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Über dieses Buch

Schon lange hat Gregorio Esnal keinen Sonnenstrahl gesehen. Seit er die Nachricht bekam, dass sein Freund Milo Striga von den Machthabern ermordet wurde, verschanzt er sich in seinem Zimmer und tut, was er schon immer am liebsten getan hat: Er brütet über Geschichtsbüchern und verfolgt im Radio das Geschehen in der weiten Welt.

Eines Tages erfährt er, dass Striga gar nicht tot, sondern im Gefängnis ist. Abgemagert und mit gelber Löwenmähne verlässt er sein Zimmer, um sich um Mercedita zu kümmern, Strigas halbwüchsige Tochter. Aber wie soll er es anstellen, den Ruf der Familie zu retten, wo doch erschwerend hinzukommt, dass Merceditas Mutter mit einem Liebhaber durchgebrannt ist?

Da beschließt Esnal, in diesem verschlafenen Nest Mosquitos Vorlesungen zur Menschheitsgeschichte zu halten – und den Strigas eine Ahnenreihe anzudichten, die bis zu den Neandertalern reicht. Bald hat er seine Zuhörerschaft um den Finger gewickelt, die Hausfrauen und Honoratiorengattinnen hängen von Mal zu Mal hingebungsvoller an seinen Lippen. Erst als ihm der regimetreue Oberst Valerio auf die Schliche kommt, spitzt sich die Lage zu.

Mario Delgado Aparaín erzählt die Geschichte Gregorio Esnals, der sich gegen die Mächtigen mit Gaunertricks zur Wehr setzt, mit Empathie und hintergründigem Humor. »Februarmond« ist ein witziger und poetischer Roman über die Kunst, in schwierigen Zeiten die eigene Würde zu bewahren.

»Dass über schlimme Diktaturen nicht mit Witz geschrieben werden dürfe und in Lateinamerika auch nicht geschrieben werde, ist ein frommes Vorurteil.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

»Gregorio Esnal ist ein seltsamer Vogel, kein Schelm, kein Springinsfeld oder Schwejk, eher der Eigenbrötler, der dem Lauf der Welt zusieht, bis ihm der Kragen platzt, und er sich einmischt. Delgado Aparaín umgibt ihn mit lauter komischen Figuren und abstrusen Episoden. Er erzählt die Geschichte im Stil einer Legende mit starken Worten und grellen Bildern, zu denen er immer wieder ironisch auf Distanz geht, so dass aus dem Helden- ein Bänkellied wird.« (Süddeutsche Zeitung)

Der Autor

Mario Delgado Aparaín wurde 1949 in Florida/Uruguay geboren und arbeitete als Journalist, Universitätsdozent und Leiter des Kulturdezernats der Stadt Montevideo, wo er auch heute noch lebt. Er veröffentlichte drei Romane und mehrere Bände mit Erzählungen. Für seinen Roman »Februarmond« erhielt er den angesehenen Premio Internacional Alfaguara.

Der Übersetzer

Enno Petermann, geboren 1964 in Berlin, studierte Lateinamerikanistik und Germanistik. Aus dem Spanischen und Portugiesischen übersetzte er unter anderem Romane von Sylvia Iparraguirre, Eduardo Belgrano Rawson und Adriana Lisboa. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Mario Delgado Aparaín
Februarmond

Roman

Aus dem uruguayischen Spanisch von Enno Petermann

Edition diá

Inhalt

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Impressum

Sie waren es, die das Wort hatten,

und es herrschten Trauer und Dunkelheit.

Viel später dann, als sie verstummten,

kam der Februarmond

und brachte Erleichterung.

1

Als der Krieger Milo Striga wegen Verschwörung gegen die Putschisten das fünfte Jahr im Gefängnis saß, lag es schon eine ganze Weile zurück, dass seine Frau, in Liebe entbrannt, mit einem erfolgreichen Vertreter für landwirtschaftliche Bücher verschwunden war, einem wirklich bezaubernden Mann, den sie auf ihren Spaziergängen durch die Gerstenfelder rund um Mosquitos kennengelernt hatte.

Wie man hörte, hatte der Fremde sie in jenen schier endlosen Zeiten an weniger als einem Wochenende erobert, indem er ihr ausführlich vom interessanten Leben der kalifornischen Regenwürmer erzählte. Mehr brauchte es nicht, um sie davon zu überzeugen, dass es auf der Welt noch ungeahnte Reize gab, aufregende Orte fernab des mühseligen Kampfes gegen den Imperialismus, der ihr in den Jahren mit Milo Striga so viel Unglück bereitet hatte.

Bald danach zogen sie nach San Antonio, Texas.

Doch bevor Milos Frau Mosquitos mit ihrem braunen Pappkoffer und dem wie ein Herzass zuckenden Mund verließ, brachte sie ihre Tochter Mercedita zu Großmutter Juliana, Milos Mutter, darauf vertrauend, dass die Alte aus der Kleinen schon eine unabhängige Frau machen werde, eine Löwin, die sich selbst vor den unvermeidlichen Schlägen des Schicksals würde schützen können. So wie ihr Vater es gewollt hätte, wäre er da gewesen, um es ihr zu sagen.

Obwohl sie das Anliegen ihrer Schwiegertochter durchaus verstand, weigerte sich Großmutter Juliana doch entschieden, das Los der kleinen Mercedita nur als eine weitere tragische Konsequenz der Ereignisse anzusehen, die ursächlich mit der schmachvollen Geschichte des Landes und, wenn man es genauer nahm, sogar mit den Exzessen eines sterbenden Weltreichs verknüpft waren.

Die Alte hatte sich von diesen Deutungen stets abgestoßen gefühlt, schon weil die Dinge sich für sie wesentlich einfacher darstellten: Der Vater war verschwunden, die Mutter hatte ein Recht auf Glück, der Vertreter für landwirtschaftliche Bücher konnte in dieser menschenleeren Gegend nicht überleben. Daher gab es in ihren Augen keine andere Möglichkeit als die, dass Milos Frau und der Buchhändler gemeinsam auswanderten. Wobei sie im Stillen hoffte, die beiden würden eines schönen Tages zurückkehren und sich von da an nie wieder von dem Mädchen trennen.

Kaum waren sie fort, begriff die Großmutter jedoch rasch, dass die Hoffnung leichter ausgelöscht werden kann als das Schlafzimmerlicht vor dem Zubettgehen. Weswegen sie eine ihrer ersten Lektionen auf Merceditas blondes Köpfchen herabrieseln ließ, und zwar an einem Abend, an dem sie, von Rührung erfüllt, in der Tür des Badezimmers auftauchte und sich zu der Kleinen hinunterbeugte, die auf dem weißen Sockel des Klosetts saß.

Mit ihrer vom Alter brüchigen Stimme sagte sie, ab jetzt werde Mercedita die verborgensten Erinnerungen an Schmerz oder Freude dem Abschnitt des Lebens zuordnen müssen, in dem ihre Eltern jegliche Bedeutung für sie verloren hätten. Immer schon, vom Beginn der Zeiten an, sei das so gewesen, bei allen Kindern mit dem Namen Striga. Einzig das seltsame blaue Kreuz auf ihrem Rücken scheine ihnen Erlösung und Überleben zu sichern.

»Ob man es nun für eine Lüge oder für ein Wunder hält, es ist eine Tatsache«, sagte die Großmutter, während sie Mercedita den Träger des Nachthemds herunterstreifte und mit zittriger Fingerkuppe über das eigenartige bläuliche Mal fuhr, das sich oben auf dem Schulterblatt des Mädchens befand.

Die kleine Mercedita musterte sie mit durch die Anstrengung ihrer Därme hochrotem Gesicht und verstand kein Wort von dem, was die Großmutter redete, auch wenn sich im Halbdunkel ihres Unbewussten ein widersprüchliches Gefühl einnistete, den Gewissensbissen nach zu urteilen, die Jahre später, als sie die Vororte der väterlichen Seele zu entziffern lernte, ihren Kopf zu martern begannen.

»Wenn dein Vater heimkommt, wird er dir sein Kreuz zeigen«, sagte die Großmutter und half ihr beim Aufstehen.

Lange danach, als Milo Striga freigelassen wurde und nach Mosquitos zurückkehrte, wollte er die Menschen, die er liebte, jedoch keiner Gefahr mehr aussetzen und zog es vor, ein kleines Zimmer im hinteren Hofbereich des Hauses seines Freundes Gregorio Esnal zu beziehen, eines Exzentrikers, der die nutzlosen Begebenheiten der Universalgeschichte erforschte und sich für Kurzwellensendungen begeisterte. Ein unglaublich dünner Mann mit vom Lesen geröteten Augen und einem verwahrlosten Äußeren, das bei den Dorfbewohnern, die Gregorios naiver Sinn für die Harmonie der Dinge empörte, tiefe Abneigung auslöste.

Milo Striga sagte einfach Esnal zu ihm, so als wäre es der Name eines Römers oder Karthagers, und dies verlieh ihrem Verhältnis besondere Würde. Zwischen beiden bestand erwiesenermaßen eine uralte Freundschaft, die sich auf durch keinerlei Zwist zu erschütternde Gefühle stützte und womöglich bis in die sechziger Jahre zurückreichte, als Esnal den Club »Kim Novak« gegründet und den Fans die erste Basketballmannschaft von Mosquitos vorgestellt hatte.

War es Milo in den Verliesen der Kaserne manchmal gelungen, sich in gute Stimmung zu versetzen, dann nur, wenn er mit den Zellenkameraden Erinnerungen an die triumphalen Einmärsche auf das Spielfeld ausgetauscht hatte. An die Spieler, wie sie sich warm liefen oder Kniebeugen machten oder sich auf die Brust schlugen – genau dorthin, wo Kim Novak schief von einem Bildchen auf dem T-Shirt lächelte –, während sie fürchterlich brüllten: »Kim, Kim, hurraaa …!«

Auf einem Hocker am Spielfeldrand stehend, auf dem Rücken ein riesiges, mit Stecknadeln befestigtes Foto des Stars aus Des Menschen Hörigkeit, hatte Esnal ihnen Anweisungen zugeschrien. Wie ein Besessener hatte er seine verfilzte Mähne geschüttelt und gedroht, den Mannschaftsnamen zu ändern, falls sie den beschämenden Rückstand von siebenundzwanzig zu hundertdreißig nicht sofort aufholten. Genau wie an dem Nachmittag, als die Mannschaft »Geflügel und Eier« aus Estación Migues sie mit einem zweihundertzehn zu sechsunddreißig demütigte, ohne dass es die winzigste Chance zur Ehrenrettung von Mosquitos gegeben hatte. Aber was Esnal noch schwerer hatte ertragen können, geschah immer im Anschluss an die grandiosen Niederlagen, wenn nämlich Milo und die übrigen Mitglieder des Kim Novak sich jubelnd in der Bar Euskalduna versammelten, um ihren eigenen Untergang zu feiern, und die hinzugestoßenen Gäste mit der entsetzlich dummen Losung bewirteten, es komme vor allem auf Brüderlichkeit und Verständigung zwischen den Dörfern an.

Esnal war bei alldem übel geworden. Mit der typischen Enttäuschung des Trainers, der nichts anderes kennt als den Saure-Milch-Geschmack ausbleibender Trophäen, war er einfach nach Hause gegangen. Hatte nicht einmal die Angehörigen der gegnerischen Mannschaft gegrüßt, und sei es auch nur aus Gründen elementarer Höflichkeit. Dann hatte er sich in seinem Zimmer eingeriegelt und Biografien über die Könige der Wikinger gelesen, ohne dass seine Mutter, um die geistige Gesundheit ihres Sohns besorgt, ihn dazu hatte bringen können, die unendlichen Lektürestunden zu unterbrechen.

Gleichwohl zeigte Esnal außer seinem gewohnten exzentrischen Benehmen bis zu dem Tag, an dem er erfuhr, dass Milo Striga in eine der heimtückischen Fallen des Militärs geraten war, keine auffälligen, gar dem Wahnsinn verwandten Verhaltensweisen.

Als der dramatische Fischzug stattfand, fiel strömender Regen auf das Dorf, und es wehte ein nasser Wind, der das Wasser in wilden Stößen gegen die eingemummten Soldaten peitschte, die Milo auflauerten. Am nächsten Morgen, die Sonne brach zwischen Fetzen bleigrauer Wolken hervor, war der Ort wie ausgestorben, es gab nicht die leiseste Spur, dass dort während des Unwetters jemand in einen Hinterhalt gelockt worden war. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen, so als sei das Geschehene bloß der Albtraum eines Menschen gewesen, der sich an das Geträumte nicht erinnern kann.

Danach war es still um Milo geworden, bis eines Tages, viel später, ein fetter Kerl, allseits Provisorio genannt, ein Postbeamter, der wegen seiner furchteinflößenden Verbindungen zur Kaserne stets von Schweigen und Misstrauen umgeben war, Esnal eine Nachricht überbrachte, die dessen Seelengebäude in sich zusammenstürzen ließ.

Es passierte eines Abends, als Esnal, der sich mit einem Bier und einem Wälzer über die Geschichte des Altertums in eine Ecke der Bar verkrochen hatte, gerade versuchte, einen Satz auf sein eigenes Dasein zu beziehen, der am Giebel eines ägyptischen Tempel von Saïs geschrieben stand und welcher da lautet: »Ich bin der, der ist, der war und der sein wird, ohne dass je ein Sterblicher meinen Schleier gelüftet hätte.«

In diesem Augenblick verließ der Fettsack Provisorio die Theke der Bar, näherte sich mit dem unsicheren Schritt derer, die über Dünen laufen, und setzte sich Esnal gegenüber hin. Er wolle ihm seine Hochachtung erweisen, sagte er.

Esnal stellte das Bierglas neben den Ägyptern ab, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete Provisorio wortlos. Man wusste, dass dieser monströse Dickhäuter ein Zuträger der Putschisten war. Häufig sah man ihn mit Oberst Valerios Adjutanten einen Pott heiße Schokolade frühstücken.

Im Prinzip war Esnal ihm nie aus dem Weg gegangen und hatte nie Angst gehabt, ihn allein zu treffen. Aber obwohl er einige zwischen den Schultern eingesunkene Nacken an der Theke sah und das Gemurmel von Bekannten hörte, spürte er seltsamerweise, wie sich ein heimlicher Schrecken in seinen Eingeweiden ausbreitete und nach oben stieg, bis es ihm die Kehle zuschnürte. Schließlich stützte Esnal die Ellbogen auf den Tisch.

»Hochachtung wofür?«, fragte er düster und tauchte aus seinen Gedanken auf. Die gelbe Mähne regnete auf die Tempel von Saïs.

Der Fettsack blinzelte und begann, unbeholfen etwas daherzureden, was allem Anschein nach auswendig gelernt war. Es war eine grauenhafte Nachricht. Man merkte, dass er gemäßigtere Formulierungen vorbereitet hatte. Doch angesichts der offenen Ablehnung, die er in Esnals Augen las, entschloss er sich, geradeheraus zu sagen, er wisse aus zuverlässiger Quelle, dass Esnals Freund Milo Striga schon zwei Meter unter der Erde liege und die Margeriten eines Ortes dünge, dessen Lage er nicht präzise angeben könne.

Schweigend und seine Gesichtsmuskeln beherrschend, versuchte Esnal zu beurteilen, was er da hörte, denn in bestimmten Fällen, dachte er, wusste man intuitiv, ob jemand die Wahrheit sagte oder nicht. Und manchmal wusste man sogar, dass dieser Jemand gar keine Ahnung von dem hatte, was er eigentlich enthüllte, geschweige denn auf die Idee kam, dass er mehr enthüllte, als er gesagt hatte.

Als er sein Kinn zittern fühlte, verschränkte er mit Nachdruck die Arme vor der Brust. Er weigerte sich, die Mitteilung hinzunehmen, und da der Wälzer zugeklappt auf dem Tisch ruhte, konnte er sich einen Moment lang nicht erinnern, ob jener Satz am Tempel von Plutarch oder von Herodot überliefert worden war.

Ohne zwischen den Sätzen zu verschnaufen, neigte sich der fette Provisorio auf dem Stuhl zur Seite wie ein krängendes, obszönes Schiff, als beabsichtige er, die Bar mit einem seiner orkanartigen Fürze zu verheeren.

Dann riet er ihm: Wenn Esnal sich retten und jung bleiben wolle, solange die militärische Intervention andauere, müsse er nichts weiter tun, als die Zeitschrift El Tony mit ihren kriegerischen Comics zu sammeln und schlechte Gesellschaft oder Bücher, die Märtyrer verherrlichten, zu meiden, denn das führe nur dazu, schneller zu altern.

Mit grenzenloser Verachtung sah Esnal ihn an, hörte jedoch nicht auf zu zittern.

»Ich bin der, der ist, der war und der sein wird …«, sagte er plötzlich und lehnte sich nach vorn. Der Haarschopf hing erneut über den Tisch.

»Was redest du da?«, fragte der Fettsack irritiert, als habe er es mit einem Verrückten zu tun.

»Weder Plutarch noch Herodot. Porphyrios hat davon berichtet …«, antwortete Esnal, von der kurzen Flucht ins Altertum erwachend.

»Was hat er gesagt?« Der andere ließ nicht locker.

»Er hat gesagt, du sollst dich verdammt noch mal zum Teufel scheren …«

Der fette Provisorio reagierte, als habe ihn ein Piranha in einen wertvollen Bereich der unermesslichen Fläche seines Hinterns gebissen. Ruckartig erhob er sich, wobei er den Stuhl umwarf, machte eine Kehrtwendung und steuerte auf die Tür zu. Mit den Armen schlenkernd, schritt er zügig aus; weit schienen die Dünen jetzt hinter ihm zu liegen.

Im Kreis der anderen Gäste meinte Esnal vereinzeltes Gekicher zu hören. Er nahm an, dass der Fettsack es ebenfalls gehört hatte, bevor er verschwand.

Wortlos stellte der Baske Euskalduna einen weiteren Bierkrug vor ihn hin und ließ ihn in dem Abgrund allein, den der verabscheuungswürdige Mensch aufgerissen hatte. Keiner der Anwesenden störte ihn oder sprach ihn an, bis sie ihn gegen Abend aufbrechen sahen.

Wie ein Gespenst betrat Esnal auf dem Heimweg die öffentliche Bibliothek, gab den Wälzer über die Ägypter ab, wählte neue Bücher über die Geschichte der Menschheit aus und ging nach Hause. Er redete mit niemandem, war sich aber vollkommen darüber im Klaren, was er tun würde.

Am nächsten Morgen, während seine Mutter über ein derart unbegreifliches Verhalten jammerte, das ihr das Leben erschweren werde, verbarrikadierte Esnal das Schlafzimmerfenster mit sechs Holzbohlen, die er wütend übereinandernagelte.

Neben dem Kopfende seines Bettes stapelte er die am Abend zuvor mitgebrachten Bücher auf den Boden und stellte sechs Flaschen Bier griffbereit. Dann platzierte er das alte, wie eine dürftig beleuchtete Kapelle aussehende Westinghouse-Radio auf dem nach Arznei, Socken und Tabak riechenden Nachttisch. Schließlich zündete er in der letzten freien Ecke eine dieser dicken, weißen, stalaktitengleich tropfenden Kerzen an, und zwar so dicht an der Tischkante, dass er sie ausblasen konnte, ohne den Kopf vom Kissen heben zu müssen.

Als Esnal fertig war, schaltete er das elektrische Licht aus, warf die Tür mit lautem Knall zu und legte sich ganz langsam aufs Bett. Das Gesicht zur Decke gewandt, dachte er an nichts.

2

Die folgenden sechs Monate, während tagsüber die Sonne mit aller Macht durch die Ritzen zwischen den Holzbohlen zu dringen versuchte und die Nächte im hurtigen Tanz der Kerzen dahingaukelten, blieb Esnal im Zimmer eingeschlossen. Und wenn sich die Tür doch einmal öffnete, so höchstens für einen Fußmarsch von sechs weit ausholenden Schritten zum Bad oder damit seine Mutter, von der trostlosen Atmosphäre bedrückt, ihm einen Teller Nudeln mit Tomatensoße, das Päckchen Zigaretten der Marke Exeter oder ein von schmelzendem Eis überzogenes Patricia-Bier auf einen in der gotischen Dämmerung kaum sichtbaren Stuhl stellen konnte.

Jedes Mal, wenn sie die Tür hinter sich schloss, war ihre Betrübnis ein Stück gewachsen und brachte sie zum Weinen, denn die arme Frau begriff, dass jener schauderhafte Geruch nach Abgeschlossenheit, der alles durchtränkte und sich mit keinem ihr bekannten Mittel aufhalten ließ, in Wahrheit ein Unglücksmagma war, das sich an die Wände des Hauses heftete und das zu beseitigen ihr Sohn keinerlei Interesse zeigte. Im Gegenteil, es war offenkundig, dass er sein Geschick stoisch erduldete, in unvorstellbarer Einsamkeit, so als ginge es darum, eine auferlegte und angenommene Strafe ehrenvoll abzubüßen.

»Ich bin allein«, schluchzte sie und blickte durch den Türspalt auf eine stumme Straße hinaus. »Er isst und schläft nur, genau wie sein Vater. Von ihm aus könnte die Welt in Scherben gehen …«

Im Bett auf der Seite liegend, achtete Esnal nicht weiter auf sie. Er kannte die Umwege ihrer grauen Seele und die Wendungen ihres Gemurmels, aber sie waren ihm gleichgültig. Nach Mitternacht erst, wenn im Haus vollkommene Stille herrschte, fühlte er seine Lebensgeister wiederkehren. Jedes Geräusch, das das zugemauerte Fenster erreichte, schien ihm von einer so intensiven Aureole aus Schweigen umgeben, dass es sich beinahe in einen festen, einen einzigartigen und greifbaren Körper verwandelte. Im Allgemeinen jedoch hörte er bloß den Wind und manchmal, als komme er aus dem Nirgendwo, den starken Motor eines Bananentransporters, der wie ein fernes Gewitter über die Avenida Fabini rollte und in die eindrucksvolle Leere des Dorfes tauchte. Wenn der Lärm dann verklungen war und das schwache Glimmen der Zigaretten nur noch eine schwankende, zerbrechliche Stütze für die letzten Verstandesreste bildete, wälzte er sich unruhig hin und her wie ein vom Feuer bedrohtes Tier und schaltete den alten Westinghouse-Apparat an.

Er tat dies mit dem kurzen, rauschhaften Lustgefühl, das den kleinen Erlösungen eigen ist. Mit echter Begeisterung betrachtete er die Skala – jenes seine Finger umspülende Licht einer orangefarbenen Heiligkeit –, als sei sie eine abgelegene Kapelle für Kobolde, die sich erst dort einfanden, wenn die Lämpchen angezündet waren.

Dann kam das Knistern, das kosmische Rauschen, aus dem sich die neutrale, allmählich lauter werdende Stimme des Sprechers von Radio Nederland herausschälte und ein heimatloses Spanisch von sich gab. Die Stimme seines Vertrauten im Geiste.

»Mein Freund!«, rief Esnal gerührt, die Fäuste nach oben gereckt, wo sie sich im Dunkel verloren.

Andächtig lauschte er ihm eine Weile und stellte sich vor, der Sprecher sei der im All umherirrende Reisende, der unverhofft die unterbrochene Verbindung zu seiner Basis auf einem unsichtbaren Planeten wiederherstellt. Was bis zu Esnals Kissen gelangte, waren Meldungen über Millionen von gebrochenen Existenzen, die im unbeleuchteten Zimmer über ihm kreisten, so dass ihn schwindelte. Nachrichten über Schmerz, über Herren und Knechte, über weltweite Gewalt, die durch den Kurzwellenschacht strömten.

Und wenn ihm dabei ein ums andere Mal klar wurde, wie miserabel es um diesen Planeten stand, wenn er die Stimme seines Freundes aus den Niederlanden nicht mehr ertrug, eine Stimme, bar jeder Dramatik, eher geeignet, wissenschaftliche Erfolge aufzuzählen, als vom Hotel Palace in Saigon aus die Massaker von My Tho oder die sittenwidrigen Hungersnöte der Indios in all den vom Militär unterjochten Ländern Amerikas zu beschreiben, wenn er keinen Trost mehr fand und sein Glaube kein bisschen an Festigkeit gewann, dann schaltete er den Apparat plötzlich aus und ließ sich erneut in sein leeres, in Schweigen gehülltes Gebiet hinabsinken.

Diesmal jedoch kehrte er anders zurück. In einem Schiff kam er nach Hause, vom unwiderstehlichen Drang beseelt, das Leiden seines mageren Körpers zu bekämpfen, den vergänglichen, trotzdem aber angenehmen Geschmack des Waffenstillstands zu kosten. Energisch strampelte er mit den Beinen, riss sich das Laken vom Leib und schuf der Nacktheit, die ihn erwartete, eine berechenbare Schutzlosigkeit, durch die er bis zur Meerenge segeln wollte. Er machte sich bereit. Biss sich auf die noch nach dem abendlichen Bier schmeckenden Lippen und verschloss die Lider wie steinerne Tafeln gegen alle störenden Bilder. Keinen einzigen Gedanken, keine einzige Erinnerung an eine Frau gab es, die ihn angefeuert hätte. Nur die geschwinden Hände, verzweifelt an das Rettung verheißende Glied geklammert, um der unheimlichen, dunklen Meerenge entfliehen und endlich in Ruhe schlafen zu können.

3

Ein Mensch, der wie Esnal monatelang im Finsteren gelegen hat, findet es oft nützlich, von der Zeit mit dem nüchternen Blick ausgestattet worden zu sein, der die verborgenen Gebeine des eigenen Körpers errät, das fleischlose Grinsen und den Totenschädel, dessen Behaarung einer verdorrten Wiese immer ähnlicher wird.

Dennoch gelang es Esnal in den Tagen, als er in jenem Strom der Zeit Zuflucht suchte, der das Bewusstsein genauso schnell fortspült, wie es die Fluten von Bier tun, sich einen letzten Rest Hoffnung auf die geheimnisvolle Befreiung der Welt zu bewahren, über die der Sprecher von Radio Nederland immer wieder redete, wobei er das gleiche Vokabular verwendete wie Milo Striga, wenn der vom Aufstand der Arbeiter in der Zuckerfabrik der Familie Aznares geträumt hatte.

Vielleicht war es gerade das, was Esnal suchte, wenn er das Radio anschaltete und dabei Kraft schöpfte, auch wenn er von seiner Mutter erfuhr, dass draußen ein weiterer Sommer zu Ende ging und alles dahinzuwelken begann.

Doch obwohl die Zeit den trübsinnigen Gedanken im Herbst, in der Jahreszeit des Todes, schon von sich aus Vergessen gewährt, erwachte in jenem April etwas in Esnal mit solchem Lebensdrang, dass es ihn Erinnerungen entdecken ließ, die ihn in eine gänzlich unbekannte, zugleich aber irgendwie vertraute Euphorie versetzten. Ihnen zu begegnen bescherte ihm dieselbe Freude, wie sie Zechbrüder empfinden mögen, wenn sie am Ende eines Saufgelages zwischen den leeren Flaschen überraschend auf ein paar eisgekühlte Biere stoßen.

Eines der Erinnerungsbilder hatte mit dem Tag zu tun, an dem Milo Striga, der wie Esnal leicht angetrunken war, von einer altertümlichen, blaugesäumten Melancholie befallen wurde, die ihn auf die Idee brachte, gemeinsam mit der kleinen Mercedita das Grab seines Vaters zu besuchen.

Es war das erste Mal, dass das Mädchen den Friedhof von Mosquitos betreten sollte, und eine verquere Beziehung zum Tod hatte zur Folge, dass Esnal eine unerträglich hitzige Diskussion zwischen ihren Eltern über sich ergehen lassen musste, denn Milos Frau hielt es für absurd, vor allem aber für unnötig, Mercedita einer solchen Erfahrung auszusetzen. Nicht etwa weil es verfrüht gewesen wäre, sondern weil alle, auch Milos Mutter, darin übereinstimmten, dass der Verstorbene zu Lebzeiten im besten Falle ein schlechter Mensch gewesen war.

Tatsache jedoch ist, dass Milo, Mercedita und Esnal kurz nach zwölf Uhr, während die Gehöfte der Umgebung sich bereits sanft in der schweren Luft der Siesta wiegten, den Friedhof betraten.

Schweigend schlenderten sie die Kieswege entlang, an den dürstenden, grünlich schimmernden Gräbern eines Mosquitos vorbei, das sang- und klanglos in die vollkommene Stille hinübergewechselt war, bis sie vor einem schlichten Grabstein stehen blieben, der genauso schäbig aussah wie der Marmor eines alten Nachttischs.

In der glühenden Dezembersonne verharrend, vom Bier benebelt und ohne die Hand der Kleinen loszulassen, die wegen des unbegreiflichen Lärms der Stare in den Bäumen verstummt war, legte sich Milo mit der Respekt heischenden Gebärde eines Betrunkenen den Finger auf den Mund und versuchte, den Blick auf die Inschrift vor seiner Nase zu richten: R. I. P. Arpad Striga 1889–1964.

»Hier, Töchterchen …«, sagte Milo und deutete mit dem Finger, der eben noch um Ruhe gebeten hatte, auf die verblassten Buchstaben. »An dieser Stelle liegt dein lieber Großvater, und hier wird er für alle Zeiten liegen. Der Vater deines Papas, der große Arpad …«

»Lass das ›groß‹ besser weg, dann bist du gerecht«, bemerkte Esnal leise und setzte sich auf eine riesige, glänzende schwarze Marmorplatte, die Zufluchtsstätte einer Gründerfamilie.

Dieser unpassende Einwurf brachte Milo völlig aus dem Konzept. Um den verlorenen Faden wiederzufinden, sah er lange zum Himmel hinauf. Weit oben über den Kiefern kreisten zwei Raben wie Hausengel, stiegen immer höher und verschwanden aus seinem Blickfeld. Da senkte er die leuchtenden Augen und suchte einen Platz zu Füßen seines Vaters, wo er sich mit von der Sonne gerötetem Gesicht niederließ, Esnal und der Kleinen gegenüber, die sich im Schatten erholten.

Freundschaftlich, wie auf die Kruppe eines Pferdes, klopfte er mit der flachen Hand auf den Grabstein und wiederholte, dass dort der große Arpad liege, der Mann, der ihn zu dem gemacht habe, was er sei: ein halb uruguayischer, halb magyarischer Krieger, der das Leben genauso inbrünstig liebe, wie es der alte Miklós geliebt habe, ein Großvater, den er nur vom Hörensagen kenne, der jedoch dem ewigen Abenteurertum ebenso zugeneigt gewesen sei wie er.

Esnal überlief ein Schauer. Er nahm Mercedita, die sich neben ihn gesetzt hatte, bei der Hand. Den Blick auf seine Knie geheftet, schloss er allmählich die Augen. Hörte Milos von der Stille und vom Marmor verstärkte Stimme, wie sie über Arpads Vater, den Großvater Miklós, sprach, über Zugvögel, barbarische Winter und uralte Wölfe beschwörend, über Zeiten, in denen sein Urgroßvater, Iván Striga, ein zu flüchtiger Berühmtheit gelangter Halunke, auf der Donau bei Tage seinen Beruf als Steuermann von Flussschiffen und bei Nacht den eines Piratenhauptmanns ausgeübt hatte. Dann machte Milo einen unerwarteten Sprung noch weiter zurück in die Vergangenheit und holte den fernen Zsigmond Striga nach Mosquitos, den Künstler der schmiedeeisernen Balkone von Sopron, einen Schwachkopf, der nicht in der Lage gewesen war, den Speichel zurückzuhalten, aber durchaus fähig, zwei Brüdern aus der Familie Esterházy, Herren über Leben und Tod, das Genick zu brechen. Und noch weiter zurück bis zu Miroslav Striga, dem Magier, der vom Vergessen verschont blieb, weil er sein Haus in Zagabria und das elfte Jahrhundert, in dem er gelebt hatte, auf einen Schlag verlassen hatte. Dem es gelungen war, auf dem Rücken seiner Zaubertricks durch die Epochen zu reiten, seine Haarfarbe nach Belieben zu wechseln und Türken wie Deutschen, Chasaren wie Petschenegen, Tataren wie Kumanen ans Bein zu pinkeln, dabei stets von seinem dämonischen Gelächter in mehreren Sprachen begleitet, auf dessen Widerhall hin die Musketen von allein schossen und die Bücher in den Regalen durcheinanderpurzelten.

»Doch am meisten fesselt mich der Bursche Jokái Striga, der sich in einem Stall in Transsilvanien mitten im Winter 966 die Füße wusch …«, sagte Milo und führte die schwere Zunge über die Lippen.

»Das ist die Sage von den kriminellen Großvätern aus Ungarn, Mercedita …«, erklärte Esnal. Mit solch feinen Tropfen Gift würzte er das Gespräch.

»Ich frage mich bloß, wozu du mitgekommen bist …«, meinte Milo grollend, die Augen in der schon nicht mehr ganz so senkrecht stehenden Sonne zu Schlitzen verengt. »Ob nun gut oder schlecht, es ist meine Erinnerung. Und der Herr Esnal, worauf kann der zurückblicken …? Zum Teufel: auf einen mickrigen Arsch, den Kim Novak, und das war’s dann auch schon …«

Mercedita sah Esnal, der wie unter einer Maske tief zu atmen schien, aufmerksam an und wartete, dass er ihrem Vater antwortete. Milo indessen gab sich unversöhnlich, und zwar so sehr, dass er alle Kräfte mobilisierte und sich auf seine Fersen hockte, um sich einzig an Mercedita zu wenden:

»Töchterchen, ich werde dir etwas sagen, was kein anderer dir sagen wird. Sie alle, angefangen beim fernen Jokái, dem Letzten in der Reihe, über Miroslav den Zauberer, den Idioten Zsigmond, den Piraten Iván, den alten Miklós bis hin zum großen Arpad, der hier liegt, verbindet mehr mit mir und dir als nur der Name Striga. Sie alle besaßen ihr eigenes Kreuz, ein blaues Kreuz, das sie aus der Not rettete, und wer es aus irgendeinem geheimnisvollen Grund der Natur nicht besaß, der starb an Krankheit, Hunger oder Vergessen. Und an seinen Namen erinnert sich niemand mehr, egal wie sehr sich das Gedächtnis durch die Jahrhunderte auch abmühen mag. Niemand.«

Kaum hatte er ausgeredet, begann Milo sein Hemd aufzuknüpfen. Starr blickte er Mercedita an:

»Komm, zeig Esnal deine Schulter …«

Die Kleine zog den elastischen Halsausschnitt ihres T-Shirts bis über die Schulter herunter und drehte sich um, damit Esnal ihr Kreuz aus blauen Pigmenten erkennen konnte. Als sie sah, wie er vor Überraschung die Brauen hochzog, rückte sie das T-Shirt wieder zurecht. Dann zog Milo einen Ärmel seines Hemds aus und wandte sich ebenfalls zur Seite. Auf seinem schweißglänzenden Rücken fand sich das gleiche Zeichen, obwohl es blasser wirkte als das von Mercedita. Es war ein makelloser Abdruck, einem Malteserkreuz ähnlich, aber mit kürzerem Fuß, fast eine Wappenlilie.

Mittlerweile in der Sonne sitzend, zuckte Esnal unter seiner gelben Mähne die Achseln. Letztlich, sagte er, neide er niemandem sein Kreuz, unabhängig davon, wie viele sabbernde Verrückte, Piraten und Zauberer dahinterständen, und er fügte hinzu, weder im positiven noch im negativen Sinne bedeute dieses Mal eine Auszeichnung, da es offensichtlich sowohl die guten als auch die bösen Strigas hätten, was Milos Geschichte zum simplen Bluff eines Verzweifelten mache.