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Thomas Reich

Christoffer II

Blutzoll





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Blutzoll

Christoffer II

Blutzoll

 

 

Thomas Reich

Text: 2008 © von Thomas Reich

 

Cover © http://www.publicdomainfiles.com/show_file.php?id=13548499219446 + https://pixabay.com/de/photos/blut-spritzer-der-fleck-rot-1715010/ mit Änderungen

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Auf vielfachen Wunsch... die Fortsetzung von Christoffer:

 

Dank Doktor Sommerbergs Fehleinschätzung gelingt Serienmörder Christoffer die Flucht aus dem Gefängnis. Die Welt ist für ihn ein Schlachthaus. Mit unglaublicher Brutalität setzt er diesen Traum in die Realität um.

Gelingt es Doktor Sommerberg, ihn aufzuhalten oder lässt er sich auf ein gefährliches Katz- und Mauspiel ein?

Einzelhaft

Hass. Niemals enden wollender Hass. Der ihn nicht schlafen ließ. Nachts, wenn der Mond in seine Zelle schien, glühte die Flamme des Zorns hinter seinen geschlossenen Augen und ließ ihm die Welt taghell erscheinen. Fraß sich die Hitze durch seine Lider.

Doch Vorsicht mit der Innenwelt. Innen war nicht außen. Wo wäre das denn je klarer gewesen. Als im Gefängnis. Aber er würde nicht ewig hier bleiben. Nicht wie diese Kinderschänder und Handtaschenräuber, die zu Recht ihre Strafe absaßen. Nein, er verdiente es nicht, hier zu sein. Er würde bald schon wegen guter Führung entlassen werden. So hoffte er. Weil er sich zu benehmen wusste. Anders als diese Rohlinge, deren Kämpfernatur nie über die nächste Hofprügelei hinaus reichte. Wobei sich keiner von denen mit ihm anlegte. Sie durchschauten sein Spiel. Sahen, dass sein Lächeln nur den Wärtern galt. Der lange Weg zum Respekt. Seit seiner Ankunft vor drei Jahren.


*


Die Presse hatte ihn in der Luft zerrissen. Für sie war er nichts als ein Monster, das es nicht wert war, den Namen Mensch zu tragen. Oh wie ungeschickt war er damals gewesen! Aber wenn man jahrelang keine Parkmünze einwarf, bekam man irgendwann einen Strafzettel. Simples Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Oder man beobachtete die Knöllchensammler. Schlich ihnen hinterher. Lernte ihre Routen kennen. Wusste, wann man sicher war. Christoffer bereute keinen der insgesamt siebzehn Morde, die ihm zur Last gelegt wurden. Er sah allerdings seinen Großmut, seine Überheblichkeit ein. Begriff, dass er nicht unantastbar war. Er hatte unüberlegt gehandelt, sich zu sehr von seinen Instinkten leiten lassen. Und diese unterschieden sich nicht allzu sehr von einem Tier. Was Christoffer nicht allzu viel ausmachte. Er hatte mit seinem schwierigen Charakter seinen Frieden geschlossen. Wozu sich ändern?

Genauso hatte ihn das Gericht eingeschätzt. Und ihn zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Aber er hatte doch noch soviel vor. Seine dunklen Träume. Die Ströme aus Blut, durch die er waten wollte.

An eine Rehabilitation glaubten weder die Eltern der Angehörigen, die medienwirksam vor seinen Füßen ausspuckten, noch der Gerichtspsychologe, der ihm eine schwere Persönlichkeitsstörung diagnostizierte. So einer wie der ändert sich nie.

Im Gefängnis wurde er von den Wärtern misstrauisch beäugt, als hätten sie es mit Hannibal Lector persönlich zu tun. Christoffer konnte sie verstehen. Er hatte gegen die Regeln verstoßen. Schlimm war nur, dass er sich dabei hatte erwischen lassen. Er würde ihr Vertrauen wieder gewinnen. Stück für Stück. Die erste Zeit kam er in eine Einzelzelle. Er durfte nicht zusammen mit den anderen Häftlingen die Mahlzeiten einnehmen. Kein Messer, keine Gabel. Er war dazu verdammt, mit einem Löffel zu speisen. Wie ein Kleinkind. Von den Erwachsenen (oder denjenigen, die sich für vernünftiger hielten) die Zivilisation eingetrichtert.


*

„He du!“

Christoffer hob den Kopf. Er hatte die ganze Zeit eher abwesend auf einem Stein gesessen und sich mit den Gedanken an abgeschnittenen Brüsten gewärmt. Der Herbst kroch mit seinen klammen Fingern in das alte Gemäuer. Er hatte die Anfangszeit ganz gut überstanden. Nach den Gesprächen mit dem Gefängnisseelsorger waren die Herren von der Anstaltsleitung fürs erste beruhigt. Christoffer wusste seine Wirkung zu dosieren. Hätte er sich vor ihre Knie geworfen und um Vergebung gebettelt, hätte selbst der Dümmste unter ihnen an seiner Aufrichtigkeit gezweifelt. Nein, wenn er sie geschickt manipulieren wollte, musste er behutsamer vorgehen.

Unsicher wirken, ohne es zu sein. Schüchtern, aber lernwillig. Nicht-begreifen-können-wie-das-alles-geschehen-konnte.

Er bat den Seelsorger um eine Bibel. Für ihn, den ewigen Atheisten. Das war doch der Gipfel des Hohns! Doch Frömmigkeit kam immer gut, und könnte ihm langfristig den Weg ebnen, als reumütiger Sünder dazustehen, der Halt in Gott fand.

„Ich rede mit dir!“

Der Typ, der sich so imposant vor ihm aufgebaut hatte, war ihm vom Anstaltsklatsch hinlänglich bekannt. Ein verweichlichter Glatzkopf mit ordentlicher Plautze. Nicht mehr als ein besserer Lakai der wirklich bösen Jungs.

„Was willst du?“

„Dein Schutzbeitrag ist fällig.“

„Schutz vor was?“

„Na, Schutz davor, verprügelt zu werden.“

„Soso, du meinst also, ich bräuchte Schutz.“

„Ja.“

Der Fettklops wischte sich Schweiß von der Stirn.

„Dann sag deinem Boss, er sei ein Feigling, der sich nicht weiter an mich herantraut, als seine Handlanger traben können.“

„Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst.“

„Er auch nicht. Ist zwar schon lange her, dass ich einem Menschen bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen habe, aber ich hätte mal wieder richtig Lust drauf. Sag ihm, ich werde den Boden mit seinem Blut aufwischen, wenn er mich nur anrührt.“

„Ich werde es ihm ausrichten.“

„Schön, dass wir das miteinander besprochen haben.“

Mit eingezogenen Schultern zog Klopsy von dannen. Christoffer würde mit Sicherheit nicht eine Verlängerung seiner Haftstrafe wegen den Idioten hier drin riskieren, die den wahren Sinn des Spiels nicht begriffen. Aber wenn es hart auf hart kam… würde er ihm das Herz heraus reißen und in sein sterbendes Gesicht spucken. Empfange deine letzte Ölung… du Bastard!

Die anderen Häftlinge zuckten zusammen, als Christoffer völlig allein in seiner Ecke sich vor Lachen schüttelte.


*


Nein, Freundschaften zu schließen, fiel schwer. Er wahrte Distanz. Die Gefängnisleitung zeigte sich zugleich zufrieden und besorgt. Zufrieden, weil sie anfangs in ihm den Unruhestifter in spe wähnten. Besorgt, weil er sich nicht in die Gruppe zu integrieren vermochte. Man steckte ihn mit einem kürzlich festgenommenen Gotteskrieger in eine Zelle, der einen Terroranschlag auf das Berliner U-Bahnsystem geplant hatte. Wie sich zeigen sollte, verstanden sich die beiden prächtig. Verschiedene ethnische Hintergründe waren schnell vergessen. Gemeinsam war ihnen der Hass und die Bereitschaft, Frauen mit Gewalt zu maßregeln.

Christoffer ging nach dem Frühstück in die Werkstatt, arbeite dort bis zum Mittagessen, dann noch mal weiter bis um sechzehn Uhr. Ein Rhythmus, der sich kaum von anderen Erwerbstätigkeiten unterschied. Arbeiten, um die Miete reinzubekommen. Der Steuerzahler wollte, dass sie sich ihre Zelle hart verdienten. Christoffer bedruckte Folien. Plastiktüten für Aldi. Plastiktüten für Kaufhof. Wenn er lange genug durchhielt, könnte er eine Ausbildung zum Reprovorlagenhersteller abschließen. Ihn interessierte die Programmierung. Der Meister wies ihn gerne in die Möglichkeiten der grafischen Software ein.


*


„Ich habe ja begriffen, dass ich meine Taten nicht rückgängig machen kann. Aber wie soll ich an den Familien Wiedergutmachung leisten?“

„Nun, dazu bist du hier. Um deine Strafe abzusitzen.“

„Rache ist keine Lösung. Ich habe ihre Seelen gebrochen, und nun will man meine brechen.“

„Es geht nicht darum deine Seele zu brechen, sondern aus Fehlern zu lernen.“

„Ich will mich persönlich bei den Angehörigen entschuldigen.“

„Das, mein lieber Christoffer, dürfte kaum möglich sein. Sie sind noch nicht so weit, dass sie dir verzeihen würden.“

„Und wenn es von Herzen kommt?“

„Vor Gericht hast du nicht einen Funken Reue gezeigt. Dieses Bild hat sich in ihren Köpfen eingebrannt.“

„Ich hätte eine Idee, Doktor Sommerberg.“

„Und die wäre?“

„Die Kraft der Medien. Arrangieren Sie ein Interview mit einer einem Boulevardjournal.“

„Wir machen aus ihnen keinen Jack Unterweger!“

„Unterweger hat sich die Freiheit über seine Literatur erschlichen. Ich will mich nur bei den Familien entschuldigen, denen ich so viel Leid angetan habe.“

„Wenn wir ihnen einen derartigen Auftritt gewähren würden, müssten wir es anderen Häftlingen auch gestatten. Wo kämen wir denn da hin?“

„Über meine Grausamkeit wurden von der Presse lang und breit berichtet. Da wäre es nur richtig, wenn sie auch meine Reue zeigen würden. Vergessen Sie die anderen Häftlinge, die nie über einen Bildschirm geflimmert sind. Ich bin bereit, selbst etwas für meinen Lernprozess zu tun. Wollen Sie mich unterstützen?“

„Na schön. Ich werde mich für dich einsetzen. Aber keine falschen Tricks. Es geht nur um deine Reue.“

„Warum vertrauen Sie mir nicht?“

„Ich glaube dir, dass deine Reue aufrichtig ist. Mehr auch nicht.“

„Vielen Dank für ihre Geduld, Doktor Sommerberg.“


*


„Hier ist Explosiv, das Magazin, mein Name ist Nazan Eckes. Die Themen im Überblick:



Kameraschnitt. Aufnahme aus dem Besucherraum der JVA Euskirchen.

„Christoffer sitzt eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen siebzehnfachen Mordes ab. Bekannt wurde er dadurch, dass er seinen Opfern die Lippen abbiss und diese sammelte.“

Christoffer saß in einem abgewetzten grauen Sessel, zu seiner Linken Doktor Sommerberg, der Anstaltspsychiater, zu seiner Rechten Harry Mesens, sein Anwalt. Christoffer wirkte entspannt, die Haare waren glatt gekämmt, sein Kinn rasiert. Er trug die gleiche Fernsehschminke, wie sie einem Moderator gebühren würde. Doktor Sommerberg ergriff das Wort.

„Als er bei uns eingeliefert wurde, hatten wir nicht mit einer Änderung seines psychischen Zustandes gerechnet. Doch in den letzten Wochen hat er erhebliche Fortschritte gemacht. Er arbeitet die Morde auf, könnte man sagen.“

„Christoffer, die Zuschauer möchten wissen, wie es Deutschlands gefährlichstem Serienmörder geht.“

Doktor Sommerberg wollte einlenken, aber Christoffer wiegelte ab.

„Die Frage ist gerechtfertigt. Ich war nicht immer Herr über mich selbst und habe schreckliches Leid über viele Familien gebracht.“

„Und jetzt haben Sie sich im Griff?“

„Ich bereue meine Taten.“

„Aber damals genossen Sie das Morden. Das waren ihre Worte vor Gericht.“

„Natürlich. Und ich wäre ein Lügner, wenn ich es abstreiten würde. So schrecklich es sich auch anhören mag, damals hatte ich wirklich eine perfide Freude daran. Es fällt mir schwer nachzuvollziehen, wer ich einmal war.“

„Sind Sie schizophren?“

„Schön wäre es. Ich beherberge keine zwei Persönlichkeiten in mir. Ich bin, wer ich bin. Töten ist Teil des Überlebensinstinktes. Wir unterscheiden uns von den ersten Menschen nur durch unsere soziale und kulturelle Prägung. So gesehen ist jeder von uns ein Mörder.“

„Wenn das stimmt, warum morden wir dann nicht alle?“

„Weil wir nicht mehr auf unsere alten Instinkte hören. Und das ist auch gut so. Ich hätte das viel früher lernen können.“

„Und jetzt unterdrücken Sie ihre Instinkte?“

„Ich bitte Sie. Das klingt ja, als wäre ich eine tickende Zeitbombe. Kennen Sie die Evolutionstheorie?“

„Ich kann ihnen nicht ganz folgen.“

„Ich meine damit, wir entwickeln uns weiter. Irgendwann sind alte Gewohnheiten nicht mehr wichtig. Sie fallen von uns ab, wie die Körperbehaarung des Neandertalers.“

„Und der neue Christoffer ist ein ganz Anderer?“

„Genau so.“

„Welche Wünsche und Träume hat der neue Christoffer?“

„Nun, ich bin stärkeren Restriktionen unterworfen als die anderen Häftlinge.“

„Welche sind das?

Doktor Sommerberg meldete sich zu Wort:

„Da wir nicht wussten, wie er sich im Gefängnis verhalten würde, verlegten wir ihn in eine Einzelzelle. Nachdem wir seinen Geisteszustand stabilisierten, ließen wir mehr und mehr Kontakte zu anderen Häftlingen zu.“

„Stimmen Sie mir zu, dass Christoffer gleich bei seiner Einlieferung von ihnen stigmatisiert wurde?“

„Nein, nur gewisse Vorsichtsmaßnahmen. Er wurde vom Gericht als schwerstgefährlich eingestuft.“

„Was sich als Fehlentscheidung herausstellte.“

„Nein. Als er zu uns kam, war er es.“

„Christoffer, werden Sie jetzt gleichbehandelt?“

„Sie erlauben mir keine spitzen Gegenstände. Das beinhaltet sowohl Messer und Gabel, als auch Werkzeug in den Gefängniswerkstätten.“

„Sie verdienen es nicht, wie ein Tier behandelt zu werden.“

„Mein Psychiater ist da anderer Ansicht.“

„Gibt es etwas, was Sie unseren Zuschauern mit auf den Weg geben möchten?“

„Nicht den Zuschauern direkt, aber den Angehörigen meiner Opfer.“

„Bitte.“

Die Kamera zoomte näher heran, hielt auf Christoffers Gesicht.

„Ihr Familien draußen vor den Fernsehschirmen. Ich weiß, dass keine Entschuldigung der Welt eure Lieben wieder lebendig machen kann. Ich will auch nur den Schmerz lindern, den ich bereitet habe. Es tut mir Leid, dass ich euch verhöhnt habe. Es tut mir Leid, für meine Dummheit, meine Maßlosigkeit, meine Gier.“


*


Am nächsten Tag titelte die Bild-Zeitung in großen Lettern BEHANDELT IHN NICHT WIE EIN TIER- CHRISTOFFER BEREUT! In mitternächtlichen Diskussionsrunden auf Phoenix wurde sein Fall wieder aufgegriffen. Vielfach wurden Stimmen lauter, die Hafterleichterung für ihn forderten. Hatte nicht jeder Mensch das Recht auf Vergebung und Wiedergutmachung? Die Familien der Opfer verweigerten kategorisch jegliche Interviews. Die Diskussion spaltete die Medien in zwei Lager. Die einen, die ihm Hafterleichterung wünschten, und die anderen, die ihn am liebsten in einer fensterlosen Zelle bei Wasser und Brot gesehen hätten. Wie Doktor Sommerberg befürchtet hatte, wurde der Vergleich zu Jack Unterweger gezogen, allerdings wurde man sich schnell einig, dass der Österreicher Serienmörder seinerzeit anders beurteilt wurde, da er als verstoßener Künstler galt. Zudem hatte man sich geirrt, und Unterweger hatte nach seiner Freilassung weiter gemordet.


*


„Ein geschickter Schachzug, Respekt.“

Doktor Sommerberg kochte vor Wut.

„Dein Gesicht ist wieder in allen Zeitungen. Die Massen fordern Hafterleichterung, aber genau darauf hast du es ja angelegt.“

„Ich bitte nur um das, was mir zusteht.“

„Mich täuscht du nicht! Du hast mich überrumpelt. Mein Chef macht mir die Hölle heiß, dass ich dem Interview zugestimmt habe. Und was mir am meisten an der ganzen Sache stinkt, ist, dass du so einfach damit durchkommst.“

„Wie meinen Sie das?“

„Die Gefängnisleitung beugt sich dem Druck der Medien. Morgen wirst du in den Minimum-Sicherheitstrakt verlegt.“


*


Ein Tapetenwechsel würde ihm gut tun. Die Gemüter beruhigen nach dem Medienspektakel. Leider musste er seinen mittlerweile lieb gewonnenen islamistischen Zellenkumpel gegen einen mürrischen Scheckkartenbetrüger eintauschen. Einfach keine Klasse. Traurig auch, wegen welchen Nichtigkeiten man im Strafvollzug landen konnte. Keiner konnte ihm das Wasser reichen. Ihre Konversation beschränkte sich auf das Notwendigste. Christoffer freute sich auf seine neuen Aufgaben. Er würde sich alles genau ansehen. Jedes System hatte seine Stärken. Und Schwachstellen.


*


Sie arbeiteten im Grünstreifen des Gefängnisses, fernab vom Haupttor. In den nächsten Monaten sollte ein neues Kanalrohr verlegt werden. Arbeitseinheit 23 B gehörte zu den Privilegierten. Außendienst mit leichter Überwachung. Das hieß eine dünn gesäte Kette von Wachposten, manchmal nur einer. Der Zaun im äußeren Gürtel war nicht allzu hoch. Wer es bis hierhin schaffte, dem vertraute man. Ihr Tätigkeitsbereich umfasste Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten der äußeren Peripherie. Um es nicht falsch zu verstehen: Es handelte sich um keinen Freibrief für eine Rehabilitation. Es ging lediglich von Hafterleichterungen, Vergünstigungen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Um die Masse der Sünder ruhig zu stellen. Ihnen einen Anreiz zu geben. Wie Lotto für Millionen Arbeitslose. Wurden sie mit dem schalen Abglanz der Freiheit abgespeist.

Tack-tack. Tack-tack. Tack-tack. Immer mit der Hacke in den Boden. Wie am Fließband. Auf offenem Gelände. Offene Wunde. Tack-tack. Tack-tack. Tack-tack. Die Spaten und Hacken seiner Kollegen. Die stumpfe monotone Arbeit. Die surrenden Mücken. Seine schmerzenden Schultern. In seinen Ohren dröhnte das Schwingen der Hacken, und vor seinem geistigen Auge tat sich ein Fenster auf:

Der nächste Wald, die gleiche Dame: wie unter ihm das blutige Bündel lag, was einst ein Mensch gewesen war. Seine Hand führte ein Klappmesser, keinen Klappspaten. Christoffer verlor jedes Interesse an dem Loch, an dem er arbeitete und hob seinen Spaten hoch in die Luft.

„Leg das weg!“

Christoffer grinste in sich hinein, sein Gesicht verborgen im Schlagschatten der Mittagssonne. Sie umstrahlte ihn wie die Korona eines Heiligen. Mit einer schnellen, schwungvollen Geste ließ er den Spaten auf das Handgelenk des Wachmanns sausen. Dieser erkannte Christoffers Vorhaben, spannte den Abzugshebel und-

hörte sein Handgelenk splittern, die Waffe fiel zu Boden. Eine Welle aus Schmerz schoss seinen Arm hoch.

„Willst spielen, du Mistsau, was?“

„Leg den Spaten weg. Wir können über alles reden.“

Der Wachmann griff sich an die Jacke, als wollte er sich kratzen. In Wirklichkeit galt seine Hoffnung dem Funkgerät in der Brusttasche. Einen Sekundenbruchteil später flog er durch die Luft. Der harte Aufprall drückte ihm die Luft aus den Lungen.

„Du wirst blind und stumm durch die Hölle wandeln.“

Schützend hob er die gesunde Hand vor sein Gesicht, aber Christoffers Finger fanden seine Augäpfel trotzdem, bohrten sich tief in die Höhlen und zogen sie mit einem fleischigen Schmatzen heraus. Gerade, als der Wachmann den Mund zu einem Schrei öffnete, verschlossen Christoffers Lippen ihn. Für die umstehenden Häftlinge sah es wie die groteske Parodie eines Kusses aus, doch der Wachmann spürte wenig Zärtlichkeit in dieser Geste, als Christoffer ihm die Zunge abbiss, und sie blutig wie sie war, auf den Boden spuckte.

„Du hast mir nichts zu sagen, hörst du? Denn Hören ist das Einzige, was ich dir gelassen habe. Schätze dich glücklich, dass ich es dir nicht auch noch nahm.“

„Das hat er verdient. Du hast das richtige getan, Christoffer. Wirst du uns jetzt verlassen?“

„Je schneller je besser. Frische Spuren verraten die Beute.“

Er hob die Pistole vom Boden auf und rieb sie an seiner Jackentasche sauber.

„Vergiss es, du bist der Jäger.“

„Ja, das bin ich. Gehabt euch wohl.“

Christoffer kletterte über den Maschendrahtzaun.


*


Auf der anderen Seite lag ein Wald, und die neue Freiheit roch nach Moos und Tannen. Christoffer atmete einhundert Prozent Sauerstoff. Er musste aufpassen, sonst erlitt er noch den Tiefenrausch und trieb mit geplatzten Lungen an der Wasseroberfläche wie ein Fisch, der zu schnell Auftrieb bekam.

Er wunderte sich, dass er als Einziger die magische Grenze überschritten hatte. Es war ein Alleingang erster Güte gewesen. Der seinen Wärter und die Mitgefangenen überraschte. Er brauchte keine Hilfe von Niemanden. Ein letzter Schulterblick zeigte ihm eine Herde dumm dreinblökender Schafe. Die wartete, dass die Arbeitseinheit abgeholt wurde, zurück ins sichere Heim. Wie konnte man so abstumpfen, dass einem der Knast als Zuhause erschien? Kein Kampfgeist, kein Mannschaftskorps? Nur die Stärksten überleben! Erst einmal musste er aus dem Wald heraus, bevor sein Fehlen in der Truppe bemerkt wurde. Er rannte. Durch Äste, die ihm ins Gesicht peitschten. Seine brennenden Lungen und der schwache Duft der Beute. Er nahm Witterung auf. Die Jagdsaison war eröffnet.

Der Wald endete so abrupt wie er begonnen hatte. Christoffer stürzte auf die Bundesstraße, die das Grün teilte. Er hörte das Quietschen der Bremsen, als ein Auto nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt anhielt. Ein vor Gesundheit strotzender Mittfünfziger stieg aus.

„Mein Gott, ist ihnen etwas passiert?“

„Ich glaube nicht.“

Christoffer zog die Pistole aus der Jacke und schoss dem Mann ein Belüftungsloch in den Denkapparat. Er blieb einen noch kurzen Moment aufrecht stehen, sein Gesicht eine Maske ungläubigen Staunens.

Christoffer stand auf und versorgte die Leiche vorübergehend im Kofferraum. Bestimmt nicht die beste Lösung, aber darum sollte er sich zu einem späteren Zeitpunkt kümmern. In der Haftanstalt wurde der Alarm ausgelöst. Die Bäume verstärkten und zerstreuten den Schall zugleich, Christoffer schlug fluchend den Kofferraumdeckel zu und fuhr los. Zügig, aber angemessen. Der Ford war noch nicht als gestohlen gemeldet. Er lebte also von dem Zeitfenster, das er aufgestoßen hatte. Apropos Fenster: hast du das Loch gesehen, das der Typ in der Stirn hatte? Ein wahres Fenster zu den Sternen! Er würde soviel Kilometer hinter sich legen wie möglich. Nie schneller fahren als erlaubt. Polizeikontrollen konnte er sich nicht erlauben. Dann musste er die Leiche loswerden.

Er hielt sich in südlicher Richtung auf der Landstraße. Euenheim. Wißkirchen. Obergartzem. Gescheiterte Träume der Vorstädter. Durch Dreißigerzonen und Einkaufsstraßen. Spielende Kinder, Hausfrauen bei den Wocheneinkäufen. Die Welt hatte sich kaum verändert. Weiter. Benimm dich normal, und alle halten dich für normal. Kurz nach Kommern fand er endlich, was er suchte. Derselbe Herr, der nächste Wald. Er fuhr in eine Schneise, verbarg den Wagen hinter einem Stapel frisch geschlagener Bäume. Kurzfristig widerstand er dem Impuls, die Leiche gleich dazu zu legen. Gleiches zu Gleichem. Frisch gefällt in der Blüte seiner Jahre.

Moment. Er drehte ihn auf den Rücken und filzte seine Hosentaschen. Na also, eine Brieftasche. Voll mit Fotos von Kindern, ein blonder Junge und ein dunkelhaariges Mädchen. Seine wunderschöne Frau. Hat er gar nicht verdient, der Drecksack. Der Witwenmacher hat wieder zugeschlagen. Vierhundert Euro in bar, Christoffers Reisekasse. Ein Personalausweis, unwichtig. Wen zum Teufel interessierte es, wie der Kerl hieß? Wenn, dann höchstens die Polizei. Ein namenloser Toter würde ihnen Rätsel aufgeben. Also die Brieftasche mitnehmen und später verbrennen. Er bedeckte die Leiche so gut es ging mit Moos und losen Zweigen. Für mehr war keine Zeit, er musste weiter.



Wer rastet, der rostet

Euskirchen. Der bekannte Serienmörder Christoffer ist aus der JVA Euskirchen geflohen. Bei seiner Flucht wurde ein Wärter schwer verletzt. Die Gefängnisleitung geriet dabei in schwere Kritik, da sie seine Haftbedingen erst vor kurzem gelockert hatte. Christoffer brachte von 1992 bis 2002 siebzehn Menschen um.





Die erste Einschätzung Doktor Sommerbergs im Gerichtsverfahren gegen den Serienmörder Christoffer war wohl am zutreffendsten: Christoffer stellt eine massive Gefährdung für die Allgemeinheit dar und gehört lebenslang hinter Gitter. In der vergangenen Woche galt diese Diagnose als überholt, Christoffer auf dem besten Wege der Rehabilitation. Eine Erleichterung seiner Haftauflagen erwies sich als folgenschwerer Irrtum. Bei seiner Flucht verletzte er einen Wachmann schwer (wir berichteten). Daher fordern wir öffentlich: Sommerberg, tritt zurück!


Anstaltsleiter Hagedorn betrat den Pausenraum.

„Sparen Sie sich das Gerede. Ich weiß Bescheid.“

„Bis wann bin ich noch im Dienst?“

„Darf ich dazu noch etwas sagen?“

„Ich halte Sie für einen aufgeblasenen, schäbigen Arsch, der sein Fähnlein im Aufwind der Lobbyisten schwingt.“

„Sie vergessen, dass ich immer die Gefährlichkeit Christoffers erkannt habe. Seit Jahren predige ich ihnen, dass der Junge ein falsches Spiel mit uns treibt. Sie wollen dass ich gehe? Gut, sollen Sie haben. Aber die Schuld an seinem Ausbruch trage nicht ich. Den Schuh ziehe ich mir nicht an!“