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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2004

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Vignetten von Volker Fredrich

E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2014

 

ISBN 978-3-86274-090-1

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Alle Bewohner und Freunde des Hamburger Hafens, der Altstadt und der Speicherstadt bitte ich um Nachsicht, sollten sie Unstimmigkeiten in der Geografie dieser Geschichte entdecken. Mögliche Irrtümer im Detail ändern jedoch nichts an der Wahrheit des Erzählten insgesamt.

Personenverzeichnis

In der Menschenwelt:

Johannes, zwölf Jahre alt, lebt mit seiner Mutter und seinem Meerschweinchen Pollily in einer Wohnung in der Nähe des Hamburger Hafens.

Britta, seine Mutter. Sie macht gerade eine Ausbildung, kellnert abends, um Geld zu verdienen, und kann ziemlich energisch sein.

Line, Johannes’ beste Freundin seit der Kindergartenzeit.

Thomas, Lines Vater und alter Freund von Britta und Johannes, leider arbeitslos und ohne einen Cent.

Herr Idelung, ein neuer Nachbar, mit dem Britta sich schnell anfreundet.

Herr Pokaschinski, ein Nachbar, mit dem Britta sich wohl nie anfreunden wird – und vielleicht sogar ein Verbrecher.

Herr Kraidling, Englischlehrer, der Johannes ständig Schwierigkeiten macht.

Kevin, ein Neuntklässler aus Johannes’ Schule, der mit seiner Bande jüngere Schüler terrorisiert.

Patrick und Sascha, seine Kumpel.

Matewka, ein Gangster, der in der Hamburger Speicherstadt sein Unwesen treibt.

 

Im Land der Medlevinger:

Nis, begreift an seinem dreizehnten Geburtstag, dass sein Vater ein Geheimnis hat.

Vedur, sein Vater, Erfinder, wird von den Medlevingern seit langem für verrückt gehalten.

Munna, seine Mutter, greift erst spät, aber entschieden ein.

Moa, elf Jahre alt, Freundin von Nis, will keine L-Fee werden, obwohl es ihr so bestimmt ist.

Antak, der Hüter der Geschichte.

Thoril, sein Sohn.

Der König, ein leidenschaftlicher Gärtner und Freund Vedurs.

Die Königin, muss ihrem Mann ständig seine Krone nachtragen.

Retjak, Ailiss und Artabak, werden bewusstlos in der Nähe des Anbetehains gefunden und können sich an nichts erinnern.

Kain sagte zu seinem Bruder Abel:

»Komm und sieh dir einmal meine Felder an!«

Als sie aber draußen waren,

fiel er über seinen Bruder her und schlug ihn tot.

(Genesis 4, Vers 8)

1. Teil
Ankunft und Aufbruch

1

Im grauen Dunst eines Hamburger Frühlingsnachmittags bog der Möbelwagen im Schritttempo in die schmale Einbahnstraße ein und streifte fast einen Golf, den sein Besitzer unvorsichtig nah an der Ecke geparkt hatte.

»Mist, verdammter«, murmelte der Fahrer. »Und dann auch noch Kopfsteinpflaster! In der Großstadt! Warum kriegen immer wir solche Fuhren?«

»Mal ein richtig schöner Vorort, das wär’s«, sagte der Beifahrer und zündete sich eine Zigarette an. »Bungalow. Parken in der Auffahrt, keine Treppen.«

»Wievielter Stock ist es diesmal?«, fragte der Fahrer. »Fünfter?«

Der Beifahrer nahm seinen ersten Zug. »Nur zweiter«, sagte er. »Aber trotzdem hoch, siehst du doch, alles Altbau. Bestimmt wieder Holztreppen. Schmal. Ausgetreten.«

»Mist, verdammter«, sagte der Fahrer wieder. »Wenigstens hat der nicht so viel Kram. Der ist Single, sieht man doch gleich.«

»Aber der Schrank«, sagte der Beifahrer.

Der Fahrer seufzte. »Du sagst es«, sagte er. Er sah nach rechts, wo am Straßenrand dicht an dicht Autos parkten, und fuhr mit dem schweren Wagen so langsam, wie es gerade noch möglich war. Hinter ihm wurde gehupt. »Der hat keine Lücke für uns freigehalten, was ist das eigentlich für ein Idiot?«

»Musst du eben in der zweiten Reihe halten«, sagte der Beifahrer. »Na, das wird heute wieder mal einer von den ganz lustigen Tagen.«

»Du sagst es«, sagte der Fahrer.

Die Haustür öffnete sich und ein Mann in Jeans kam an den Wagen.

»Da sind Sie ja endlich«, sagte er unfreundlich.

Nis hockte auf der Lichtung im Gras und tunkte seinen Pinsel in die Farbe.

»Bitte, Vedur!«, sagte er. »Warum willst du das unbedingt machen? Das hast du doch vorher auch noch nie!«

Sein Vater lachte. »Aber jetzt will ich eben«, sagte er. »Jetzt krieg ich das hin mit der Strömekraft, Sohn. Ich hab den Durchmesser vom Windrad vergrößert, verstehst du, wir können so viel Strömekraft machen, wie wir wollen – na fast –, und jetzt kann ich endlich …«

»Die lachen sowieso alle über dich«, sagte Nis düster. »Und wenn wieder was schief geht …«

»Da geht nichts schief«, sagte Vedur. »Du bist doch ständig dabei, wenn ich den Sehkasten anschalte. Du weißt doch, dass es funktioniert.«

»Manchmal«, murmelte Nis und malte sorgfältig ein rotes »E« auf das raue bräunliche Papier.

»Nur weil ich nie wusste, wie ich die Strömekraft speichern muss«, sagte Vedur ungeduldig. »Dass wir auch welche haben, wenn grad kein Wind geht. Das ist jetzt geklärt. Keine Probleme mehr. Tolle Sache, diese Strömekraft. Tolle Erfindung von mir.«

»Aber du könntest es doch erst mal nur ein paar Leuten zeigen«, sagte Nis bittend. »Nicht gleich so – öffentlich. Zeig es dem König und seiner Frau, und hinterher trinkt ihr Tee. Nur mal so zum Beispiel.«

Vedur machte eine wegwerfende Bewegung und kam dabei mit dem Arm an den Pinsel. »Wie lange bin ich jetzt schon Erfinder?«, fragte er. Den leuchtend roten Punkt auf dem Ärmel schien er nicht einmal wahrzunehmen.

»Egal«, sagte Nis unfreundlich. »Einladung!« stand jetzt in schreiendem Rot auf seinem Plakat.

»Seit fast drei Jahren«, sagte Vedur. »Und ich habe den Wasserheißmacher erfunden und das Rühr-und-Quirl und natürlich den Sehkasten. Das Ding-für-Scheiben.«

»Aber das geht doch überhaupt nicht ohne die Scheiben!«, sagte Nis. »Und die schaffst du ja nicht zu erfinden!«

»Na, eine hab ich doch«, sagte Vedur zufrieden. »,Neunundneunzig Luftballons‹. Ein wunderschönes neues Lied. Und damit könnten wir unsere Zuschauer auch begrüßen, was meinst du? Und danach ein bisschen Sehkasten. Dann werden sie aufhören zu lachen, glaub mir, mein Sohn.«

»Mmmh«, murmelte Nis. »Welche Zeit soll ich draufschreiben?«

»Dämmerzeit«, sagte Vedur und rieb sich die Hände. »Dann können wir ihnen auch gleich die Tagmacher vorführen. Wie viele haben wir noch davon?«

»Zwei«, sagte Nis.

Vielleicht würde es doch nicht so fürchterlich werden. Die Tagmacher waren ungeheuerlich. Wenn man einen Schalter umlegte, leuchtete eine kleine Glaskugel so hell auf, als wären darin die Flammen von mindestens zehn Kerzen eingefangen. Natürlich nur, wenn Vedur es schaffte, Strömekraft zu machen.

»Bau doch noch ein paar dazu«, sagte Nis. »Dann könnten wir den ganzen Platz erleuchten. Das würde sie umhauen, Vedur. Dieses Rühr-und-Quirl ist ja vielleicht ganz lustig, aber wozu braucht man das? Aber die Tagmacher, du, die sind phänomenal!«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte Vedur träumerisch. »Nicht noch mehr Tagmacher. Zwei müssen uns für dieses Mal genügen, mein Sohn. Lieber sollen sie alles kennen lernen, was ich erfunden habe. Die ganze Vielfalt! Die Hin-und-her-Sprechmaschinen …«

»Die haben doch noch nie funktioniert«, sagte Nis böse. Zwischen den beiden »m« von »Dämmerstunde« war ein Farbklecks auf das Papier getropft, und als Nis versuchte, ihn mit einem Büschel Gras wegzuwischen, wurde es nur noch schlimmer. »Richtig funktioniert hat überhaupt nie was lange, Vedur! Warum willst du denn bloß, dass dich alle auslachen!«

»Und natürlich der Selberredner«, sagte Vedur. »Der läuft auch ohne Scheiben. Ja, ich glaube, wir können sie begeistern.«

Nis biss die Zähne zusammen. Er wusste, wann Vedur nicht mehr umzustimmen war. Er machte sich Sorgen um ihn, seit langem schon. Manchmal fragte er sich, was mit seinem Vater passiert war. Von einem Tag auf den anderen hatte er die Tafelkreide hingeworfen und angefangen, Dinge zu erfinden; sie sahen so wunderbar aus, dass Nis sich fragte, wie Vedur sie in seiner kleinen, schäbigen Werkstatt weitab vom Dorf hatte herstellen können. Leider funktionierten sie fast nie.

»Schreib zehn von denen!«, sagte Vedur und deutete auf das Plakat. »Aber möglichst ohne Klecks, mein Sohn. Und dann häng sie an all den Stellen auf, wo die Leute vorbeimüssen. Am Treffhaus, neben dem Anbetehain, vor der Waschhütte, an der Schule …«

»Nicht an der Schule!«, schrie Nis.

»Gerade an der Schule«, sagte Vedur bestimmt.

Dann beugte er sich plötzlich über seinen Sohn und drückte ihn ganz fest.

»Mach dir keine Sorgen, Nis«, sagte er mit der Stimme, die Nis noch von früher kannte, aus der Zeit, als Vedur noch Vedur der Lehrer gewesen war, ein Vater wie alle Väter; und nicht ein Spinner, ein Träumer, über den sie lachten; wenn auch – Freundlichkeit war schließlich oberstes Gebot bei den Medlevingern – hinter vorgehaltener Hand. »Und hab einfach Vertrauen zu mir. Es wird schon, Sohn. Sollst du mal sehen.«

Er richtete sich auf, und plötzlich war er wieder der verrückte Erfinder, für den ein Sohn sich schämen musste.

»Zehn Plakate!«, sagte Vedur. »Vielen Dank, mein Sohn. Ich kann dir leider nicht helfen, die Werkstatt ruft. Aber ich danke dir! Du wirst sehen, das wird unser großer Tag!« Und er verschwand mit wehendem Mantel zwischen den Buchen am Rande der Lichtung.

Nis schmiss den Pinsel in den Farbtopf. »Ich hasse das!«, murmelte er.

Lieber hätte er gesagt, ich hasse ihn, aber das wagte er noch nicht einmal zu denken.

 

»Ich fass es ja nicht!«, sagte Britta und knallte die Wohnungstür wieder zu. »Hast du die Idioten da draußen gesehen?«

»Was?«, rief Johannes. Er spülte in der Küche Pollilys Napf und holte das Körnerfutter aus der Speisekammer. Bald würde er wieder neues kaufen müssen. »Blöder Mist«, murmelte er. »Immer der Stress mit dem Schwein.«

»Johannes?«, rief Britta. »Komm mal und guck dir das an! Völlig zugeparkt! So ein Riesenmöbelwagen! Was glauben die eigentlich, wer sie sind? Da komm ich im Leben nicht mehr raus!«

Sie war in die Küche gekommen und rubbelte mit einem Handtuch ihr frisch gewaschenes Haar. »Wenn die noch da sind, wenn ich losmuss, dann setzt es aber was. Wetten, das sind die Leute, die oben bei Drägers einziehen?«

»Nicht bei Drägers«, sagte Johannes und halbierte eine Karotte. »Nur in ihre Wohnung.«

Britta seufzte und rubbelte weiter. »Die Armen«, sagte sie. »Aber ein bisschen verrückt waren sie am Ende schon, weißt du. Nur aus so einer idiotischen Angst gleich ins Altenheim zu ziehen. Ich hab immer gefunden, dass die noch ganz gut allein zurechtgekommen sind, eigentlich.«

»Klar«, sagte Johannes. Er hatte sich nie sehr viel mit Drägers unterhalten, aber Britta hatte sich zuletzt richtig gekümmert. Seit sie wieder zur Schule ging, interessierte sie sich für solche Dinge. »Machst du mir bitte mal die Tür auf, Mama?«

Britta nahm eine Hand von ihrem Kopf und öffnete die Tür zum Hof. »Bitte sehr, Chef«, sagte sie. »Ich glaub es ja nicht! Du kümmerst dich um deine Meersau?«

»Tu ich doch immer«, sagte Johannes und stieg die wenigen Stufen der Metalltreppe nach unten in den Hof. »Ich hab eben nicht so viel Zeit.«

Der Hof war nicht mehr als ein winziges Viereck, umgeben von fünfstöckigen Häusern und vor vielen Jahren der Grund gewesen, warum Britta sich für die Wohnung entschieden hatte.

»Ein eigener Garten, nur für uns allein!«, hatte sie zu Johannes gesagt und ihm durch die Haare gestrubbelt. »Da kannst du den ganzen Tag spielen, ohne dass wir Angst vor Autos haben müssen. Und deine Freunde kannst du auch mitbringen. Das ist nämlich unser, unser, unser Garten, mein Murkel-Johannes, und was wir da machen, geht keinen was an.«

Ganz so war es dann aber doch nicht gewesen, das hatten sie schnell gemerkt. Die Küchenbalkons der Nachbarn zeigten alle zum Hof, und als es Sommer geworden war, hatte es immer wieder Beschwerden gegeben, wenn Johannes und seine Freunde beim Spielen ein bisschen zu viel Krach gemacht hatten. »Das hallt doch auf so engem Raum!«, hatten die Mieter aus dem dritten Stock gesagt, und einmal hatten Britta und Johannes in ihrem Briefkasten sogar eine Unterschriftenliste gegen das Spielen und Lärmen der Kinder im Hof gefunden. Und Herr Pokaschinski aus dem ersten Stock, der aussah, als wohne er schon im Haus, seit es gebaut worden war, und arbeite auch schon seit damals an seinem Bierbauch, stand eines Tages sogar vor ihrer Wohnungstür und erklärte, der Innenhof gehöre allen Mietern.

»Allen!«, sagte er, und dabei vermischte sich der Geruch nach Alkohol, der ihn dauernd umwehte, mit dem Tabakdunst seiner Kleidung. »Nur weil du die Treppe nach draußen hast, Mädchen …«

»Nun ist es gut, ja?«, hatte Britta wütend gesagt. »Sonst duze ich dich mal zurück, Onkel!«

Aber hinterher hatte sie Johannes erklärt, dass Herr Pokaschinski wahrscheinlich noch nicht einmal Unrecht hatte. Schließlich konnte jeder Hausbewohner durch den Keller in den Hof gelangen. Es hatte sich eben einfach so eingebürgert, dass die Erdgeschossmieter den Hof pflegten und als ihren Garten betrachteten.

Nur die alten Drägers hatten sich nie beklagt. Sie saßen bei fast jedem Wetter auf ihrem kleinen Balkon, und sobald Johannes auftauchte, warfen sie ihm Bonbons nach unten oder einen Schokoriegel oder ein Zwanzig-Cent-Stück, in Zeitungspapier gewickelt. Nicht mal wenn Britta an langen lauen Sommerabenden ihre Freunde zu einer kleinen fröhlichen Party in den Hof einlud, hatten sie sich beschwert.

»Lasst doch die Jugend das Leben genießen!«, hatten sie gesagt und Brittas Freunden von oben zugeprostet, und Britta hatte geflüstert, dass in ihren Gläsern bestimmt Kamillentee war.

Und nun waren Drägers ausgezogen, und was für Leute von jetzt an auf ihrem Balkon sitzen würden, musste sich erst noch zeigen.

»Komm, Pollily!«, sagte Johannes und stieg über den niedrigen Drahtzaun in den Auslauf. »Futter für dich!«

Britta war ihm gefolgt und zupfte an den Blättern eines Riesenbambus. Drei Töpfe davon hatte sie im Hof stehen, und es war eigentlich ein Wunder, sagte sie, dass diese südlichen Sonnenpflanzen in ihrem schattigen Innenhof gediehen, als wären sie dafür gemacht.

Das winzige Stück Rasen, das sie gleich nach dem Einzug für Johannes ausgesät hatte, kümmerte noch immer in leblosem Wintergrün; aber die beiden zerrupften Rosensträucher ließen an kahlen Zweigen ihre allerersten Knospen sehen.

»Nein!«, schrie Britta. »Hast du das Tier vorhin etwa frei laufen lassen?«

Johannes stellte den Napf auf den Boden des Auslaufs. »Komm, Pollily, komm!«, sagte er und hielt dem Meerschwein eine Karotte hin. Pollily schnupperte.

»Heute noch nicht«, sagte er dann. »Da muss ich ja immer aufpassen, so viel Zeit hab ich schließlich auch nicht! Sonntag war sie zuletzt draußen.«

»Dann hat sie das hier am Sonntag gemacht!«, sagte Britta wütend und kniete sich vor den Rosen ins feuchte Gras. »Guck dir das an!«

Johannes legte die Karotte vor Pollily auf den Boden und ging zu seiner Mutter. Zwischen den kahlen Sträuchern war die schwarze Erde aufgewühlt. Ein Erdhaufen, fast kniehoch, verdeckte beinahe ein großes Loch im Boden.

»Meine Rosen, Mensch!«, sagte Britta. »Begreifst du denn nicht, dass die das nicht aushalten! Ich hab dir immer wieder gesagt, lass das Vieh laufen, okay, Tiere wollen auch leben und so weiter, aber pass auf meine Rosen auf! Wer weiß, was da jetzt mit den Wurzeln los ist! Die hat sie doch jede Wette einfach durchgeknabbert, wenn sie ihr im Wege waren, wo sie schon mal am Buddeln war!«

Johannes schüttelte den Kopf. »Das war sie nicht«, sagte er. »Echt jetzt, Mama. Meerschweinchen graben keine Gänge.«

»Ach nein, tun sie das nicht?«, fragte Britta und schaufelte die Erde mit bloßen Händen zurück in das Loch. »Dann bilde ich mir das hier wohl nur ein, oder wie?«

»Nee, das behaupte ich doch gar nicht!«, sagte Johannes. »Da ist das Loch schon, das seh ich ja auch. Aber das muss ja nicht Pollily gewesen sein.«

Britta schnaubte und stand auf. »Muss sie nicht?«, fragte sie. »Und wer ist das denn dann deiner Meinung nach gewesen, wenn ich fragen darf? Die Leute aus dem Fünften mit einem extra angeschafften Plastikspaten? Oder Drägers, noch kurz bevor sie ausgezogen sind? Ist der Postbote nachts heimlich durch den Keller in den Hof geschlichen, um im Sand zu spielen? Was?«

»Wühlmäuse?«, fragte Johannes vorsichtig. Er wusste, dass er jetzt aufpassen musste.

»Wühlmäuse!«, sagte Britta und tippte sich an die Stirn. »Ich behaupte ja wirklich nicht, dass ich in der Schule früher in Bio immer ganz wunderbar aufgepasst habe, aber so viel weiß ich doch, dass Wühlmäuse ziemlich winzige Tiere sind und dieses Loch ziemlich groß! Oder irre ich mich?«

Johannes schüttelte den Kopf. »Nee«, sagte er.

»Das Tier kommt nicht mehr raus aus dem Auslauf!«, sagte Britta. »Zu meinen Lebzeiten nicht mehr! Ich stress mich doch da nicht ab mit meinen Rosen und zupfe Unkraut und hol mir vom Land Pferdeäpfel als Dünger …«

»Maulwürfe?«, schlug Johannes vor. »Guck mal, Mama, das würde doch genau hinkommen! Wir haben einen Maulwurf im Hof!«

Britta klopfte sich die Knie ab. »Mitten in der Stadt«, sagte sie. »Na klar doch. Drum rum nur Asphalt und Kopfsteinpflaster und Gehwegplatten, unten der Fluss, aber wir haben einen Maulwurf. Von wo soll der sich denn wohl unterirdisch hierher gebuddelt haben, erklärst du mir das mal? Aus der Lüneburger Heide?«

Johannes guckte auf den Boden. Es hatte keinen Sinn, Britta würde sich nicht überzeugen lassen. Und dabei musste es ein Maulwurf sein. Pollily hatte noch nie gegraben, in ihrem ganzen Meerschweinleben nicht.

»Wenn ich das Tier noch einmal frei rumlaufen sehe, kommt es weg«, sagte Britta. »Hast du mich verstanden, mein Sohn? Tierheim für Pollily, so Leid es mir tut. Du hast es in der Hand.« Sie fuhr sich mit zwei Fingern unter das Handtuch auf dem Kopf. »Na bitte, trocken. Ich fahr jetzt los. Und iss vernünftig Abendbrot. Und lern deine Vokabeln. Du siehst ja an deiner Mutter, was für ein Mist es ist, wenn man den ganzen Kram erst als Halbgreis nachholen muss.«

Johannes nickte. »Die Hälfte kann ich schon«, sagte er.

Britta strubbelte ihm durchs Haar. »Weißt du was, Sohn? Ich begreif ja sowieso nicht, wie ich an so ein schlaues Kind gekommen bin.«

»Tschüs, Mama«, sagte Johannes.

In der milden Frühlingssonne war die Farbe auf dem Papier schnell getrocknet. Nis legte die Blätter übereinander und rollte sie zusammen. Dann straffte er die Schultern und atmete tief ein.

Natürlich hätte er auch einfach nein sagen können. Den Pinsel hinknallen und Vedur allein lassen mit seinen Plakaten. Niemand hätte ihn hindern können.

Aber er wusste genau, was dann passiert wäre. Vedur hätte sich selbst an die Arbeit gemacht, wäre durch den Ort gelaufen, hätte hier ein Plakat angebracht und da und dabei die ganze Zeit schwadroniert, aufgeregt jeden angesprochen, von seiner Erfindung erzählt, der größten, seit die Medlevinger im Land lebten, hätte nicht gemerkt, wie sie hinter ihrer Freundlichkeit über ihn lächelten, wenn auch vielleicht voller Kummer; denn früher einmal hatten sie alle Vedur geschätzt, war seine Stimme gehört worden im Land, und jeder wünschte, es könnte wieder so sein. Jedenfalls fast jeder, dachte Nis.

Nein, es war besser, wenn Vedur so lange wie möglich in seiner Werkstatt am Wald blieb. Nis würde die Plakate aufhängen, würde ein wenig mitlachen, wenn die anderen lachten, aber nicht zu sehr, nur gerade so viel, dass sie begriffen: Auch er fand diese Vorführung sonderbar und liebte Vedur doch trotzdem. Ein paar Plakate würde er zerreißen und hinter dem Dorf im See versenken. Nachzählen würde Vedur nicht.

Das erste am Anbetehain, dachte Nis. Da ist nie so viel los, wer geht da schon hin, nicht an einem Wochentag.

Aber als er zu den beiden schmalen, hohen Felssäulen kam, die das Tor bildeten, schlüpfte eine kleine Gestalt hinter den heiligen Zypressen hervor und lief ihm entgegen. Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte sie an ihm vorbeirennen, so tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt, und Nis wollte schon erleichtert aufatmen, da blickte sie doch noch auf.

»Na?«, sagte Moa angriffslustig. »Was machst du denn hier?«

Nis sah auf sie hinunter. Sie war nur zwei Jahre jünger als er, elf, aber immer noch wirkte sie, als wäre sie sieben. Acht höchstens. Schwer vorzustellen, dass sie einmal eine vernünftige L-Fee werden würde. Wenn Nis an deren feierlich schwebenden Gang auf dem Weg durchs Dorf dachte, an ihre königliche Haltung, ihre warmen vollen Stimmen im Anbetehain, dann zweifelte er manchmal daran, dass Moa eine echte Chance hatte.

»Geht dich gar nichts an, Moa-Belle, Knochengestell«, sagte er.

»Das sagst du nicht noch mal zu mir!«, sagte Moa wütend und warf ihren Kopf zurück »Das ist hier der Anbetehain. Falls du das vergessen hast.«

Und ihre Haare, dachte Nis. Die sind auch viel zu strubbelig. Ihre Knie will ich mir lieber gar nicht angucken. Bei der ist irgendwas schief gelaufen. L-Fee, nee wirklich.

»Alles bestens«, sagte er. »Ich bring hier nur ein Plakat an. Das ist ja wohl erlaubt.«

Moa guckte misstrauisch. »Was steht drauf?«, fragte sie.

Nis rollte das oberste Plakat aus und befestigte es am Felsen.

»Mein Vater führt seine Erfindungen vor«, sagte er, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Morgen. In der Dämmerstunde. Kann jeder kommen.«

Moa trat einen Schritt näher und las. »Da lachen sich wieder alle tot«, sagte sie. »Richte ihm das mal von mir aus. Absolut alle.«

Nis zuckte zusammen. »Nicht, wenn die Sachen funktionieren«, sagte er unsicher.

Moa tippte sich an die Stirn. »Ja, wenn«, sagte sie. »Wenn Schweine fliegen könnten, wären sie Schmetterlinge.«

Nis hatte keine Lust, über Schweine und Schmetterlinge zu reden. Über seinen Vater auch nicht. »Ich könnte dich schließlich auch fragen, was du hier machst«, sagte er. »Mitten im Hain. Sogar bei den Zypressen. Das wäre doch auch mal interessant.«

Er sah genau, dass Moa unruhig wurde, aber dann reckte sie sich, als versuchte sie zu wachsen. »Immerhin werde ich einmal eine L-Fee. Und dies hier ist mein künftiger Arbeitsplatz! Ich mache mich vertraut, so ist das. Ich mache mich mit meinem künftigen Arbeitsplatz vertraut.« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Aber rumerzählen musst du das trotzdem nicht überall!«, sagte sie. »Also vor allem meiner Mutter nicht.«

Nis hatte die Plakate wieder aufgerollt und ging langsam auf das Dorf zu. »Warum denn das nicht?«, fragte er.

»Weil!«, sagte Moa. »Weil, irgendwie – sie hat Angst, wenn ich so weit weggehe. Allein. Es ist schließlich einsam hier. Ziemlich einsam.«

»Quatsch!«, sagte Nis verblüfft. Niemand im Land hatte Angst, nicht vor solchen Dingen. Ja, sicher, früher, ganz früher hatte es einmal Zeiten gegeben, in denen man sich sorgen musste, wenn die Kinder zu lange von zu Hause fort waren; Zeiten, in denen die Leute sich Dinge antaten, die man sich heute nicht einmal mehr vorstellen konnte. Aber das war doch lange vorbei! Das gehörte zu den Geschichten, die ältere Geschwister mit düsterer Stimme den Kleinen erzählten, wenn sie in der Dämmerstunde vor ihren Häusern auf dem sandigen Boden hockten und hofften, dass ihre Mütter sie vergessen hatten und sie noch lange, lange nicht hereingerufen würden, damit sie Abendbrot aßen und schlafen gingen.

Niemand konnte sagen, woher diese Gerüchte kamen; und Nis wusste nicht einmal, ob sie nicht vielleicht von den Ganz Alten Zeiten handelten, als die Medlevinger noch nicht einmal im Land gelebt hatten. Wenn sie denn überhaupt stimmten und nicht nur Sagen waren wie die Geschichten von Drachen und Hexen, von Zauberern und Riesen, von denen schließlich auch jeder wusste, dass sie ganz einfach erfunden waren.

»Quatsch!«, sagte Nis noch einmal.

»Und Retjak? Und Ailiss?«, sagte Moa trotzig. »Und Artabak?«

Nis zuckte die Achseln. Es stimmte, im letzten Herbst waren die drei außerhalb des Dorfes, nicht weit vom Anbetehain, gefunden worden. Dort hatten sie gelegen, wie in einem tiefen Schlaf, und erwachten später ohne Erinnerung daran, was vorgefallen war. Sie waren auf dem Weg zu ihren Äckern gewesen, zum Palast oder zum Anbetehain, das war alles, woran sie sich nach dem Aufwachen erinnern konnten.

Keiner von ihnen war verletzt gewesen und die Denker der Medlevinger, die Weisen, auch die L-Feen, hatten den Fall untersucht und waren zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine ärgerliche, aber nicht weiter gefährliche Vergiftung handeln müsse, wodurch, würde man sicher noch feststellen.

Und dann war es ja auch nicht mehr passiert.

»Die hatten irgendwelche Herbstfrüchte gegessen«, sagte Nis. »Pflaumen, was weiß ich. Jetzt haben wir Frühling.«

»Und wenn nicht? Wenn es keine Früchte waren?«, fragte Moa. »Meine Mutter findet jedenfalls …«

»Außerdem waren die alle erwachsen«, sagte Nis. »Und du bist nur ein kleiner Furz, Moa-Belle.«

Moa warf ihm einen kurzen Blick zu. Sie sah aus, als kämpfte sie mit sich. »Sagst du es nicht weiter?«, flüsterte sie.

Nis schüttelte den Kopf.

»Schwör!«, sagte Moa und winkte ihn mit einer Kopfbewegung vom Weg zwischen die Bäume. »Bei deinem Leben!«

Nis zog die Plakate unter dem rechten Arm hervor und klemmte sie unter den linken. Dann hob er die rechte Hand. »Ich schwöre«, sagte er. »Bei meinem Leben.«

Moa nickte beruhigt. Dann ließ sie sich auf den federnden Teppich aus trockenem Laub fallen. »Ich hab so Angst!«, flüsterte sie. »Ich will das nicht! Ich glaub nicht, dass ich das kann! Wieso muss ausgerechnet ich eine L-Fee werden?«

Nis guckte sie verblüfft an. »Weil du dazu geboren bist«, sagte er. »Weil in deiner Familie alle erstgeborenen Töchter L-Feen werden, da kann man nichts machen. Schließlich ist es eine Gabe. Jemand anders kann es nicht, also musst du.«

»Und wenn ich es auch nicht kann?«, sagte Moa und starrte ihn an. »Wenn ich es einfach nicht kann

»Klar kannst du das!«, sagte Nis und versuchte, überzeugt zu klingen. »Du bist erstgeboren. Du bist ein Mädchen. Du heißt Belle. Und in deiner Familie …«

»Und wenn ich das vielleicht nicht will?«, schrie Moa. »Wieso wird so was Wichtiges gleich bei meiner Geburt festgelegt? Wieso kann ich mir nicht aussuchen, was ich werden will? Jeder normale Medlevinger kann das, wieso muss ausgerechnet ich so eine blöde L-Fee werden und schweben und goldene Locken haben und säuseln und immerzu heilig lächeln? Würdest du das wollen? Das ist doch peinlich!«

Nis starrte sie an. Er überlegte, ob er die L-Feen jemals peinlich gefunden hatte. Seinen Vater, den ja, und dafür schämte er sich. Aber L-Feen waren, wie sie sein mussten. Er hatte niemals gehört, dass irgendwer sie merkwürdig fand.

»Peinlich ist was anderes«, sagte er. »Also das – mit meinem Vater, zum Beispiel, da denk ich schon manchmal – aber der kann ja nichts dafür.«

»Nee, aber ich auch nicht!«, rief Moa. »Und ich hab mir das nicht ausgesucht mit dieser idiotischen Arbeit! Kannst du dir vorstellen, wie ich aussehe, wenn ich säusele und schwebe? Kannst du dir vorstellen, dass sich irgendwer vor mir verneigt? Hast du Ehrfurcht vor mir, wie es das Gesetz den L-Feen gegenüber gebietet? Wirklich!« Und sie hob ein paar braune Blätter vom Boden und schmiss sie mit einer wütenden Bewegung in die Luft.

»Das kommt schon noch«, sagte Nis unsicher. »Du hast ja noch Zeit. Wenn du erst mal deine Fibel hast zu deinem Wort – dann kommt das schon noch alles, bestimmt.«

»Peinlich«, murmelte Moa und zerbröselte Blatt um Blatt. »So was von peinlich

Nis war still. Er wunderte sich, dass er niemals darüber nachgedacht hatte. Natürlich hatte Moa Recht. Warum war ihr vom ersten Tag an vorherbestimmt, was sie werden würde? Auch wenn natürlich die L-Feen höher geachtet wurden als jeder andere im Land, der König vielleicht ausgenommen. Aber wenn sie nun vielleicht etwas ganz anderes tun wollte? Bäckerin werden oder Müllerin, Tischlerin oder Bäuerin? So eine Gabe war ja schön und gut, aber wenn man sie vielleicht gar nicht wollte? Mitbestimmen wenigstens sollte man auch als L-Fee wohl noch dürfen.

Ich jedenfalls hätte das auch nicht gewollt, dachte Nis verblüfft. Nein danke. Obwohl es natürlich schon toll ist, wenn man das Korn wachsen lassen kann und die Erdbeeren und für die Erwachsenen Hopfen und Wein. Und langweilige Kartoffeln. Oder mit den Tieren reden. Und es muss auch ziemlich gut sein, wenn man weiß, man braucht nur das Wort zu sagen, und schon sprießt alles wie verrückt und alle haben zu essen und zu trinken und niemand ist da, der hungern muss.

Nicht, dass Nis sich so etwas hätte vorstellen können: Hunger. In den Geschichten aus den Ganz Alten Zeiten, in denen Wesen vorkamen, die sich »Menschen« nannten (das Wort schon allein!) und die, wenn er es richtig verstanden hatte, etwas Ähnliches sein sollten wie klein geratene Riesen ohne Zauberkraft, war oft von Hungersnöten die Rede. Aber das waren natürlich Märchen, jeder wusste, dass es so nicht gewesen sein konnte, und nicht nur, weil derartige Wesen ja vollkommen undenkbar waren. Wozu hätten sie schließlich gut sein sollen? Die Sagen von den Menschen waren die düstersten von allen, weil es in ihnen immer nur um Trauriges ging, um Hunger und Krieg, Krankheit und Betrug; um Elend und Verzweiflung, Verrat und Kampf, und niemals um Zauberei oder Wunder. Darum wurden sie auch so selten erzählt, bald würden sie ganz in Vergessenheit geraten sein. Und warum auch nicht, dachte Nis. Die Märchen von Riesen und Zauberern waren viel spannender.

»Nis?«, sagte Moa. »Du hast gar nicht zugehört.«

Nis schreckte auf. »Hab ich wohl«, sagte er. »Ich hab nur nachgedacht. Und ich finde, du solltest nicht so undankbar sein. Es ist schon eine tolle Gabe, wenn man die Pflanzen wachsen lassen kann. Nützlich.«

»Meinetwegen kann das gern jemand anders machen!«, sagte Moa trotzig. »Denk doch bloß an die weißen Gewänder!«

Nis nickte. »Du kannst es aber nun mal nicht ändern«, sagte er. »Weil du damit geboren bist und Schluss. Du könntest nur vielleicht einfach später nicht schweben, wenn du das so peinlich findest. Und keine weißen Gewänder tragen. So irgendwie.«

Moa schnaubte. »Glaubst du!«, sagte sie böse.

Nis klopfte sich die Hände an seiner Jacke ab. »Ich muss die Plakate aufhängen«, sagte er. »Mach dir mal keine Gedanken, Moa. Das wird schon alles.«

Moa guckte auf den Boden. »Klar«, murmelte sie.

Nis war schon fast wieder auf dem Weg, als es ihm einfiel. »Moa?«, rief er. »Aber dann begreif ich erst recht nicht, warum du hierher gehst. Wenn es dich vor der Feensache doch so grault! Vergiss den Hain doch einfach. Jedenfalls, solange du da noch nicht arbeiten musst.«

Moa sah nicht hoch. »Klar«, murmelte sie wieder.

 

»Nee, nun reicht es aber!«, sagte Britta. Vor der Haustür, haargenau so, dass sie mit ihrem kleinen, verbeulten Auto nicht den Hauch einer Chance hatte, aus der Parklücke zu fahren, stand immer noch der Möbelwagen. »Hast du so was schon mal erlebt? So eine Rücksichtslosigkeit!«

»Irgendwo müssen sie die Möbel ja ausladen«, sagte Johannes bittend. Er stellte sich vor, wie Britta nach draußen stürmte und sich beschwerte. Danach würden ihnen die neuen Mieter in Drägers Wohnung bestimmt nicht vom Balkon aus zuprosten.

»Ich muss fahren!«, sagte Britta wütend und schnappte sich ihre Jacke vom Garderobenhaken. »Wenn ich zu spät komme, bin ich den Job los! Du hast wohl keine Ahnung, wie viele Leute gern kellnern wollen! Glaubst du, ich will mir wieder eine neue Arbeit suchen? Und das schöne Trinkgeld?«

»Aber sei freundlich, Mama!«, sagte Johannes beschwörend. »Bitte!«

Britta seufzte. »Freundlich zu Idioten sein«, sagte sie, aber sie klang jetzt, als ob sie es doch zumindest versuchen würde. »Das muss ich bei meiner Arbeit sowieso schon immer den ganzen Abend.«

Sie öffnete die Wohnungstür. Durch das Treppenhaus zog eine kalte Brise, die Haustür stand offen. Von draußen hörte man Schritte, und gleichzeitig sagte eine aufgeregte Stimme: »Aber vorsichtig, ich beschwöre Sie! Das ist ein Erbstück!«

Der erste der beiden Möbelpacker erschien rückwärts in der Haustür. »Den kriegen wir nicht durch!«, schnaufte er. »Sehen Sie doch! Der muss auseinander!«

Die Stimme von der Straße klang jetzt fast hysterisch. »Nein, bitte warten Sie!«, rief sie. »Das ist eine Antiquität, Sie haben vielleicht keine Vorstellung, was so ein belgischer Schrank wert ist! Das ist ein Erbstück!«

»Belgischer Schrank!«, sagte Britta und tippte sich an die Stirn.

»Wenn Sie ihn bitte einfach noch ein wenig mehr kippen!«, rief die Stimme. »Ja, so, vielen Dank, sehen Sie, es hat doch funktioniert! Wenn Sie jetzt nur noch …«

»Da hat sich drinnen schon was gelöst«, sagte der Packer und versuchte, in gebeugter Haltung das Kopfteil des Schranks durch die schmale Haustür zu manövrieren. »Nicht dass es nachher heißt, wir hätten den Schaden auf dem Gewissen! Wir könnten ihn immer noch …«

»Danke schön!«, rief die Stimme von draußen. »Ich habe gewusst, Sie finden eine Lösung!«

»Sie finden eine Lösung!«, flüsterte Britta und rollte mit den Augen. »Wunderbar! Belgischer Schrank!«

»Sei freundlich!«, flüsterte Johannes.

Der schwere Schrank schwankte rumpelnd zwischen den beiden Trägern an ihnen vorbei und die Treppe hoch.

»Vorsichtig in der Kurve, bitte!«, rief wieder die Stimme, und jetzt tauchte auch der Mann selbst in der Haustür auf.

Na prächtig, dachte Johannes. Die netten alten Drägers sind weg und dieser Idiot zieht ein. Das sieht man doch auf den ersten Blick, was das für einer ist. Jede Wette Cabrio. Und wenn die Jeans nicht eine ganz teure Marke sind, übe ich jeden Tag freiwillig eine Stunde Englisch. Wieso zieht so einer überhaupt hier ein? Der beschwert sich doch sofort, wenn wir das erste Mal im Hof frühstücken. Den stört wahrscheinlich sogar Pollily.

An Brittas Gesicht konnte er sehen, dass sie ungefähr dasselbe dachte.

»Ich möchte ja nicht stören, wo Sie grade so beschäftigt sind«, sagte sie und Johannes hoffte, dass der Mann nicht gleich begriff, wie das gemeint war. Schließlich kannte er Britta noch nicht. »Aber wäre es denkbar, dass Sie Ihren Möbelwagen ein kleines Stück zur Seite bewegen? Ich weiß, es war dumm von mir, aber ich hab mein Auto dahinter geparkt, und nun komme ich nicht raus.«

»Mama!«, flüsterte Johannes und zupfte sie am Ärmel.

»Sie wissen ja, Frauen und Einparken!«, sagte Britta und eine Sekunde lang lächelte sie charmant. »Da ist mir leider dieser kleine Fehler unterlaufen«, und jetzt starrte sie dem Mann, der verwirrt auf dem Absatz vor ihrer Tür stehen geblieben war, direkt in die Augen.

»Nein, da müssen Sie doch nicht«, murmelte er. »Nein, das ist natürlich eigentlich unsere Schuld! Entschuldigen Sie sich nicht! Ich war ja selbst verärgert, dass die Packer den Wagen in der zweiten Reihe abgestellt haben.«

»Ach«, sagte Britta.

»Aber ich sorge dafür, dass sie sofort Platz machen!«, sagte der Mann, während er gleichzeitig auf die Geräusche horchte, die von oben aus dem Treppenhaus kamen. »Entschuldigen Sie, ich muss nur zuerst – das ist ein wertvolles Stück, verstehen Sie …«

»Belgisch«, sagte Britta und nickte ernsthaft. »Seh ich auf den ersten Blick.«

Der Mann stutzte. »Sofort!«, sagte er und sprang die Treppe hoch.

Britta rollte mit den Augen. »Na herzlichen Dank«, sagte sie. »Jetzt wohnen hier schon sonst nur lauter Luschen und dann auch noch der. Das sollten wir feiern.«

»Belgisch!«, sagte Johannes auch. »Wusstest du, dass es so was gibt?«

Aber auf der Treppe über ihnen tauchte schon wieder der Mann auf, gefolgt von den beiden schwer atmenden Möbelpackern.

»Die Herren bewegen jetzt den Wagen«, sagte er und lächelte Britta an. »Sie interessieren sich also auch für Antiquitäten?«

»Immer«, sagte Britta und schnappte sich ihr Schlüsselbund. »Jetzt soll’s also losgehen, ja? Dann komm ich mal. Johannes, Abendbrot und Hausis nicht vergessen.«

Johannes schüttelte den Kopf und zog die Wohnungstür zu. Aus dem Wohnzimmerfenster sah er, wie der Möbelwagen zurückgesetzt wurde. Britta fuhr aus der Lücke, ohne ihm zuzuwinken.

Den hat sie gleich vergrault, dachte er. Nie schafft sie es, freundlich zu sein. Und dabei kommt gerade der Sommer, da ist es doch wichtig, wie oft wir im Hof sein können.

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