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Dirk Gieselmann • Fabian Jonas • Lucas Vogelsang

Und nun zum Wetter

100 Jahre Weltgeschichte im Liveticker

Illustrationen von Katharina Noemi Metschl

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Dirk Gieselmann / Fabian Jonas / Lucas Vogelsang

Dirk Gieselmann wurde 1978 in Diepholz bei Bremen geboren. Er ist seit 2006 Redakteur beim Fußballmagazin «11FREUNDE» und schreibt nebenbei für den «Tagesspiegel» und «Das Magazin». Gewinner des Deutschen Reporterpreises 2013.

 

Fabian Jonas wurde 1978 in Kaufbeuren im Allgäu geboren. Seit 2011 ist er freier Schlussredakteur für «11FREUNDE», Autor des Fußballbildbandes «Kunstschuss» und schreibt und lektoriert für verschiedene Magazine und Verlage im In- und Ausland.

 

Lucas Vogelsang wurde 1985 in Berlin geboren. Mittlerweile hat er mit dem Liedermacher Rainald Grebe ein Theaterstück verwirklicht, mit Thomas Gottschalk eine Fernsehsendung an die Wand gefahren und ist freier Autor für den «Tagesspiegel», «Playboy» und die «ZEIT». 2013 wurde er mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.

 

Die Autoren haben für ihren Liveticker den Henri-Nannen-Preis und den Grimme-online-award bekommen.

Über dieses Buch

1. Januar 2012 – Zehn Jahre Euro! Wir rechnen immer noch um: 20 Mark für dieses Buch! Die haben sie doch nicht mehr alle.

 

Alles lässt sich tickern: ein Fußballspiel, der politische Aschermittwoch – und die vergangenen 100 Jahre. Die Autoren, Gründer des 11FREUNDE-Livetickers, verlassen die ausgetretenen Pfade der Geschichtsschreibung und zeigen mit Humor, Tempo und Wortgewalt, dass selbst Goebbels mit Goebbels verglichen wurde, Elvis Presley als sein eigener Imitator weiterlebt – und warum es in Wuppertal immerzu regnet.

 

 

«Es ist Comedy-Journalismus, der über seine Schnelligkeit wirkt. Vielleicht wurde hier eine neue journalistische Form geboren.»

(Die Jury des Henri-Nannen-Preises)

 

«Klug gemachte Unterhaltung auf höchstem Niveau. Trotz seiner Bezeichnung ist der Liveticker ein Genuss von Dauer – eine rasante Nachbetrachtung aus der Perspektive liebenswürdiger und blitzgescheiter, etwas schräger Kritikaster.»

(Die Jury des Grimme-online-award)

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Titelgestaltung und Illustrationen: Katharina Noemi Metschl

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-62856-6 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-50741-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50741-8

«Bedenke auch, dass alle Zeit, in der wir nicht waren, mag ihre Dauer auch von Ewigkeit sein, für uns wie nicht gewesen ist.»

— Lukrez

«Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der wichtige.»

— Ludwig Wittgenstein

«All this happened, more or less. The war parts, anyway, are pretty much true.»

— Kurt Vonnegut

1. Januar 1914 — Liebe Leser, bitte einsteigen, sie geht los: die Reise durch hundert Jahre, die sogenannte Geschichte, ein Land vor unserer Zeit und eine Zeit vor unserem Land. Werden wir uns fühlen wie Touristen in einem klimatisierten Reisebus, Kennzeichen SM für Schmalkalden-Meiningen, der innerhalb weniger Stunden am Schloss von Versailles, an der Wolfsschanze und dem Checkpoint Charlie vorbeirollt, während Westernhagens «Freiheit» aus dem Radio dröhnt, Guido Knopp im Mittelgang eine Polonaise anzettelt und Harald Juhnke in die Bordtoilette kotzt? Wahrscheinlich. Aber fahren wir los! Sie haben ja schließlich bezahlt.

Für Ihren Taschenkalender – die Termine der totalen Menschheitsfinsternis: 30. Juni 1914 und 1. September 1939.

2. Januar 1914 — Ein Tag der vorsichtigen Freude, vielleicht wird das alles doch nicht so wild wie befürchtet: Der Weltuntergang, verkündet von den Zeugen Jehovas, er ist, soweit wir das jetzt überblicken können, vorerst ausgeblieben. Da haben wir ja noch mal Glück gehabt. Denn wie hätten wir dieses Buch sonst füllen sollen? Und: Wer hätte es gelesen? 3. Januar 1914 — Heute ist der erste Samstag dieses Buches. Zeit, das Auto zu waschen, soweit man denn schon eines besitzt. Und einfach mal «’n Abend allerseits» zu sagen. ’n Abend allerseits. 4. Januar 1914 — Ein schwarzer Tag für die SPD: Wie soeben bekannt wurde, hängt Willy Brandt an der Flasche. Hören Sie dazu einen Kommentar von Ulrich Deppendorf vom Westdeutschen Rundfunk. 12. Januar 1914 — Sonne in Elberfeld, heftiger Regen jedoch im benachbarten Barmen. Und die Frage: Wie sollen die Barmener das überleben? Es gibt ja noch gar keine Jack-Wolfskin-Jacken! 11. Februar 1914 — Aus dem irischen Städtchen Athlone erreicht uns folgende Nachricht: Ein Bauernsohn hat das große Wettessen gewonnen, weit vor allen anderen. «Denen habe ich aber mal gezeigt», sagt er, als er in sein Dorf zurückkehrt, «was Hunger ist.» 17. Februar 1914 — Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 1914 beträgt übrigens 57 Stunden an sechs Werktagen. Boni werden dafür nicht ausgezahlt. 6. März 1914 — Och, gucken Sie mal: Da läuft ja Opa! Gerade acht Jahre alt, im Matrosenanzug, mit glockenheller Stimme. Welch ein fröhlicher Goldschopf! Aber sie werden ihn schon noch kaputt kriegen, mit zwei Kriegen, mit Hans Albers, den Durchhaltefilmen, der Angst, der Schuld, Gefangenschaft, Hunger, der Heimkehr, den fremden Kindern, die doch seine eigenen sind, mit der D-Mark, dem Wohlstand, Schweinebraten mit Soße, sehr viel Soße, mit Fritz Walter, den Albträumen, den Bildern vom Krieg, den Gedärmen, die seinen Freunden aus dem Leib quillen, immer wieder, jede Nacht, mit der Schrankwand, Gelsenkirchener Barock, dem Fotoalbum, in dem er auch nicht jünger wird, dem Stammtisch, der Gartenarbeit, Kuchenessen, mit Dieter Thomas Heck, Diabetes, mit dem Tod seiner Frau, die schon vorher nicht mehr unter den Lebenden war, der Einsamkeit, seinem 80. Geburtstag, der Demenz, der Inkontinenz, och, Opa, jetzt hast du ja wieder … sag doch was! Mit dem Ende schließlich – und mit dem noch am wenigsten. Es ist zum Heulen. Lauf, Opa! Lauf! Solang du jung bist. Folge der schwebenden Daune bis an den Rand des Dorfes. Lauf. 17. April 1914 — Der Philosophiestudent und Flugmotorenerfinder Ludwig Wittgenstein, 25 Jahre alt und seit dem Tod des Vaters im Vorjahr Erbe eines gewaltigen Vermögens, baut sich hoch über einem Fjord in Norwegen eine kleine Holzhütte, um endlich einmal in Ruhe nachdenken zu können. Wittgenstein müsste man sein! 30. April 1914 — Immer noch Regen in Barmen. Elberfeld: leicht bewölkt. 15. Mai 1914 — Wien. Mit weißen Samthandschuhen über eine Europakarte hinfahrend, erfinden der österreichische Kaiser Franz Joseph und der deutsche Kaiser Wilhelm, ohne es zu wissen, das Brettspiel «Risiko». «Willy», sagt Franz Joseph, «die Würfel sind gefallen. Geh, sei so gut und heb sie wieder auf.» 27. Mai 1914 — In Topcider, Belgrad, Parkidylle im Frühling, wechselt eine «9 mm FN Browning, Modell 1910»-Pistole, Seriennummer 19074, hergestellt von der Firma Fabrique Nationale in Belgien, unbemerkt ihren Besitzer. 11. Juni 1914 — Heute, liebe Leser, stehen die Zeichen auf Zeichen. 28. Juni 1914 — Kennen Sie den schon? Einem österreichischen Bauern erscheint eine Fee. Er habe drei Wünsche frei. Der Bauer ist überglücklich: «Ich will ein Prinz sein!» Ein heller Lichtblitz, und er steht da im vollen Ornat. «Ich will ein Schloss haben!» Ein heller Lichtblitz, und er findet sich in einem Prunksaal wieder. «Und ich möchte eine schöne Frau an meiner Seite haben!» Da fliegt die Tür auf, eine Prinzessin kommt herein und ruft: «Pack die Sachen, Franz Ferdinand, wir fahren nach Sarajevo!» 30. Juni 1914 — Was man nicht alles lernt im Leben! Heute: Österreich erklärt Serbien den Krieg. «Also: Krieg ist ein mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen Staaten.» Serbien versteht.

1. Juli 1914 — Manhattan. Der 15-jährige Al Capone, Sohn neapolitanischer Einwanderer, nimmt einen Ausbildungsplatz bei den «Forty Thieves Juniors» an und belegt bei seinem Lehrer Frankie Yale die Fächer Schutzgelderpressung, Wucherzinsberechnung und Brutalität. 2. Juli 1914 — An diesem schönen Julitag also trägt Österreich den Frieden zu Grabe. Er liegt in einem Kindersarg, war ja noch ganz klein, als er starb. 5. Juli 1914 — Peter Scholl-Latour wartet sehnsüchtig auf die Erfindung der politischen Talkshow. Auch er möchte endlich den Krieg erklären. 14. Juli 1914 — Ludwig Wittgenstein weist über einen Mittelsmann eine Spende über 100000 Kronen für «unbemittelte österreichische Künstler» an, von der unter anderem Georg Trakl, Rainer Maria Rilke, Oskar Kokoschka und Else Lasker-Schüler profitieren. Trakl, der unter Angstzuständen und Depressionen leidet, schreibt in seinem Dankesbrief an den unbekannten Spender von der wunderbaren Aussicht, «der eigenen Stille nun ungestört nachgehen zu können». 31. Juli 1914 — Wie Pfingstochsen geschmückt, rufen überall im Lande die Bürgermeister den jungen Männern, die in den Krieg ziehen, «Hurrrrrrrrrrrrrra! Hurrrrrrrrrrrrra!» hinterher. Oder sind sie tatsächlich Pfingstochsen? Niemand scheint sich das zu fragen. Und dann ist es auch schon zu spät. 1. August 1914 — Und ohnehin: Wenn es einen Buchstaben gibt, der an alldem eine Mitschuld trägt, dann ist es das R. Hurrrrrrrrrrrrra. Krrrrrrrrrrrrrrieg. Niederrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrringen. Wird es von den Deutschen gerollt, oder rollt es die Deutschen?

2. August 1914 — Franz Kafka schreibt in sein Tagebuch: «Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Nachmittags Schwimmschule.» 3. August 1914 — Jetzt kann er sogar dem eigenen Tod ungestört nachgehen: Georg Trakl wird als Militärapotheker ins Heer einberufen und an die galizische Front abkommandiert. 4. August 1914 — Zum Nachschlagen und Weiterführen: eine Liste von Freiwilligen der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg: Bernhard Adelung, Julius Andree, Carlo Curcio, Otto Dix, Franz Eichhorst, Franz Ernst, Hans am Ende, Walter Flex, Wilhelm Kuhr, Walter Göttsch, Karl Heintz, Paul Wilhelm Hermberg, Adolf Hitler, Adolf Hochgraefe, Ernst Jünger, Ernst Kirchner, Viktor Klemperer, Oskar Kokoschka, Heinrich Kraeger, Benno Kuhr, Hermann Kürz, Ernst Lissauer (untauglich), August Macke, Franz Marc, Ernst Maisel, Josef Mayr, Eugen Moufang, Franz Moufang, Nicola Moufang, Nino Oxilia, Gustav Radbruch, Joachim Ringelnatz, Ernst Steiner, Ernst Toller, Johannes Vogel, Joseph Wirth, Ludwig Wittgenstein. 10. August 1914 — Am Ende eines äußerst beschissenen Tages schreibt dieser Ludwig Wittgenstein in sein Tagebuch: «Als Rekrut eingekleidet worden. Wenig Hoffnung, meine Mathematik-Kenntnisse verwenden zu können. Brauche sehr viel gute Laune und Philosophie, um mich hier zurechtzufinden.» 15. August 1914 — Wie an jedem Tag seit Beginn der Bauarbeiten im Jahre 1906 sterben auch bei der Eröffnung des Panamakanals 1,9 Menschen. Einer von ihnen ist Statistiker. 31. August 1914 — Faszination Weltgeschehen. Hören wir einfach mal rein: Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg spricht nach der Schlacht von Tannenberg zu den Soldaten. «Ihr habt einen vernichtenden Sieg errungen», ruft er. Ein junger Soldat, der vom Lazarett aus zuhört, nickt zustimmend, dann erliegt er seiner Lungenruptur.

«In the nineteenth century the problem was that God is dead.
In the twentieth century the problem is that man is dead.»

— Erich Fromm

1. September 1914 — Betrübliche Nachrichten aus Amerika: Im Zoo von Cincinnati, Ohio, stirbt Marta, die letzte Wandertaube, und mit ihr das Wissen um den Sinn des Lebens: eine Wandertaube zu sein. 15. Oktober 1914 — Da er zum Dienst an der Waffe zu seinem eigenen Leidwesen nicht taugt, muss Ernst Lissauer, bald bekannt als der «deutscheste aller jüdischen Dichter», mit der Sprache kämpfen.

«Wir werden dich hassen mit langem Hass,
Wir werden nicht lassen von unserem Hass,
Hass zu Wasser und Hass zu Land,
Hass der Hämmer und Hass der Kronen,
Drosselnder Hass von 70 Millionen,
Sie lieben vereint, sie hassen vereint,
Sie haben alle nur einen Feind: England.»

— Ernst Lissauer

3. November 1914 — Für immer ungestört: Georg Trakl stirbt mit 27 Jahren in einem Militärkrankenhaus in Krakau an einer Überdosis Kokain. 6. November 1914 — Am Vorabend hatte der nun auch nach Krakau vorgestoßene Wittgenstein notiert, es sei nun schon zu spät, «Trakl heute noch zu besuchen», nun erfährt er im örtlichen Garnisonsspital, dass der Dichter, der um seinen Besuch gebeten hatte, tot ist. 11. November 1914 — Beim Versuch, sein Schaukelpferd zu erklimmen, fällt Willy Brandt (SPD) erstmals auf die Knie. Hören Sie dazu einen Kommentar von Ulrich Deppendorf vom Westdeutschen Rundfunk. 15. Dezember 1914 — Winterschlacht in den Karpaten. Macht der Krieg wirklich so viel Spaß, wie alle dachten? Der dünne Werner steht schon den ganzen Vormittag an der dicken Bertha und denkt an den Busen seiner Mutter, an dem er jetzt so gern weinen würde. 25. Dezember 1914 — Hier eine Liste von Dingen, die an Weihnachten 1914 von deutschen und englischen Soldaten zwischen den Fronten getauscht wurden: Zigaretten, Zigarren, Bier, Christmas Pudding, Uniformknöpfe, Gebäck, Fotografien, Profilbilder von Prinzessin Mary, Miniaturweihnachtsbäume, Schokolade, Schnaps, Kleidung. Und das Versprechen, dass es keinesfalls persönlich gemeint ist, wenn sie sich gegenseitig niedermetzeln, wie es nicht einmal Tiere tun würden.

 

3. Januar 1915 — Märchenstunde im Schützengraben: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sterben sie noch heute. 31. Januar 1915 — Ein englischer Jack-Russell-Terrier läuft auf der Jagd nach einer Ratte zu den Deutschen über und wird vom Gefreiten Adolf Hitler gefangen. Hitler beschließt, ihn zu behalten, und nennt ihn «Fuchsl». Der arme Hund: Diese Ratte, sie ist verdammt groß. 5. Februar 1915 — Ein Blick nach Amerika bzw. über «den Großen Teich», wie es im aktuellen Jargon heißt: Die American Traffic Signal Company stellt in Cleveland, Ohio, die erste elektrische Ampel auf. Noch am Abend desselben Tages erfindet ein nicht näher bekannter Autofahrer das Nasebohren beim Warten an einer elektrischen Ampel. 6. Februar 1915 — Apropos, ein Gedanke, der uns über Nacht kam: Sind es die Enkel derjenigen, die «Großer Teich» statt «Atlantik» sagen, die später einmal «Maschine» statt «Flugzeug» sagen werden? 18. Februar 1915 — Zurück nach Deutschland: Ihr Sohn Klaus, sagt Katia Mann zu ihren Freundinnen, die sie beim Einkaufen in der Lübecker Innenstadt trifft, vergesse mal wieder die Zeit. Tatsächlich aber ist es umgekehrt.

Und das sagt der Klaus-Mann-Experte zum letzten Eintrag:
«Der Text ist mir weder bekannt noch kann ich mir einen Reim auf ihn machen. Das Datum ist angeblich der 18. Februar 1915 – gleich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Weshalb sollte die Zeit damals Klaus Mann vergessen haben? Er war doch noch nicht einmal neun Jahre alt! Ich kann nur vermuten, dass es sich um eine Verwechslung und gar nicht um Klaus Mann handelt. Alles Liebe wünscht Dir in Eile, aber sehr herzlich – Dein Fred.»

23. Februar 1915 — Die Eiserne Ration eines deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg besteht aus 250 Gramm Zwieback, 150 Gramm Konservengemüse, 200 Gramm Dosenfleisch oder 170 Gramm Speck sowie jeweils 25 Gramm Kaffee und Salz. Und das Eiserne Kreuz 2. Klasse wiegt 15 Gramm. 2. März 1915 — Heute geht das Mittelalter ganz offiziell zu Ende: Als er bei einer Größe von 1,87 Metern ausgewachsen ist, beendet der letzte noch aktive Zwerg seine Karriere. Danke für die schöne Zeit, Kleiner. 13. März 1915 — Der junge Soldat hat sich seit Beginn des Krieges gefragt, ob sein Helm wirklich eine Gewehrkugel abhalten könnte. Seit heute Morgen, 11.03 Uhr, steht fest: Er kann nicht. 2. April 1915 — Charlie Chaplin verdingt sich als Werber für Kriegsanleihen. Er verspricht, alle kleinen Mädchen zu küssen, die eine Anleihe kaufen, und spielt so an nur einem Tag 92000 Dollar ein. Adolf Hitler verdient derweil als Gefreiter neun Mark pro Woche. 13. April 1915 — Wien. Sigmund Freud träumt von sich selbst als von sich selbst träumendem Menschen.

22. April 1915 — Gaskrieg an der Westfront. Der junge Soldat liegt seit zwei Tagen ohne Schlaf in einem Graben bei Ypern. Dann passiert etwas mit ihm, wovon er nicht wissen will, was es ist. Der Schlaf, endlich? Der Tod, schließlich? Morgen früh, so Gott will, wird er wieder geweckt. 11. August 1915 — Wie süß: In seinem Kämmerlein in Enger, Westfalen, sucht ein Fünfjähriger den lieben Gott. «Hier bin ich!», ruft Gott aus dem Wandschrank. «Hier!» Aber der Knirps will lieber weiter Verstecken spielen. 25. Dezember 1915 — Es muss ja doch etwas auf sich haben mit diesem Weihnachten, das den schönsten Krieg immer wieder stört: Für etwa dreißig Minuten treffen sich, wie schon im Vorjahr, deutsche und englische Soldaten zwischen den Schützengräben bei Laventie, rauchen, unterhalten sich und spielen mit einem Fußball, ehe die Engländer von ihren Kommandanten zurückbeordert werden. Wer keine Feinde mehr habe, so heißt es, der werde umgehend erschossen.

«But, however, looking back on it all, I wouldn’t have missed that unique and weird Christmas Day for anything.»

— Bruce Bairnsfather

12. Februar 1916 — Regen in Barmen. Ein Sechzehnjähriger erfindet daraufhin den Blues, ist aber zu traurig, um einer Menschenseele davon zu erzählen. 3. März 1916 — Wir sprechen nun mit unserem Korrespondenten Ernst Jandl. Ernst, wo erreichen wir Sie? «schtzngrmm» Hallo, Ernst? Hören Sie uns? «t-t-t-t» Ernst? «t-t-t-t» Tja, liebe Leser, da gibt es offenbar Probleme mit der Leitung, wir bitten Sie, dies zu entschuldigen. Zum Sport! 9. April 1916 — Da sehen wir Gott beim Pferderennen. Er setzt auf das Rote, es bläst schon Feuer aus den Nüstern. «Ganz sicheres Ding», sagt Gott, am Totalisator stehend, zum Teufel. Und der nickt wissend. Sie setzen beide alles. 15. April 1916 — In den Propaganda-Abteilungen der Kriegsgegner wird jetzt nur noch gesiegt. Einziges Todesopfer in den eigenen Reihen: die Wahrheit. 3. Mai 1916 — Diese armen Kerle im Stellungkrieg! Die können sich doch alle eingraben. 1. Juni 1916 — Seeschlacht am Skagerrak. Deutschland gegen England. Es geht unentschieden aus. Das Elfmeterschießen ist ja noch nicht erfunden worden. 1. Juli 1916 — New Jersey. Im kleinen Beach Haven wird der 25-jährige Charles Epting Vansant von einem Meerestier attackiert und stirbt. Experten sind sich uneins, ob es sich bei dem Angreifer um einen Thunfisch oder eine Meeresschildkröte handelt. Haie gelten als für Menschen ungefährlich. 6. Juli 1916 — New Jersey. Im Badeort Spring Lake wird der 28-jährige Charles Bruder von einem Meerestier attackiert und stirbt. Experten glauben, dass es sich bei dem Angreifer um einen Orca handelt. Dass ein Hai in der Lage sei, die Beine eines ausgewachsenen Menschen durch einen Biss abzutrennen, gilt als unwahrscheinlich. 11. Juli 1916 — Verdun. Als er schließlich weiß, dass er sterben muss, lächelt der junge Soldat noch einmal, er denkt daran, was sein Großvater zu sagen pflegte: «Das Leben ist wie eine Hühnerleiter: kurz und beschissen.» Das sagte er noch im hohen Alter, aber was seinen Enkel anbelangt, hatte er immerhin recht. 12. Juli 1916 — New Jersey. In einem Flusslauf nahe der Stadt Matawan werden der zwölfjährige Lester Stillwell, der 24-jährige Stanley Fisher und der 14-jährige Joseph Dunn von einem Meerestier attackiert. Nur Dunn überlebt. Er sagt aus, der Angreifer habe die Farbe eines alten Holzbrettes gehabt, das lange im Wasser gelegen habe. 14. Juli 1916 — New Jersey. Der Dompteur und Tierpräparator Michael Schleisser erlegt in der Raritan Bay einen Weißen Hai, in dessen Magen Fleisch und Knochen menschlichen Ursprungs gefunden werden.

«Diese Haie fraßen vermutlich in den Gewässern des deutschen Kriegsgebietes menschliche Kadaver und folgten Ozeankreuzern bis an diese Küste. Vielleicht folgten sie gar dem U-Boot ‹Deutschland› selbst in Erwartung des üblichen Zolls an ertrinkenden Männern, Frauen und Kindern. Das würde ihre Dreistigkeit und ihr Verlangen nach menschlichem Fleisch erklären.»

— aus einem Leserbrief in der «New York Times»

«Wir hatten bereits drei Vorfälle, zwei Tote davon innerhalb einer Woche. Und es wird wieder passieren, wir hatten das schon mal! Jersey 1916! Fünf Menschen am Strand gefressen!»

— aus «Der Weiße Hai» (1975)

5. August 1916 — Es wird immer beschissener. Heute schreibt Ludwig Wittgenstein in sein Tagebuch: «Kolossale Strapazen im letzten Monat. Habe viel über alles Mögliche nachgedacht. Kann aber merkwürdigerweise nicht die Verbindung mit meinen mathematischen Gedankengängen herstellen.» 20. Dezember 1916 — Verdun, der letzte Tag. All die Knochen! Wohin damit? Einmal wird hier ein riesiges Beinhaus stehen, da kann man sie dann besichtigen. Schulklassen kommen oft dienstags hierher. Die Jugendlichen saugen an ihren längst leeren Safttüten und glotzen durch die Scheiben. Knochen! Igitt! Sind die echt, Frau Schmidt-Heinemann? Es bleibt dann aber noch genug Zeit, um bis zur Abschlussdisco am Donnerstag die schrecklichen Bilder zu vergessen.

 

3. Februar 1917 — Paris. Indem sie sich aus den letzten Stoffresten ein Trauerkleid näht, erfindet eine französische Kriegerwitwe das kleine Schwarze. 2. März 1917 — Ist es überhaupt noch richtig zu sagen, die Menschen stürben wie die Fliegen? Oder sterben die Fliegen längst wie die Menschen? 13. März 1917 — Neues aus der Psychologie: Verrückt zu werden vor Angst – heutzutage ist das ganz normal. 9. April 1917 — Als der Zug, mit dem er aus seinem Schweizer Exil nach Russland zurückkehrt, durch Berlin rollt, staunt Wladimir Iljitsch Lenin, aus dem Fenster schauend, über die schiere Größe dieser Stadt: Da könnte man ja glatt zwei draus machen. 22. April 1917 — Bloody April. Die durchschnittliche Zeitspanne, die britische Piloten im Einsatz überleben, fällt in diesem Monat von 295 auf 92 Stunden. Die Zeit, die sie noch haben, sie vergeht wie im Flug. 23. April 1917 — Später werden die Briten ihm seinen berühmten Namen geben: der Rote Baron. Jetzt aber ist er nur der Wichser, der ihre Piloten vom Himmel schießt. Manfred von Richthofen, Mother Fokker. 3. Juni 1917 — Der 18-jährige Joseph Goebbels schreibt den besten Deutschaufsatz seiner Abiturklasse und darf bei der Entlassungsfeier die Abschiedsrede halten. Von Mitschülern wird er hinterher mit Goebbels verglichen. 13. Juli 1917 — Portugal. Den drei Hirtenkindern Lúcia dos Santos, Jacinta Marto und Francisco Marto erscheint nahe Fátima bereits zum dritten Mal die Jungfrau Maria und übermittelt ihnen die sogenannten «drei Geheimnisse», Menetekeln gleich. Erstens: Ein weiterer großer Krieg wird ausbrechen. Zweitens: Russland wird kommunistisch. Das dritte Geheimnis jedoch bleibt tatsächlich eines und somit lange Zeit geheim. Wie mag es wohl lauten? Wird die Welt gleich ganz untergehen? Werden Außerirdische kommen und die Menschheit unterjochen? Wird Erich Ribbeck Bundestrainer? Nicht auszudenken.

 

2. Januar 1918 — Hurra, der Acht-Stunden-Tag ist da! Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit beträgt nun 48 Stunden an sechs Werktagen. Gilt allerdings nicht an der Front. 7. März 1918 — Die deutschen Piloten haben ihre Flugzeuge bunt angestrichen, sie verzichten völlig auf Tarnfarbe. Sie fliegen Pirouetten, Loopings, waghalsige Manöver. Artisten unter dem Himmelszelt, ihr Krieg ist ein Kunststück. Sobald sie landen, werden ihre Maschinen auseinandergeschraubt und auf Lastwagen verladen, entlang der Front ziehen sie von Dorf zu Dorf. Manfred von Richthofen und sein Geschwader, die Briten nennen sie den «Flying Circus». «Zugabe!», brüllen sie nicht. 13. März 1918 — Was dieser Tage unter Jugendlichen ja als total uncool gilt: Mitleid. 10. April 1918 — Bei der vierten Schlacht um Ypern wird der Impressionist und Mitbegründer der Künstlerkolonie Worpswede, Hans am Ende, schwer verwundet. Statt der früheren farbenfrohen Landschaften hat er zuletzt in den Gefechtspausen nur noch düstere Schlachtfelder auf die Leinwand gebracht. 21. April 1918 — Nun fällt auch er aus allen Wolken: Manfred von Richthofen wird im Luftkampf über Frankreich von einer Kugel getroffen. Es gelingt ihm noch, sein Flugzeug nahe einer australischen Stellung zu landen. Die Soldaten, angelockt vom Ruhm Richthofens, sind enttäuscht: Als sie eintreffen, finden sie lediglich einen toten Baron. 9. Juli 1918 — Ganz am Ende: Hans am Ende (18641918) 10. August 1918 — In der Schlacht von Amiens fällt ein kaum 20-Jähriger als 17000000. Mensch diesem Krieg zum Opfer. Einen Blumenstrauß hat gerade niemand zur Hand. 1. Oktober 1918 — Charlie Chaplins Film «Gewehr über!» kommt in die Kinos. In einer Szene schleudert er als «Tramp» einen Limburger Käse als Stinkbombe in einen deutschen Schützengraben hinüber. Im selben Monat erblindet Adolf Hitler nach einem Senfgasangriff vorübergehend. 1. November 1918 — Kiel. Die Matrosen gehen an Land. Sie wollen die Monarchie flachlegen. 9. November 1918 — 14 Uhr: Philipp Scheidemann (SPD) ruft vom Westbalkon des Reichstages die Republik aus. 16 Uhr: Karl Liebknecht (Spartakusbund) ruft am Berliner Schloss, auf einem Lastwagen stehend, die freie sozialistische Republik aus. Und welchen Ort, liebe Leser im Wendland, würden Sie sich aussuchen, um eine Republik auszurufen? 11. November 1918 — Waffenstillstand, der Schrecken hat ein Ende. Doch schon haben die Macher das Drehbuch für eine Fortsetzung in der Schublade: Weltkrieg II. Auch er: ein echter Straßenfeger. 19. November 1918 — Sehen Sie nur, all die Soldaten! Sie laufen nach Hause. Nach Hause. Wie sollten sie jetzt, da sie so weit gelaufen sind, zugeben, dass sie nicht wissen, wo das eigentlich ist: zu Hause. «Zu Hause», flüstert schließlich einer in der unendlichen Reihe, «das ist da, wo sie das Totenkreuz schon in die Holztafel geschnitzt haben, nur unsere Namen fehlen noch.» 23. November 1918 — Während der Novemberrevolution schießen Deutsche auf Deutsche. Wird nicht wieder vorkommen. Oder? 24. November 1918 — Die Broken-Windows-Theorie ist noch nicht erfunden, wird aber bereits bewiesen: Heute schlagen die Rechtsextremen das erste Fenster ein. Der Rest ist dann nur noch Formsache. 28. November 1918 — Kaiser Wilhelm dankt ab. Die Hoffnung, den Thron doch noch einmal besteigen zu können, wird er nie aufgeben. Gut 67 Jahre danach, bei Opas 80. Geburtstag, singt der Jubilar nach dem Hauptgang plötzlich aus vollem Halse: «Wir woll’n unser’n alten Kaiser Wilhelm wiederham!» 3. Dezember 1918 — Das große Sterben ist vorüber, das kleine beginnt: In der Nähe von Wernigerode erstickt ein Sechsjähriger an einem Hühnerknochen. 23. Dezember 1918 — Helmut Schmidt (SPD) kommt mit einer Zigarette im Mund zur Welt. Nur er darf im Kreißsaal rauchen. 24. Dezember 1918 — An Heiligabend sitzt ein Ehepaar an einer ungeschmückten Zwergtanne und zittert. Sie, weil ihr kalt ist. Er, weil er nicht anders kann.

 

3. Januar 1919 — Ludwig Wittgenstein hat es am Ende des Kriegs aufgrund herausragender Leistungen, die den Eigenbau eines Mörsers umfassen, zum Leutnant gebracht. Nebenher hat er die «Logisch-philosophische Abhandlung», den späteren «Tractatus logico-philosophicus», beendet und ist der Meinung, damit alle philosophischen Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben. Was allerdings die Frage aufwirft, was er nun mit sich anfangen soll. Noch in Kriegsgefangenschaft beschließt er daher, Volksschullehrer zu werden und sein Vermögen an seine Geschwister zu verschenken. Wittgensteins Geschwister müsste man sein. 11. Januar 1919 — Karl Liebknecht (Spartakusbund) fällt in Berlin-Wilmersdorf eines der Flugblätter mit der Aufschrift «Tötet Liebknecht!» in die Hände, die hunderttausendfach in Umlauf sind. Stellen wir ihn uns vor, wie er schwer atmend dasteht, die Zeit, die ihm noch bleibt, in Stunden zählend: Ob er selbst darüber nachdenkt, dem Aufruf zu folgen? 15. Januar 1919 — Karl Liebknecht wird erschossen. Was von ihm bleiben wird dereinst, ist nicht zuletzt eine Straße in Berlin-Mitte, auf der aus viel zu schnellen schwarzen Mercedessen Ibiza-Fickmucke dröhnt. Gute Fahrt. 20. April 1919 — An seinem 30. Geburtstag denkt er ganz kurz an damals. Erinnerungen an Braunau. Ach! Eine Hitlerjugend. 11. Mai 1919 — In einem Berliner Badesee explodiert die erste Arschbombe der Geschichte. Für einen arglosen Stichling kommt jede Hilfe zu spät. 28. Juni 1919 — Heute wurden die Versailler Verträge unterzeichnet. Hören Sie dazu einen Kommentar von Ulrich Deppendorf vom Westdeutschen Rundfunk. 6. August 1919 — Friede sei Mittwoch. 21. November 1919 — Pssst, leise! Wir schleichen uns an: In einem Haus in Chicago, gut zehn Monate nachdem die Prohibition, das landesweite Verbot von Alkohol, in Kraft getreten ist, sitzen drei Männer beisammen in einem Raum. Und mit einem Mal ist die Möglichkeit, dass sie einander die Fresse einschlagen, von der Wirklichkeit nur noch wie durch ein Blatt Papier getrennt. 3. Dezember 1919 — Durch das Verbot wird Alkohol für viele nur umso attraktiver, selbst vormalige Abstinenzler greifen nun zur Flasche. Nicht auszudenken, wenn die Politik auf die Idee kommen würde, den Frieden zu verbieten! 15. Dezember 1919 — Al Capone gibt einen aus. Auf den Alkohol! Auf den Bandenkrieg!

«I am like any other man. All I do is supply a demand.»

— Al Capone

29. Januar 1920 — Der berüchtigte Bankräuber Gordon Fawcett Hamby nimmt im New Yorker Gefängnis Sing Sing seine Henkersmahlzeit ein: Rumpsteak mit Pilzen, Hummersalat, Erdbeeren und Mokka. Auf dem Weg zum elektrischen Stuhl sagt er lachend zu seinen Wärtern: «Wenigstens muss ich mir jetzt keine Gedanken mehr über Verdauungsstörungen machen.» Hahaha. Der war gut, Gordon. Du aber nicht. 15. Februar 1920 — Jetzt auch der erste Hitler-Vergleich der Geschichte: «Er erinnert mich ganz an seinen Onkel», sagt Adolf Hitler über seinen Neffen Heinz. 24. Februar 1920 — Spätestens jetzt, Adolf Hitler ist bei Punkt 5 des 25NSDAP200031920