Thomas Frankenbach

SOMATISCHE
INTELLIGENZ

Hören, was der Körper braucht

Gott sei Dank ist mein Körper manchmal vernünftiger als ich.

Anke Maggauer-Kirsche, deutsche Lyrikerin

Inhalt

1. Der Körper ist Wahrheit

2. Ist Naturkost wirklich ein uneingeschränktes Heilmittel?

3. Von der Naturkost zum Heilmittel – Geschichtliche Betrachtung

4. Somatische Intelligenz und Essen

5. Warum die Botschaft des Körpers oft überhört wird

6. Auf den Körper hören lernen

Übungsteil: In den Körper hineinspüren

7. Ein Ausblick – und ein Wort zum Schluss

1. DER KÖRPER IST WAHRHEIT

Seit sie schwanger ist, hat sich Beates Art zu essen stark verändert. Öfters ertappt sie sich dabei, Dinge zu essen, vor denen sie sich früher geekelt hätte. Jetzt isst sie sie mit Lust und Genuss. Und es bekommt ihr sogar.

Matthias hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Als er abends beim Sport schließlich in die Unterzuckerung rutscht, entwickelt er zuerst schlechte Laune und dann Heißhunger auf Süßes.

Markus hat sich gerade mit Schokolade überfressen. Würden wir jetzt messen, wäre sein Blutzucker deutlich erhöht. Binnen weniger Minuten stellen sich bei ihm Unlust auf Süßes, Sodbrennen und innere Unruhe ein.

Signale des Körpers

Alle drei Beispiele beschreiben die besondere Fähigkeit unseres Körpers, uns über Signale der Bekömmlichkeit, aber auch anhand von Lust oder Abneigung zu zeigen, was er gerade braucht, was nicht, und was vielleicht sogar schädlich sein könnte. Die Rede ist von Somatischer Intelligenz. Jeder Mensch hat sie. Nicht jeder nutzt sie gleich gut. Doch wir können trainieren, sie besser wahrzunehmen.

Sex, Aggression und Essen

Es sind vor allem diese drei Triebe, die große Teile unserer Lebensweise bestimmen. Nicht nur, weil sie uns zu Lust und Wohlbefinden verhelfen können, sondern auch, weil sie von Beginn an zur Arterhaltung der Spezies Mensch beigetragen haben.

Leicht entsteht der Eindruck, Sex und Aggression (die sich seltener in Gewalt, dafür umso mehr in unserem Drang ausdrückt, uns und die Welt zu bewegen; lat. aggredi, dt. heranschreiten, sich nähern) müssten die beiden dominierenderen Triebe des Menschen sein. Neben ihnen wird unser Nahrungstrieb gemeinhin erst einmal als unscheinbar und eher zweitrangig begriffen.

Betrachten wir allerdings die Evolution, zeigt sich, dass das Bestreben, Nahrung aufzunehmen, offenbar schon lang vor Sexualität, Paarung und geschlechtlicher Vermehrung das Zentralthema aller Lebewesen war.

Zuerst das Fressen, dann …

Einzeller waren die ersten Lebewesen auf der Erde. Kleinste Lebewesen, die aus nur einer einzigen Zelle bestanden. Sex hatten sie keinen, da sie sich durch Zellteilung vermehrten. Die Fähigkeit, sich aus eigenen Stücken zu bewegen, war bei ihnen nur sehr beschränkt vorhanden. Doch alle waren von Beginn an Experten darin, zu fressen, was sie konnten. Anders ausgedrückt: Der zentrale Trieb aller Lebewesen war weder aktive Fortbewegung noch Sex, sondern die Fähigkeit, Nahrung in Lebensenergie umzuwandeln. Denn ohne Nahrung keine Energie, weder zum Überleben noch für Evolution, Bewegung oder Sex.

Somatische Intelligenz: eine Urform von Intelligenz

Es gibt viele Formen von Intelligenz: rationale, kreative und räumliche Intelligenz. Weitaus älter ist jedoch die Somatische Intelligenz. Und obwohl sie so essenziell ist, ist sie in unserer Kultur doch eine der am wenigsten beachteten Formen von Intelligenz.

Stellen wir uns vor, wir befänden uns in unserer Entwicklung noch weit vor dem Stadium eines Wurms. Wir hätten weder ein Emotionszentrum noch ein zur Ratio fähiges Großhirn. Welche Fähigkeiten wären in diesem Fall essenziell, um zu überleben? Wir müssten zum einen auf Veränderungen in unserer Umwelt reagieren. Und zum anderen müssten wir anhand der Wirkung unserer Nahrung auf unseren Körper spüren können, ob diese Nahrung bekömmlich ist oder nicht. Und diese beiden Fähigkeiten müssten unbewusst ablaufen, da wir ja noch kein Bewusstsein haben.

Unser Nahrungstrieb – eine Naturgewalt

Wenn wir von einem Trieb sprechen, dann sprechen wir letztlich von einer Naturgewalt, die versucht, ihrem Besitzer sein Überleben und seinen Fortbestand zu sichern. Vermutlich ist das auch ein Grund, warum sich dieser Trieb auf Dauer nicht mit Diäten zügeln und einschränken lässt.

Gerade den Nahrungstrieb gab es schon vor dem Gehirn und dem Bewusstsein. Und auch Milliarden Jahre später, als bereits weit differenziertere Spezies auf der Erde lebten und lang bevor sich Ratio und Verstand entwickelten, verfügten Wirbeltiere schon über eine spezielle Form von Intelligenz, dank der sie sich auch ohne kognitives Ernährungswissen in einer oft bedrohlichen Natur voller Fallen und Giften so ernähren konnten, dass sie nicht nur überlebten, sondern sich sogar weiterentwickelten. Intelligente Nahrungsselektion war folglich bereits in Zeitaltern möglich, in denen es weder Ernährungsberatung noch Diätbücher oder -kurse gab. Getrieben von einer Instanz, die wir uns zwar bewusst machen können, die aber weit älter, archaischer ist als unser Bewusstsein. Zwar sind Menschen, verglichen mit Tieren, viel weniger instinktgetrieben. Dennoch gibt uns unser Körper noch immer Signale – die wir allerdings wieder wahrnehmen lernen müssen.

Somatische Intelligenz – noch immer vorhanden

Auf unserem heutigen Entwicklungsstand, ausgestattet mit Emotionen und Bewusstsein, hängt die Frage, was wir essen, von weit komplexeren Einflüssen ab als bei unseren Vorfahren. Ob wir etwas gern essen, ist heute vorwiegend kulturell geprägt: von unserer Bildung, vom Angebot und von unseren Moralvorstellungen. Doch wie vor Jahrmillionen steckt auch heute noch eine Urfähigkeit hinter unseren Abneigungen und Gelüsten und vor allem auch hinter der Frage, wie uns das bekommt, was wir essen. Wir nennen das die Somatische Intelligenz. Noch immer kann sie uns helfen, Nahrung auszusuchen, die den Anforderungen unserer Genetik, unserer Konstitution und unserer Lebenssituation entspricht. Und je mehr wir auf unsere Somatische Intelligenz achten, desto mehr erfahren wir durch sie. Denn unsere Essbedürfnisse sind verschieden, weil jeder Mensch anders ist. Was dem einen ein angenehmes Bauchgefühl beschert, muss dem anderen noch längst nicht gut bekommen. Was dem einen hilft, kann dem anderen sogar schaden.

Verständnis und Achtsamkeit entwickeln

In diesem Buch erfahren Sie, weshalb nicht jede Kost für jeden Menschen gut sein muss. Weder Natur- noch Fertigkost.

Wir werden uns den geschichtlichen Gründen zuwenden, die vor allem in Deutschland den Glauben an die Naturkost als Heilmittel überhaupt erst möglich gemacht haben, und der Frage, wie modernes Food-Design die Somatische Intelligenz beeinflusst.

Wir werden ergründen, wie es kommt, dass die Intelligenz des Körpers so oft überhört wird.

Und schließlich erfahren Sie im praktischen Teil dieses Buches, wie Sie lernen können, den Signalen Ihres Körpers mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Das dürfen Sie erwarten

Werden Sie ab- oder zunehmen, wenn Sie Ihrer Somatischen Intelligenz mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen?

Viele Menschen, mit denen ich in mittlerweile über 15 Jahren klinischer Praxis gearbeitet habe, konnten damit ihre Ernährungsgewohnheiten harmonisieren und ihr Körpergewicht normalisieren: ganz ohne Diätpläne, ohne Kalorienzählen und ohne den Zwang, Kostregeln einhalten zu müssen. Einfach, indem sie gelernt haben, den Signalen ihres Körpers mehr Beachtung zu schenken.

Allerdings könnte sich bei Ihnen noch etwas viel Wichtigeres weiterentwickeln: nämlich die Art, wie Sie mit sich selbst umgehen. Wie Sie Ihre Belange wahrnehmen und wie Sie für sich selbst Verantwortung übernehmen können. Ganz ohne Zwang und ohne Überwindung.

Denn das, was Sie essen, wenn Sie auf die Signale Ihres Körpers hören, wird Ihnen besser bekommen und somit den Bedürfnissen Ihres Körpers besser entsprechen. Und wenn Sie ein Gespür dafür entwickeln, worauf Ihr Körper in welcher Weise reagiert, verbessern Sie gleichzeitig das Bewusstsein für sich selbst und sorgen damit im wörtlichen Sinne für ein umfassendes Selbstbewusstsein.

Der Körper ist Wahrheit. Wenn wir lernen, auf ihn zu hören, verstehen wir, was er braucht.

Durch die Schwangerschaft hat sich Beates Stoffwechselsituation deutlich verändert und zugleich ihr Bedarf an Nährstoffen, um die optimale Entwicklung ihres Kindes sicherzustellen. Um nun also in Ernährungsdingen zu bekommen, was nötig ist, agieren die hierfür verantwortlichen Steuerinstanzen in Beates Organismus mit einer neuen Form von Appetitschema, das in direkter Folge zu einer Änderung ihres Essverhaltens führt.

Da Matthias heute zwar den ganzen Tag geistig und körperlich gearbeitet, vor lauter Stress dabei aber das Essen vergessen hat, hat er im Lauf des Tages seine Zuckerdepots in Muskeln und Leber weitestgehend aufgebraucht. Beim Sport gerät er dadurch in einen relativen Mangel an Blutzucker. Dadurch setzen bei ihm zwei natürliche Mechanismen ein, die nur ein Ziel verfolgen: das Überleben zu sichern.

Erstens beginnt sich so seine Laune zu verschlechtern. Stammesgeschichtlich begründet, könnte man sagen, dass Matthias’ Aggressivität und »Jagdbereitschaft« auf diese Weise eine Verstärkung erfährt und sich so die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er etwas Essbares herbeischafft.

Zweitens versuchen die hierfür zuständigen Instanzen in Matthias’ Körper, ihm möglichst genau anzuzeigen, welche Nährstoffe zunächst am hilfreichsten wären, um seinen Blutzuckerspiegel wieder zu harmonisieren und seine Zuckerspeicher aufzufüllen. Und so entwickelt Matthias nun einen ausgeprägten Süßhunger, der die Aufnahme von zuckerhaltiger Nahrung fördern soll.

Im Falle von Markus können wir quasi die entgegengesetzte Situation beobachten. Die unangemessene, übermäßige Zuckerzufuhr stört durch die Erhöhung des Blutzuckerspiegels die Stoffwechsellage. Der Organismus versucht nun, durch Nervenreaktionen wie Abneigung gegenüber Süßem, Übelkeit und innere Unruhe eine weitere Zuckerzufuhr eindringlich zu verhindern.

In den beiden letzteren Fällen vernehmen unsere Hauptpersonen zwar deutlich die Signale ihres Körpers. Zuvor haben sie jedoch eben diese Signale erst einmal nicht beachtet: Matthias hat den Hungersignalen seines Körpers über den Tag hinweg keine Beachtung geschenkt, und Markus hat viel mehr Süßes gegessen, als sein Körper eigentlich verlangt hat. Nur deshalb konnte es zu den noch deutlicheren Symptomen kommen, die in den jeweiligen Beispielen beschrieben werden.