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Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2008

© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR

Umschlaggestaltung: Marcel Theinert, Mario Helbing

Typographie: Tropen Studios, Leipzig

ISBN 978-3-938424-37-7

www.voland-quist.de

Michael Stein (1952–2007)

Inhalt

Vorwort

Meine erste Fernsehtalkshow

Es lebe das Handwerk

Briefverkehr

Teilchenbewältigung

World Writers League

Mit diesem Text hier wird endlich die Milliardengrenze bei der Anzahl deutschsprachiger Bahnreisegeschichten geknackt

Zwiegespräche mit Gott – heute: An die Elite

Schneeflocke der Hoffnung

Das Allerschlimmste

Wir waren noch richtige Jungs

Der Mann

Wohin auch immer

Herbst

Wie soll man es sagen

Die Tiere unserer Heimat – heute: Das Buch

Eke, Dorf mit drei Buchstaben ohne L am Ende (Folge 1617)

Die Zeit der Hitparaden ist vorbei

Vielleicht waren ja auch andere Jahrzehnte ähnlich stumpfsinnig wie dieses

König von Frankreich

Die Tiere unserer Heimat – heute: Fische

Etwas mit Flügeln und Flossen

Zwiegespräche mit Gott – heute: Ein einziger Kampf

Eke, Dorf mit drei Buchstaben ohne L am Ende (Folge 1618)

Das Ende kommt vor dem Schluss

Sie heißt Jens

Das Geschenk

Die Jagd

Das deutsche Volk

Die Tiere unserer Heimat – heute: Der Wurm

Auf dem Weg nach drüben

Zwiegespräche mit Gott – heute: Standhaft

Abstand lassen

Wir haben nichts zu verlieren, außer unseren Ketten

Wie ich mal ein Versager bin

Eine Tüte Mehl für Mutti

Kernthesen

Süßes Leben

Abschied

Noch einige Wochen länger

Erlebnisorientiert

Farbflausen

Wie ich mal dachte, dass sich die Sisters of Mercy sicher im Grabe umdrehen würden, wenn sie denn schon gestorben wären natürlich nur

Ein Herz für Kinder

Zwiegespräche mit Gott – heute: Ein Strich, kein Strich

Was war eigentlich morgen

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VORWORT

Ich, als der Freund von Ahne, finde das schon gut, weil, das wurde ja auch mal Zeit, dass er das macht, mit dem Buch, mit dem sein Buch, dem sein was weiß ich wievieltes Buch. Er hat mir ja schon ständich in den Ohren jelegen, von wegen, och, ick muss ma unbedingt wieda ’n Buch machen, aba villeicht will dit jakeena lesen, denn. Und da habick denn so zu ihn jesagt: „Hör ma, habick jesagt, hör mir ma zu, du bist ein freier Mann, ja, in einen freien Land, machit einfach“. Naja, und nu isset da, dit Buch und ick muss sagen, es gibt sinnlosere Produkte, durchaus. Man kann bei diesen Buch ja etwas lernen, man kann zun Beispiel, wenn man nich lesen kann, denn kann man mit dem Buch zusammen lesen lernen, zun Beispiel, oda sich die Zeichnungen ankieken oda man stelltit inne Schrankwand rin und jibt an damit.

Zum Inhalt: Inhaltlich hat mich an meisten beeindruckt, dass er von der Sprache her sehr sich weiterentwickelt hat, also er befindet sich jetz, ick möchte ma sagen, deutlich, auf einen deutlich emporgehobenen Bildungsgrad als wie vorher. Manchma komm direkt selbst icke außen Staunen nich heraus und wer mir kennt, weeß wattick meine. Wir ham nämlich zusammen studiert, hier, inne Universität von Pennsylvania und daher weeßick dit ooch. Er is ja ooch inne Breite jegangen mit seinen Stil, dit is mir ooch noch uffjefallen, dit ainnat mir manchmas ’n bisschen an Goethe, an den frühen Goethe, obwohlick jetz uff den Jebiet, sagen wa ma …, ick hab ja Astrophysik studiert, aba jibt zur Zeit für meine Qualifikation nich die jeeigneten Stellenanjebote. Ick bin eindeutich übaqualifiziert für die Jobs. Ick meine, ick hab ja mein Professor mit 1,2 jemacht an die schwersten Universität vonne USA. Aba hier will mir keena. Ick könnte manchma heulen, so scheiße is dit. Zun Glück jibs mein Freund Ahne, der mir denn tröstet und der mir ooch bei den Valag hier untabringen würd, hatta jedenfalls vasprochen. Also, wenna demnächst ’n Buch von Stefan „Schlüppi“ Passner in ’n Laden seht, denn wissta bereits, dittit ’n 1a-Buch is. Seita den andan voraus. Sagick schonma Danke für, dit ihr dit kooft, dit Buch und vorher wünschick euch noch viel Vagnügen erstma mit diesen, also würklich, also für den seine Vahältnisse doch eha übadurchschnittlichen Produkt.

Ihr Prof. Stefan „ Schlüppi“ Passner (Freund von Ahne)

Meine erste Fernsehtalkshow

Ich bin ein großer Bewunderer der Talkshowexzesse eines gewissen Klaus Kinski. Auf Fragen einfach mal gar nicht antworten, willkürlich den Gegenüber beleidigen, obwohl der einem doch wohlgesonnen war, wild auf dem Tisch herumtanzen, dem Moderator Bier ins Gesicht kippen, ständig nachfragen: „Was wollen Sie eigentlich von mir?“, au ja, au fein, so sollte es sein. Dazu waren Talkshows schließlich gemacht, dazu waren Talkshows da, deswegen schalteten die Leute doch ein. Es konnte nichts Besseres geben, als wenn eine sich zur Autobahn bekennende Eva Herrmann live und ohne doppelten Boden vor den Augen eines Milliardenpublikums vom Chef der Kastelruther Spatzen bespuckt und beschimpft und, nachdem dieser für Sodomie-Praktiken geworben hat, sogar noch mal bespuckt wird.

Wie langweilig dagegen, wenn Peter Kraus, Michael Mittermeier und die DDR-Dumpfbacke schlechthin, Katarina Witt, sich gegenseitig versichern, sie würden einander gerne im Fernsehen zuschauen.

Montag, der soundsovielte November. (Hab jetzt nicht nachgeblättert im Kalender, weil das den Fluss der Geschichte stören würde.) Ich bin gerade erwacht, zum dreizehnten Mal. Ich bin aufgeregt, zittere am ganzen Körper. Nachher werde ich zum ersten Mal in einer Talkshow einen Moderator in den Wahnsinn treiben. Nachher ist abends, jetzt ist mittags. Ich diniere im Dorfkrug Prenzlauer Berg. Ich habe mich selber dazu eingeladen. Es gibt Pizza mit Sushi und Tofu-Ente, runtergespült wird standesgemäß mit einem gepflegten Cognak macchiato. Geiz war gestern, morgen bin ich tot. Die Bedienung ist freundlich, sie kommt nicht von hier. Sagt sogar „Tschüss“. Nach dem Essen bin ich satt. Aber nicht nur. Ich bin auch zufrieden. Deshalb darf ich nicht so spät essen, damit mir nachher nicht noch die Talkshow missrät. Oder wie schon früher die alten Ritter sagten: „Ein voller Bauch macht keine Zicken.“

Auf der Straße werde ich von einem Bus angefahren, da ich aber kräftig bin, tut es nicht besonders weh. Ich habe ja Muskeln. Ich stehe vor meinem Haus. Ich habe meinen Schlüssel vergessen. Ich schreibe zu oft „ich“.

Um 18.30 Uhr sollen wir uns am Fernsehturm einfinden. Der Sender, der die Live-Talkshow ausstrahlt, nennt sich Lettra-TV und ist in der großen Familie von Premiere zu Hause. Premiere, das bedeutet Bezahlfernsehen und das ist selbstverständlich ein Riesenhaufen Scheiße oder anders ausgedrückt … und so weiter und so fort. Lettra-TV ist ein so genannter Spartenkanal, der sich ausschließlich mit Literatur beschäftigen soll. Wer so was sehen will? Fragt mich nicht. Um 18.30 Uhr ist es jedenfalls kalt in Berlin. Der Palast der Republik ist kaputtgegangen, der Mond scheint, die Krähen singen ein Totengedicht.

In der Schminke meint man, ich habe so was gar nicht nötig. Sie schminken mich trotzdem. Hinterher sehe ich so ähnlich aus wie Kiss. Wie Kiss in ihrer spätpubertären Phase, als sie nicht mehr auf der Bühne standen. Lediglich die Haare nicht ganz so lang.

Ich werde verkabelt und freue mich, dass der Assistent bemerkt, dass ich mich seit Tagen nicht gewaschen habe. Er muss mit dem Gesicht ganz dicht ran an mich und wird dafür wahrscheinlich noch nicht mal bezahlt. Armer Praktikant. Armes neoliberales Schweinesystem.

Um 20.45 Uhr ist es dann so weit. Ich darf auf die Couch. Ulla Meinecke, die vorher immerhin den Moderator nicht zu Wort kommen ließ, Frank Klötgen und Christiane Schacht gucken zu mir empor. Die Scheinwerfer brennen unglaublich heiß. Ich setze mich in einen Stuhl. Es ist trotzdem noch unglaublich heiß. Ich trinke unglaublich viel Wasser.

„Ja“, antworte ich auf die erste Frage, die der Moderator stellt, „Ja, ich schreibe. Ja, ich habe als Kind schon geschrieben.“ Was ist los mit mir? „Ja, das mache ich auch im Radio. Ja, auch auf der Bühne. Ja, auch ein Buch habe ich mit.“ Bin ich wahnsinnig geworden? Was rede ich da? Sind Drogen in dem Wasser? „Sicher, in den Geschichten da ist vieles, was ich selbst erlebe, aber auch anderes. Ja, eine CD ist da auch mit drin in dem Buch. Mmh, ich wohne im Prenzlauer Berg.“ Ach du grüne Neune! Heiliger Stoffbeutel! Hoffentlich sieht das wirklich keiner! Kann man ja niemandem anbieten! So eine Schluffi-Scheiße! So ein Dreck! Voll das Allerweltsgequatsche! Dabei wollte ich doch Talkshowgeschichte schreiben. Wollte mich doch als schwuler IM outen, der in seiner Freizeit zum Hooligan mutiert und vor den Kloppereien in der Fankurve den Koran studiert. Ich wollte doch gestehen, dass ich meine Frau nur deshalb nicht verlassen habe, weil alle anderen, die ich bisher ansprach, nicht mit mir wollten. Ich hatte vor Hundefleischrezepte anzupreisen, wollte den Röhm-Putsch leugnen und, tätä, zeigen, dass ich unter der Vorhaut rasiert bin. Ich wollte nicht aufhören zu reden, ich wollte nicht rausgehen und ich wollte mir auf gar keinen Fall diese Jacke anziehen lassen, in der man nicht mal mehr mit den Fingern Zeichen machen konnte.

Zum Glück sind die von Lettra-TV nicht so. Sie fanden’s gut, eigentlich. Wollen mich noch mal einladen, im Januar. (Blätter ich aber jetzt nicht im Kalender nach, weil das sonst den Fluss der Geschichte stört.)

Ich hoffe natürlich, dass ich dann nicht mehr so aufgeregt sein werde und vernünftig in der Lage bin, das Programm stören zu können. Man wird schließlich auch älter, reifer, besonnener. So was wie im November, das passiert mir kein zweites Mal. Darauf könnt ihr euch verlassen, Lettra-TV. Ihr werdet mich kennenlernen. Richtig kennenlernen!

Es lebe das Handwerk

So eine Scheiße! Hab ich vielleicht eine Lust zu schreiben. Schreiben ist eine Kunst, jaja! Verdammt! Ich muss, ich muss, ich muss!

Sie hat mir meinen Rucksack geklaut, mit allen Geschichtenbüchern der letzten drei Jahre drin. Alles für die Katz. Aus die Maus. Alles futsch. Alles nur wegen ihr. Alles nur wegen der. Der verdammten Vergesslichkeit. Meiner verdammten Vergesslichkeit. Ach, ich könnt mich hauen. Dis mach ich auch. Tut aber nicht weh.

Im Taxi hab ich ihn liegen lassen, glaub ich zumindest. Im Taxi in Basel, in einem Basler Taxi. Wir sollten mit unserem Bier aufpassen, dass wir dis nich verschütten. Hab ich auch getan. Hab ganz gut auf dis Bier aufgepasst. Es ist absolut nichts davon verschüttet worden. Nichts auf die Polster getropft. Keinen Spritzer gab’s. Keinen Klecks. Ich hab so dermaßen gut auf dis Bier aufgepasst, dass ich darüber vollkommen den Rucksack vergessen habe. Der is übrigens schwarz, mit hinten so ’nem ganz kleinen Kiffer-Blatt drauf, weil der nämlich, glaube ich, aus Marihuana hergestellt ist, aber aus ungiftigem, völlig harmlos, braucht niemand die Polizei anrufen, ich steck keinen mit irgendwas an. Da sind auch keine Spritzen drin, nur Bücher. Außerdem isser weg. Hier, ich heb mal demonstrativ meine Hände, kein Rucksack da.

Der Taxifahrer. Na, ich will mal lieber nichts Böses sagen über den Taxifahrer. Der war ja eigentlich ganz nett. Dick, mit Bart und nett. Dass wir auf unser Bier aufpassen sollten, dis war ja im Prinzip nur zu unserem Vorteil gemeint. „Betrinkt euch mal ruhich Jungs, ihr habt dis verdient. Nichts verschütten, sonst seid ihr nachher nich richtich hacke.“ So war dis gemeint. Er ist eindeutig auf unserer Seite, 100%ig ein Lieber. Oder aber eben ein Dieb.

Was rede ich. Dieb, so ein Quatsch. Ein morphisches Feld sollte ich besser aufbauen, eines das ihn erreichen kann. Die Schweizer Taxizentralen können das ja offenbar nicht. Sollte die Schweiz etwa doch nicht so perfekt sein, wie ich bisher dachte? Will mir Gott etwas sagen? Huhu, Gott, wo biste denn?!

Vielleicht ist es ja auch ein Zeichen. Vielleicht sollte ich vollkommen von vorne anfangen. Neu beginnen. Irgendwo bei Null starten, oder sogar darunter. Im Minusbereich. Als Dachdecker zum Beispiel, wie Erich Honecker, oder als Maler wie van Gogh.

Sonnen kann ich ja schon ganz gut malen. Gelbe Sonnen. Da wär ich immerhin schon bei über Null. Rote Sonnen kann ich auch ganz gut, aber nicht so gut wie gelbe Sonnen. Am besten kann ich eigentlich blaue Sonnen. Gibt’s aber gar nicht, blaue Sonnen. Leider. Obwohl, wer sagt denn, dass man alles immer so malen muss, wie es in Wirklichkeit aussieht. Genau! Ich mach dis einfach nich. Nö. Ich revolutioniere ma einfach die Kunst. Na bitte, da wär doch noch ein Platz für mich frei, ein Platz als Kunstrevoluzzer. Blaue Sonne am Frühstückstisch, mit Kind. Den Titel hätten wir schon mal.

Vielleicht sollte ich einem Kollektiv beitreten. Mit jemandem zusammenarbeiten, der Kinder malen kann. Und mit noch jemandem dazu, der Frühstückstische malen kann. Da könnte man sich dann gegenseitig befruchten, oder sagen wir nicht befruchten, nehmen wir ein anderes Wort, doch befruchten, sagen wir ruhig befruchten. Hähä.

Ich stelle mir das so vor. Mal male ich die Sonne links unten auf das Blatt, mal rechts oben, oder sogar in die Mitte, wo sie wissenschaftlich betrachtet ja auch hingehört, jedenfalls hat dis mal ein Lehrer in der Schule so gesagt, und der war nicht bei der Stasi!

Ich male jedenfalls die blaue Sonne hin, wo es mir gefällt. Ich bin Herr über das Blatt. Ich bin so frei. Es sei denn natürlich, ein Kollektivgenosse hat schon vorher was auf das Blatt draufgemalt, zum Beispiel ein Kind. Isser vielleicht früher aufgestanden und hat nich geduscht, das Schwein! Isser gleich zum jungfräulichen Blatt hin und hat dis besudelt, mit so ’nem lächerlichen Kind. Dann kann ich da an die gleiche Stelle natürlich nicht auch noch meine wunderschöne blaue Sonne hinmalen. Dis geht natürlich nicht. Obwohl, warum eigentlich nicht? Doch. Dis geht doch. Einfach rübermalen. Schön feste aufdrücken mit dem Kugelschreiber. Fertig. Eine Sonne. Eine blaue Sonne. Und damit mir keiner meiner unfähigen Kollegen dis schöne Kunstwerk versauen kann, mach ich die blaue Sonne gleich mal vorsichtshalber ein bisschen größer. Ja …, größer. Noch etwas größer. Wer sagt eigentlich, dass man blaue Sonnen nicht auch rechteckig malen kann und ohne so ’ne dämlichen Strahlen dran? Wer dis behauptet, ist enttarnt als Verfechter der Vergangenheit. Ich bin die Gegenwart und mir gehört die Zukunft. Ich male dis ganze Blatt blau aus. Alles schön blau. Vollkommen blau. Blaue Sonne am Frühstückstisch mit Kind. Da werden die andern sich grün ärgern vor so viel Blau.

Vielleicht bin ich aber auch gar nicht so gut geeignet für ein Malkollektiv. Vielleicht bin ich ja eher der Unverstandene, der einsame Bohème, der lediglich darauf wartet, eine unheilbare Krankheit zu kriegen um groß rauszukommen. Mir schläft ja schon manchmal so die linke Hand ein. Wenn ich die dann bewege, die Hand, dann wird dis auch gleich wieder besser, aber wer sagt denn eigentlich, dass das ewig so bleibt?!

Oh, ein Anruf. Mein Rucksack, hoffentlich is mein Rucksack dran. „Ja … Nein … Nein … Nein. Nein, ich verstehe Sie nicht … Ja … Ja, genau. Ja, jetzt verstehe ich Sie schon besser … Ja … Nein … Nein … Nein, ich verstehe Sie glaube ich doch nicht. Ja, tut mir leid. Auf Wiedersehen.“ War nich der Rucksack. Nur ein Mensch. Besoffen wahrscheinlich, konnte kein Wort verstehen, aber wer sagt denn auch, dass man immer alles verstehen muss?! Gleich morgen, morgen in aller Frühe, bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao, geh ich los und kauf mir einen Tuschkasten. Scheiß auf die Bücher, es lebe das Handwerk. Hurra, hurra, hurra!

Briefverkehr

Vanessa und Kathleen wollen sich ficken lassen. Von hinten, in den Po, richtig hart. Das schreiben sie mir jedenfalls, in Form eines Elektrobriefes. Ich habe ihnen bisher noch nicht geantwortet, weil mir jemand sagte, dass die mich gar nicht persönlich meinen würden. Sicherlich haben sie sich in der Adresse geirrt. Gibt ja so viele Computeradressen heutzutage. Da kann man sich schon mal irren. Alleine in China gibt es ja mehr als 1000 Computer und die haben ja alle Adressen und es werden täglich mehr. Bald sind es wahrscheinlich 2000 Computer. Da kann man sich schon mal vertun.

Ich nehme das den beiden Damen auch nicht wirklich übel, ja, letzten Endes hat ihr Brief sogar ein wenig Farbe in meinen tristen Alltag gekleckst. ‚Ficken lassen?‘, dachte ich, ‚Nanu? Von mir?‘.

Ich muss ja zugeben, dass ich einer leichten Deprimation gerade unterliege. Mich dünkt, der Weltschmerz ergreife Besitz von mir. Was haben wir nicht alles getan, damit sich zum Positiven etwas verändert, in dieser Gesellschaft. Was haben wir nicht Bündnisse geschmiedet: gegen den Zwang zur Lohnarbeit, für mehr Essen und besser und Trinken und Fahren sowieso umsonst und Verständnis und Liebe und überall auf der Welt. Und wir wollten Kommunen gründen, in denen Wecker unbekannte Geräte sind. Und was ist?! Mein Sohn hängt im Media Markt über Gratisspielen ab, mit denen er, von der Faschistenkette angefixt, hurtig zum willenlosen Opfer mutiert. Steigt ein Kontrolleur in die U-Bahn, startet auf der Stelle ein Wettbewerb, wer von den Reisenden als Erster sein Billet zeigt, und man wünscht dem Büttel noch einen schönen Tag auf seinen weiteren Weg. Für die Fahrscheinfreien dagegen hat man nur Verachtung übrig. Und die Arbeitslosenzahlen sinken und die Menschen sind dankbar für die Almosen, die ihnen der Chef vor die Füße schmeißt, auf dass man weiter sinnlose Produkte zusammenzimmert. Und dafür, dass man immer weniger Zeit und Kraft hat, macht man die Ostler verantwortlich oder die Westler oder die Ausländer. Der Wald stirbt und der Eisbär schmilzt und Osama bin Laden, Bush, Putin, die Merkel, Angela und der Mahler, Horst, die lachen sich wahrscheinlich schief, bei einem knusprigen Grillschaf, das sie im Scheine baumhoher Kerzen auf der Ranch Kim Jong-ils verspeisen. Und das Allerschlimmste, das sind diese Weltverschwörungstheorien. Ich glaube ja, dass hinter diesen ganzen Weltverschwörungstheorien, dass da der Mossad hintersteckt, zusammen mit den Freimaurern vielleicht und der Postbank. Die wollen uns kirre machen. Haben sie bei mir auch geschafft, schon fast. Leichte Deprimation, wie gesagt.

Ach, meine Güte, kann ja auch am Wetter liegen. Mal Sonne, dann wieder Regen, Schnee, Nebel, Gewitter, das hab ich doch alles schon tausendmal gesehen. Und dann stirbt wieder jemand und woanders wird wer geboren und die Revivalwelle erreicht den Minimal-Techno.

Vielleicht hat die Uhr, die auf meinem Fernseher steht, ja auch aus solchen Gründen es aufgegeben, die Zeit anzuzeigen. Vier digitale Querstriche, dazwischen zwei rhythmisch wiederkehrende Leuchtpunkte. Tagein, tagaus. Woche für Woche. Monat für Monat.

Ich werde den beiden Damen einfach mal antworten. Ich werde einfach mal dafür sorgen, dass auch ihre bunte Welt ein paar meiner grauen Farbkleckser abbekommt. Ich werde einfach schreiben:

Sehr geehrte Frau Vanessa, sehr geehrte Frau Kathleen!

Ich danke Ihnen für Ihre Post. Leider ist es mir derzeit nicht möglich, Sie richtig hart in den Po zu ficken. Gerne aber würde ich mit Ihnen reden. Es gibt ja viel, viel Schlimmes in der Welt und ich besitze die seltsame Gabe, dies alles auch noch zu sehen. Vielleicht, wenn ich Ihnen davon berichte, vielleicht könnten Sie ja, zum Ausgleich, ein paar heitere Episoden voller Hoffnung und Herzenswärme auf meinen Bildschirm zaubern.

Sollte Ihnen das nicht möglich sein, so wünsche ich Ihnen natürlich weiter viel Erfolg und Schaffenskraft, bei allem was sie sich so vorgenommen haben.

Hochachtungsvoll, Ahne

P.S.: Ich hoffe, ich habe mich nicht in Ihrer Adresse geirrt.

Genau so werd ich’s machen. Und dann, dann geh ich spielen. Mit meinem Sohn zusammen, in den Media Markt.

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Teilchenbewältigung

„Hurra, Teenagerzeit vorbei!“ Dieses Lied von Elis geht mir nicht mehr aus dem Kopf. „Denn für den Suizid bin ich viel zu lieb, da geh ich lieber meinen Kumpels auf den Sack oder stürz mich in Arbeit, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ Nur depressive Menschen können schöne Lieder schreiben, warum geht’s mir bloß so gut?

Die Meerschweinchen sitzen auf einer Decke und quieken und pissen und kötteln alles voll, ich krieg Hartz IV und die kleine Tochter Neurodermitis, im Hof werden Steine zersägt und der BFC steht immer noch auf einem Abstiegsplatz.

Mit 14 habe ich über das Problem der Unendlichkeit nachgedacht. Wenn es nichts Größtes gäbe, also das Weltall nie zu Ende ginge, dann dürfte es im Umkehrschluss doch eigentlich auch nichts Kleinstes geben, weil man ja auch unendlich vergrößern können müsste und also auch das jeweils kleinste entdeckte Teilchen bis zur Größe eines Sonnensystems aufplustern und anschließend in Myriaden kleinere Teile zerhacken, die man dann wiederum vergrößern und so weiter und so fort, es wäre also unmöglich herauszufinden woraus alles bestünde, noch schlimmer, es gäbe überhaupt gar kein kleinstes Teilchen.

Kein Wunder, dass ich oft oben am Fenster meines Dachzimmers in Karlshorst stand und grübelte, ob die Höhe wohl ausreichen würde. Ich schob den Test allerdings immer weiter hinaus, weil ich das meiner Mutter nicht antun wollte und außerdem, wenn ich mich schon für den Freitod entschieden hatte, dann besaß ich ja praktisch alle Freiheit der Welt, ich konnte tun und lassen was ich wollte, mir konnte keiner mehr was, das Leben war schön. Mein persönlicher Punk sozusagen.

Gegen diese finale Lebenseinstellung waren Stasi und Dreischichtsystem lediglich eine Art lästiger Fliegendreck, der einem nicht wirklich Angst machen konnte. Der Hanswurst vom Schild und Schwert der Partei wusste ja nicht mal, aus was er eigentlich bestand, wie sollte man so jemanden ernst nehmen?

Im Jahre 2007 ist auf dem Teutoburger Platz der Frühling ausgebrochen. Es sind noch mehr Kinder geschlüpft als im letzten Jahr. Von wegen die Deutschen sterben aus! Da wird eine Hysterie verbreitet. Ich finde ja, 20 Millionen weniger von uns stünden diesem Land ganz gut zu Gesicht und dieser Welt sowieso. Dafür ein paar Roboter mehr, die die Arbeit machen, die das Bruttosozialprodukt erwirtschaften, wir müssten nicht mehr verzweifelt sinnlose Jobs schaffen und würden uns vielleicht sogar wieder freuen, wenn Ausländer in Erwägung zögen hierher einzuwandern. Nein, ganz im Gegenteil, wir sollten uns freuen, dass wir weniger werden. Ziehet euch aus, tanzet nackig unterm Rasensprenger und zeiget somit der Welt, dass es schön ist, das Leben zu genießen, selbst wenn man nicht weiß, aus was man eigentlich besteht.

Halt, stopp! Nicht gleich übermütig werden. Der Autoverkehr, der muss abgeschafft werden. Diese Stinkescheesen nerven total. Vor allem, wenn so ’ne fetten Sonnenbrillentrottel denken, sie müssten der Umwelt jetzt unbedingt zeigen, wie ihr blank gewichster 800-PS-BMW mit ohne Dach und dafür nur zwei Sitze von 0 auf 100 in drei Sekunden hüpfen kann. Pflasterstein drauf, und wenn der Depp aussteigt, ihn ungefragt anzünden, ihn und das Auto! Und nein, türkische Jungmänner, mit angeblichem Migrantenhintergrund, kriegen keinen Bonus, Scheiße bleibt Scheiße, egal woher sie kommt!

So, das musste mal gesagt werden.