, sagte er. »Sie haben ein Auto, das im Death Valley übertrieben wäre, und hier erst. Hoffen wir mal, dass es keine reichen Spießer sind, besser wär’s, wenn ihnen der gute alte Rock gefällt.«

»Und wenn sie deine Kunden werden«, fügte ich griesgrämig hinzu.

»Du bist ein mürrischer alter Arsch, und doch weiß ich, dass du mich verstehst. Du erinnerst mich an einen gewissen Daniele. Wir waren in Zürich für ein Led-Zeppelin-Konzert. Auf dem Zeltplatz taucht ein Überfallkommando der Schweizer Polizei auf und …«

»Das hast du mir schon zehnmal erzählt. Daniele hat ein ganzes Brikett Haschisch geschluckt und sich zwei Jahre lang nicht davon erholt. Er glaubte, er wäre Judas …«

»Ja, und auf der Straße entschuldigte er sich bei allen. Aber das Konzert war grandios. Übermorgen fahren wir vielleicht in den Süden, zu meiner Exfrau nach Hause, um ein tammurriata-Konzert zu hören, du weißt schon, diese süditalienischen Trommeltänze. Ich habe die Schnauze voll von diesen beschissenen Märkten, niemand kauft mehr was. Ich musste sogar meine Gitarre an Armando Elvis, einen von den Marlons, verkaufen. Apropos, leihst du mir fünfzig Euro? Ich geb sie dir zurück, da unten kann man gut Geschäfte machen.«

Seufzend habe ich einen Schein gespendet. Im Grunde ist er ein guter Kerl, und oft hat er mir bei kleinen Reparaturen im Haus geholfen. Er müsste nur die Platte seines Lebens aus der psychedelischen Hülle nehmen, in der er sie seit Jahren verschlossen hält.

»Danke«, sagte er. »Auf jeden Fall, was deine Nachbarn angeht, er ist ein finsterer Typ, aber sie gefällt mir, sie wirkt wie die Schwester des Sängers von Guns N’ Roses …«

»Inwiefern? …«

»Na gut, sagen wir, sie hat was von Stevie Nicks von Fleetwood Mac.«

»Hast du sie besucht?«

»Ich habe sie auf der Straße im Auto getroffen, sie haben mich gefragt, wo hier im Dorf eine Eisenwarenhandlung ist, da habe ich ihnen ein paar Nägel verkauft …«

»Hattest du welche in der Tasche?«

»Sie sind zu mir nach Hause gekommen, hatten es sehr eilig, er ist ein nervöser Typ, entspann dich Mann, hätte ich am liebsten gesagt. Aber sie ist echt seltsam schön, bestimmt Tänzerin oder sowas Ähnliches. Im Haus lief Musik: Baba O’Riley. Ich hab sie gefragt, ob sie es kennen. Er hat geantwortet: Ja, das ist doch die Titelmelodie eines Fernsehfilms. In was für einer Kultur leben wir, zum Teufel? Was sind das für Zeiten?«

»Sie sind jünger als wir, Vudstok. Kannst du das nicht verstehen?«

»Ich fühle mich immer noch wie zwanzig«, sagte Vudstok, während er sich mit seinem kaputten Rücken langsam wie ein Python vom Sofa erhob. »Naja, danke für das geliehene Geld. Ich zahl es dir zurück, wenn ich wiederkomme, in ein oder zwei Wochen. Wer weiß, der Wind trägt uns.«

»Wir werden uns tragen lassen«, sagte ich.

»Geh mal vor die Tür, Professor«, sagte Vudstok mit einem zahnlosen Lächeln. »Komm ins Dorf, komm zu einem Konzert, lass deine Dichter los und finde die Dichter deiner Jugend wieder, die mit Gitarre.«

»Die höre auch ich mir immer noch an«, antwortete ich, »ich hab das Umbertophon mit den ganzen Beatles, Mozart und gutem altem Rock.«

»Das heißt iPod. Ich erwarte dich auf einen Kuchen«, sagte er, während er sich entfernte und seine Jeans dabei das Gras durchfegten.

Ich kenne seinen Kuchen, hab ich gedacht. Das Mehl ist die letzte Zutat, an die er denkt. Aber Urgroßmutter-Vudstok hat Recht. Ich sollte öfter mal das Haus verlassen. Mich vielleicht mit meinen neuen Nachbarn anfreunden …

Ich nehme das Bespitzeln wieder auf. Jetzt ist er vor dem Haus, er raucht. Er deutet irgendwie rhythmische Schritte an, vielleicht Tai-Chi. Östliche Gymnastik mit Zigarette im Mund. Ihr Haar blitzt plötzlich am Fenster auf. Sie schaut genau in meine Richtung. Instinktiv kehre ich ins Haus zurück, als hätte sie mich entdeckt. Sie schließt die Fensterläden. Ich gehe hinters Haus, um meine verkümmerten Blumen zu gießen.

In der Zwischenzeit habe ich einen weiteren Besuch empfangen. Sie hat sich vorsichtig genähert, hat sich versichert, dass der Hund sich nicht hier herumtreibt. Drei, vier Meter von mir entfernt ist sie stehengeblieben.

»Nein, sie haben dich nicht entdeckt«, sagt die Füchsin. »Warum willst du überhaupt etwas über sie wissen? Die Städter mögen uns Wilde nicht. Hast du was für mich?«

Es ist eine alte Füchsin mit weißer Schnauze. Sie hat aufgehört zu jagen und stöbert im Abfall der Gegend. Man hat mehrmals auf sie geschossen, aber sie ist immer davongekommen.

Ich habe zwei Hähnchenflügel im Kühlschrank und werfe sie ihr hin.

Sie knabbert und sagt dann mit klagender Stimme:

»Sonst nichts?«

»Willst du jetzt etwa Gänseleber? Warum besorgst du dir dein Essen nicht wie alle anderen deiner Art?«

»Ich bin alt«, sagte die Füchsin und sah mich mit schwarzen, ruhigen Augen an, »wir schämen uns des Alters nicht so wie ihr. Wir färben uns nicht das Haar und den Schwanz, wir stopfen uns nicht mit Medikamenten voll. Höchstens ein bisschen Zitronengras für den Darm. Schämst du dich, alt zu sein?«

»Nein«, antwortete ich, »obwohl, naja, doch, manchmal ein wenig. Wenn ich merke, dass ich etwas nicht mehr kann, was ich einmal konnte.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Füchsinnen jagen«, antwortete ich und mimte dabei einen Reiter im Galopp.

»Witzbold«, sagte die Füchsin, während sie den Boden beschnüffelte. »Wir haben Nachbarn, es wird ein bisschen mehr zu essen für mich geben.«

»Erzähl mir, was sie wegwerfen«, schlug ich ihr vor.

»Du hast Recht. Um zu verstehen, wer ihr Menschen seid, reicht es, sich anzuschauen, nicht was ihr besitzt, sondern was ihr verschwendet.«

»Abfall analysieren ist eine Detektivarbeit. Berichte mir sorgfältig.«

»Dafür machst du einen Hühnerstall auf?«

»Schlag dir das aus dem Kopf, du Blutrünstige. Wenn du ein Huhn willst, such dir eins.«

»Ah, die Hühner«, flüsterte sie mit verträumter Miene. »Ich erinnere mich an eine Nacht vor vielen Jahren, auf dem Hof, wo jetzt das Bedenbrekfast ist …«

»Du klingst wie Vudstok«, sagte ich.

»Den verachte ich. Alles, was er wegwirft, ist voll von diesem Unkraut, das mich schief laufen lässt. Und dazu hat er auch noch ein Gewehr.«

»Er würde nicht auf dich schießen. Er ist Pazifist.«

»Wer ein Jagdgewehr zu Hause hat, ist kein Pazifist«, meinte sie kopfschüttelnd.

»Vielleicht hast du Recht. Ich habe kein Gewehr.«

»Du bist ein sanfter Mensch, aber ich verlasse mich nicht darauf.«

»Wirst du mir eines Tages aus der Hand fressen?«

»Nicht mal im Traum. Naja, also, gibt’s jetzt noch was anderes in deinem … wie nennt ihr euren kalten Bau … Kühlschrank?«

»Willst du ein bisschen Eis?«

»Ich errichte meinen Bau im Schnee, vergiss das nicht«, sagte sie und verschwand, den dichten Schwanz erhoben.