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Über den Autor
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Christoph Wortberg, geboren 1963 in Köln, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er lebt in Köln, arbeitet als Drehbuchautor und schreibt Romane für Jugendliche. Sein Krimi Die Farbe der Angst wurde mit dem Hansjörg-Martin-Preis ausgezeichnet. Ebenfalls von ihm erschienen die Romane Easy und Dieser eine Moment.
www.christophwortberg.de
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-81158-5)
www.beltz.de
© 2014 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christian Walther
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Cornelia Niere, München
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74450-0
Für Ulrich,
dem ich mehr verdanke, als er weiß.

WAS IST EIN HELD?

Man sagt: Ein Held ist jemand, der bereit ist, das eigene Leben für andere in die Waagschale zu werfen. Der Menschen aus einem brennenden Haus rettet, auch wenn er dabei ums Leben kommt. Der einen Flugzeugentführer entwaffnet, auch wenn er dabei erschossen wird. Der das Leck eines sinkenden Schiffes schließt, auch wenn er dabei ertrinkt.
Man könnte sagen: Ein Held ist jemand, der Entscheidungen trifft, wenn er ihre Notwendigkeiten erkannt hat. Der die Folgen auf sich nimmt, egal, wie sie aussehen. Weil er nicht anders kann.
Vielleicht könnte man auch sagen: Ein Held ist jemand, der die Zweifel nicht leugnet, die verborgen liegen in allem, was wir tun. Der bereit ist, in den eigenen Abgrund zu schauen, ganz gleich, was er darin sehen wird. Der lacht, wenn es Zeit ist zu lachen, und weint, wenn es Zeit ist zu weinen. Und geht, wenn es Zeit ist zu gehen.
Mein Bruder Jakob sagte: Ich bin ich und die anderen sind die anderen. Er sagte: Ich habe nur dieses eine Leben. Dann ging er.
Mein Bruder war ein Held.

EINS

Draußen hinter den blitzblanken Scheiben des schwarzen Volvos fliegt die Welt an uns vorbei. Meine schwitzenden Hände auf der Rückbank, wie festgeklebt auf dem dunklen Leder. Vor mir auf dem Beifahrersitz meine Mutter, die geschminkten Lippen zusammengepresst, über der Nasenwurzel eine senkrechte Falte. Daneben am Steuer mein Vater. Er sieht erschöpft aus. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, hat er vergessen, sich zu rasieren. Kein Wunder. Wir fahren zum angekündigten Tod meines Bruders.
Auf dem Armaturenbrett liegt kein bisschen Staub. Mein Vater wischt es jeden Tag mit einem weichen Lappen ab, den er im Handschuhfach aufbewahrt. Samstags fährt er zur Tankstelle, klopft die Fußmatten aus, saugt den Innenraum sorgfältig durch. Er nennt das: die Dinge pflegen, um sie zu bewahren. Man könnte auch sagen: Er hasst jede Veränderung.
Südlich von Eschenlohe wechselt er von der Autobahn auf die Bundesstraße. Noch sechzehn Kilometer. Die Brücke über die Loisach, der Tunnel bei Farchant, die Ortseinfahrt nach Garmisch. Seit zwei Wochen dieselbe Strecke. Seit dem Tag, an dem der Unfall passiert ist. Beim Wechseln eines Ganges klemmt der Schalthebel.
»Die Kupplung«, sagt mein Vater.
»Bitte?«, fragt meine Mutter.
»Trennt nicht mehr richtig«, sagt mein Vater.
Mehr sagt er nicht.
Ein paar Minuten später taucht die Fassade des Klinikums vor uns auf. Mein Vater steuert den Volvo auf den Parkplatz. Ich warte darauf, dass er aussteigt, aber er rührt sich nicht. Auch meine Mutter macht keinerlei Anstalten, die Tür zu öffnen. Nie war das Schweigen zwischen meinen Eltern lauter. Gefangen in ihrer Sprachlosigkeit sitzen sie da und schauen hinaus auf den Parkplatz. Sie denken nicht an den Achtzehnjährigen mit den Schläuchen in der Nase, sie denken an das kleine Kind, das er mal war. Sie sehen ihn vor sich, wie er seine ersten Schritte macht, sie sehen das Glück in seinen Augen, als er zum ersten Mal ohne Stützräder Fahrrad fährt, sie sehen ihm beim Schreiben seiner ersten Buchstaben über die Schultern. Seine Tränen sehen sie nicht. Dass sie Überlebende sind, begreifen sie nicht. Sie würden ihr eigenes Leben für ihn geben, wenn sie könnten. Sie können es nicht. Der Tod lässt nicht mit sich handeln.
So wie sie dasitzen, eingeschlossen in ihre vorweggenommene Trauer, tun sie mir leid. Vielleicht tun sie sich selber leid, jeder für sich. Es gibt keine gemeinsame Trauer. Ein Vater verliert ein Kind anders als eine Mutter.
»Schon zehn nach«, sage ich. »Sie warten auf uns.«
Die Einsamkeit liegt über meinen Eltern wie Eis auf einem zugefrorenen See. Meine Worte erreichen sie nicht.
»Papa«, sage ich.
»Was?« Seine Stimme klingt rau, wie von weit her. Er will nicht zurück in die Wirklichkeit.
»Wir müssen!«
»Ja«, sagt er, seine linke Hand mit den sorgfältig geschnittenen Fingernägeln fährt unter den Rand seiner Brille. Mit Daumen und Zeigefinger reibt er sich über die geröteten Augen.
»Also dann«, sagt er und legt seine haarige Hand auf den Unterarm meiner Mutter. Er schaut sie an. Ihr Blick geht ins Nichts, ihre Finger krallen sich in den Türgriff.
Ich steige aus. Trotz der Sommerhitze ist mir kalt. Der Himmel über dem Zugspitzmassiv ist bleigrau. Tief fliegende Schwalben auf der Jagd nach Mücken. Es wird jeden Moment anfangen zu regnen.
Jakob war nicht bei Bewusstsein, als man ihn fand. Eine kleine Mulde unterhalb des Gipfels, östlich der Gletscherbahn. Brocken aus Wettersteinkalk, scharfkantig an den Bruchstellen. Dazwischen Moos, blassbraune Flechten. Bis auf ein paar Hautabschürfungen wurden keine äußeren Verletzungen festgestellt.
Der Einsatzleiter der Bergwacht sagte am Telefon, man habe ihn nur deshalb lebend geborgen, weil der Hubschrauber noch starten konnte. Kurz darauf habe das Wetter umgeschlagen, der aufziehende Nebel hätte den Flug unmöglich gemacht.
Das Gesicht meines Vaters war wie eingefroren als er auflegte, seine Schläfen pochten.
»Und?«, fragte meine Mutter und drehte ihren Ehering nervös zwischen den Fingern hin und her.
»Sie haben Fotos gemacht«, sagte mein Vater. »Von der Bergung. Ich habe darum gebeten, sie uns zuzuschicken. Damit wir uns ein Bild machen können.«
»Wovon denn ein Bild machen?«
»Er sagt, der Junge hat friedlich ausgesehen.«
»Friedlich?«, wiederholte meine Mutter wie ein Echo und fing an zu weinen.
»Ingrid«, sagte mein Vater.
Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Eine Krankenschwester führt uns über den Flur der Intensivstation. Drei Angehörige auf dem Weg zu einer Hinrichtung. Wir müssen keine sterile Kleidung anlegen, keine Kittel, keine Hauben, keine Plastiküberzieher für die Schuhe. Es lohnt sich nicht mehr. Ein Toter kann sich nicht mehr anstecken.
Man hält das nicht lange aus, dieses Hin- und Herpendeln zwischen Hoffnung und Verzweiflung, irgendwann sehnt man sich nur noch nach Klarheit. Die Ärzte verweisen auf die gesetzlichen Bestimmungen. Ihre Sätze sind voller Einschränkungen. Jede Prognose wird von einer Gegenprognose begleitet. Zu sagen, man dürfe die Hoffnung nicht aufgeben, ist leicht. In das Nichts hinter der Hoffnung zu starren, ist unerträglich.
Der Aufprall nach dem Sturz führte zu multiplen Knochenbrüchen. Schienbein rechts, Ellenbogen links. Frakturen mehrerer Rippen, von denen sich eine in seine Lunge gebohrt hat. Dazu eine Milzruptur. Sie sagen, er hätte all das überlebt, wäre da nicht dieser Stein gewesen in der Felsmulde unterhalb des Gipfels, auf den sein Kopf schlug, nachdem sein zerbrochener Körper endlich zum Stillstand gekommen war. Dabei sah es so harmlos aus. Eine leichte Rötung der Haut, direkt neben der Schläfe. Was man nicht sah: die kleine Einblutung im Kopf, die zu einem Hirnödem geführt hat. Um das anschwellende Gehirn zu entlasten, haben sie seinen Schädel aufgebohrt. Bei ihm hat es nicht funktioniert. Durch die Schwellung des Gehirns wurde der Blutfluss unterbrochen. Kein Blut, kein Leben. Sie nennen es Hirntod.
Die Schwester zieht den Vorhang vor der Intensivkoje zurück.
»Bitte«, sagt sie. Und dann: »Ich gebe dem Doktor Bescheid.«
Er liegt da wie ein König, das blasse Gesicht eingerahmt von der weißen Krankenhausbettwäsche, die knistert, wenn man mit den Fingern über sie streicht. Seine schwarzen Haare, auf denen immer ein kastanienfarbener Schimmer lag, wenn die Sonne auf sie fiel. Seine schwarzen Haare, auf die er immer so stolz war und die jetzt ungewaschen auf dem Kissen liegen, verklebt von seinem Schweiß, von seinem ausgeschwitzten Leben. Mein Bruder, mein wunderschöner, sterbender Bruder, den nichts auf dieser Welt retten kann. Gleich wird es für immer vorbei sein. Für ihn ist es schon längst vorbei. Sein Brustkorb hebt und senkt sich nur noch, weil eine Maschine Sauerstoff in seine Lungen pumpt, seit Tagen schon, die immer gleiche Menge in immer gleichen Abständen. Er wehrt sich nicht dagegen, weil er sich nicht mehr wehren kann. Er hat sich so lange gewehrt. Wir bilden uns ein, dass wir für ihn entscheiden. In Wahrheit hat er sich längst entschieden. Ich frage mich, ob man um die Toten weint oder um sich selbst.
Ich schaue aus dem Fenster. Wer leben will, ist zur Hoffnung verdammt. Meine Mutter hat die Hand meines Bruders genommen. Sie will ihn festhalten, aber das kann sie nicht. Er ist nicht mehr da. Wo er jetzt ist, weiß keiner von uns. Mein Vater starrt vor sich auf den Boden. Das graue Linoleum wird von feinen Linien durchzogen, Wellen in einem ruhig dahinfließenden Fluss. Dazu das Geräusch der Herz-Lungen-Maschine. Der schwarze Faltenbalg, der auseinandergezogen und wieder zusammengepresst wird, ein pumpendes Herz aus Kunststoff.
Der Arzt kommt dazu, murmelt eine Begrüßung, reicht meinen Eltern die Hand, nickt mir fahrig zu. Er sieht müde aus, auch für ihn ist die Situation nicht leicht, das merkt man ihm an. Dabei ist der Ablauf längst besprochen, gestern hat er uns die Details in einem langen Gespräch erklärt.
»Wenn Sie dann so weit sind«, sagt er. Mein Vater zuckt bei seinen Worten zusammen. Als ob man je so weit sein könnte. Zögernd legt er seine Hand auf die Schulter meiner Mutter. Hast du gehört, fragt seine Hand, aber meine Mutter reagiert nicht. Also schaut er mich an. Die Traurigkeit in seinem Blick überschwemmt mich. Er hat immer alles bestimmt. Er hatte nie Fragen, immer nur Antworten. Jetzt ist er hilflos wie ein kleines Kind. Sein erstgeborener Sohn. Dem alles gelang. Der alles erfüllte, was von ihm erwartet wurde. Die Schule mit links, im Sport ein Ass. Warum diese Strafe? Und wenn ihm schon ein Sohn genommen werden muss, warum dieser, warum nicht der andere?
»Wir sind so weit«, sage ich.
Der Arzt schaut fragend zu meinem Vater, dessen Blick sich in dem grauen Fluss unter seinen Füßen verliert, dann zu meiner Mutter. Sie hält noch immer die Hand meines Bruders, aus der alles Blut gewichen ist unter dem Druck ihrer Finger.
»Es tut mir leid«, sagt der Arzt zu mir, »aber ohne die Zustimmung Ihrer Eltern …«
»Sie sehen doch, dass sie das nicht können«, unterbreche ich ihn.
Die Luft ist voller Schmerz und Verlorenheit. Die Krankenschwester wartet auf ein Signal, meine Eltern warten auf ein Wunder. Schließlich nickt der Arzt ihr zu, das Wunder bleibt aus. Die Schwester tritt an die Maschine. Der Druck ihres Fingers auf den Schalter. Ein letztes Mal hebt und senkt sich der schwarze Faltenbalg, dann bleibt er stehen, von einer Sekunde zur anderen, halb in sich zusammengezogen, als würde er nur eine kurze Pause machen. Aber die Pause bleibt Pause, der Brustkorb meines Bruders rührt sich nicht mehr. Langsam, wie in Zeitlupe, schwindet alles Lebendige aus seinem Körper. Auf seinen Armen und an seinem Hals breiten sich rote Flecken aus. In seinem ausdruckslosen Gesicht ist nichts mehr zu lesen von dem, was er einmal war. Seine Stirn ist wie der Bug eines Schiffes, das einen dunklen Fluss zerteilt, auf dem Weg in ein fernes Reich. Es gibt keinen Wind dort und keinen Regen, nur ein großes, allumfassendes Nichts.
Mein Vater hebt den Kopf, starrt auf seinen toten Sohn, überrascht und ohne jedes Begreifen. Dann blitzt Wut auf in seinen Augen. Ein kurzes Aufglimmen, das sofort wieder verlöscht. Ich weiß, was er jetzt denkt. Meine Mutter denkt nichts. Sie treibt weinend dahin. Ihr Schmerz ist so groß, dass sie ihn nicht spürt. Ihre Tränen tropfen auf die leblose Hand zwischen ihren Fingern.
»Was machen Sie jetzt mit ihm?«, fragt mein Vater.
»Es ist alles geregelt«, sagt der Arzt. »Sie müssen sich um nichts kümmern.«
Dabei will mein Vater doch nur genau das: die Dinge regeln. Sich kümmern.

ZWEI

Der Regen prasselt auf das Glasdach des Wintergartens. Ich schaue den Tropfen beim Zerplatzen zu. Ich frage mich, wie das geht: zu Hause zu sein und sich doch fremd zu fühlen.
»Lenny!«
Die Stimme meiner Mutter. Schrill und fordernd wie immer, darunter verlassen und hohl.
»Ich komme, Mama.«
Mir ist kalt, meine Füße sind kalt. Das liegt an den weißen Bodenfliesen, mit denen das ganze Haus ausgelegt ist. Meine Mutter hat sie ausgesucht, in einem Fliesenfachgeschäft in Daglfing.
Wir standen vor einer Regalwand mit Bodenkacheln, aus denen ein Verkäufer eine Musterfliese genommen hatte. Mein Bruder und ich schauten uns an, wir dachten dasselbe wie mein Vater.
»Ausgerechnet Weiß? Da sieht man doch jeden Dreck drauf.«
»Italienisches Design«, sagte der Verkäufer und lächelte meiner Mutter zu. »Aus dem Piemont.«
»Ich kann da kein Design erkennen«, sagte mein Vater. »Für mich ist das nur eine ganz normale Bodenfliese.«
»Speziell gerundete Kanten«, erklärte der Verkäufer. »Doppelt gebrannte Trittseite. Und wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie eine ganz leichte Struktur in der Oberfläche.«
»Ich bin dagegen«, sagte mein Vater.
»Vielleicht lieber Terrakotta«, sagte der Verkäufer und nahm eine entsprechende Fliese aus dem Regal.
»Noch so was Italienisches«, sagte mein Vater.
»Oder Sandstein. Da sehen Sie nichts darauf, wenn mal was danebengeht.«
»Sag doch auch mal was dazu«, wandte sich mein Vater an meinen Bruder. Mich fragte er nicht.
»Ich weiß nicht«, sagte Jakob. »Am Ende entscheidet Mama ja doch.«
»Siehst du«, triumphierte meine Mutter, »der Große ist auch dafür.« Sie wandte sich an den Verkäufer. »Wir nehmen die weißen«, sagte sie mit strahlendem Lächeln. »Die aus dem Piemont.«
Mein Vater hat nie wieder ein Wort über die weißen Fliesen verloren. Obwohl man sich seitdem die Schuhe ausziehen muss, wenn man unser Haus betritt. Er will einfach keinen Streit. Nicht zu Hause, nicht in der Familie. Das ist die unausgesprochene Verabredung zwischen meiner Mutter und ihm. Er lässt sie reden und schluckt herunter, was er denkt. Mein Bruder und ich haben uns oft gefragt, ob er Angst hat vor ihr und wie viel ein Mensch herunterschlucken kann. Dabei ist er sonst nicht so. Wenn eine seiner Angestellten in der Apotheke die falschen Medikamente bestellt oder beim Einräumen der Regale Fehler macht, wird er wütend und schreit rum. Dann ist meine Mutter diejenige, die schweigt. Die Apotheke ist sein Reich, da ist er der Chef. Sobald er seinen weißen Apothekerkittel auszieht, hält er den Mund. Jakob nannte das die »Große Lüge«. Für ihn war unser Haus wie ein Kartenhaus. »Alles Pappe«, sagte er, »und wenn du dagegenpustest, fällt es um.«
Der Küchentisch ist für vier gedeckt: vier Tischsets aus Bast, vier Stoffservietten, die in silbernen Ringen stecken, auf denen Namen eingraviert sind: Holger, Ingrid, Leonard, Jakob. Der Platz meines Bruders ist leer. Er ist trotzdem da.
Mein Vater streicht sich Butter aufs Brot, belegt es mit Schinken. Er schneidet eine Gewürzgurke der Länge nach in dünne Scheiben, verteilt sie auf dem Schinken. Dann beginnt er zu essen. Mit Messer und Gabel. Sein Unterkiefer knackt beim Kauen. Wie immer abends essen wir kalt: Käse und Aufschnitt, dazu Brot aus dem Supermarkt. Schnittfrisch, wie es auf der Verpackung heißt. Zehn Scheiben, zweihundertfünfzig Gramm, seit Jahren dieselbe Marke.
»Wir hätten ihn nicht fahren lassen dürfen«, sagt meine Mutter. »Wenn er nicht gefahren wäre, würde er jetzt noch leben.«
»Es war ein Unfall«, sagt mein Vater.
»Aber ausgerechnet er, Holger, warum er?«
Das Telefon klingelt. Mein Vater legt Messer und Gabel beiseite, tupft sich den Mund mit der Serviette ab.
»Das wird der Bestattungsunternehmer sein«, sagt er und geht hinaus in den Flur, um das Gespräch entgegenzunehmen.
Meine Mutter starrt vor sich hin, ihre Hände spielen mit Jakobs Serviettenring. Ihre Finger fahren über den Namen ihres Erstgeborenen, als sei er in Blindenschrift eingraviert.
»Mama«, sage ich.
Sie reagiert nicht. Jakob war ihr Prinz. Wenn sie ihn zum Abschied umarmte, morgens, bevor er zur Schule ging, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Er war einen Kopf größer als sie. Sie fasste ihn am Hals, zog ihn zu sich herunter. Sein gebeugter Rücken, wenn sie ihn auf die Wange küsste. Er schwieg dazu, aber ihm war anzumerken, wie wenig er das mochte. Sie nahm das nicht wahr. Sie wollte es nicht wahrnehmen.
Ab jetzt wird sie mich küssen. Ein schlechter Ersatz und doch der einzige, den sie hat.
Mein Vater kommt zurück, setzt sich wieder an den Tisch, legt sich die Serviette auf die Knie, isst weiter. Das Kratzen seines Bestecks auf dem Teller, Brotkrümel, die im Gurkensaft schwimmen.
»Wir müssen uns entscheiden«, sagt er.
Meine Mutter schaut ihn fragend an.
»Wegen des Sarges«, sagt er. »Das Günstigste wäre Fichte, aber das kommt nicht infrage. Nicht für meinen Jungen.« Seine Stimme klingt heiser. »Also bleibt Eiche oder Buche. Es gibt da verschiedene Modelle.«
Es fällt ihm nicht leicht, das zu sagen. Er hat seinen Sohn verloren, und jetzt soll er sich entscheiden, ob er ihn in einer Buchen- oder einer Eichenkiste beisetzen lassen will. Meine Mutter starrt ihn an, als hätte er ihr in den Bauch getreten. Ihre Gesichtszüge sind eingefroren, die dünnen Fältchen um Stirn und Augen wie Ackerfurchen in einem verschneiten Feld.
Meine Eltern haben mich nie mit meinem Bruder verglichen. Es gab keinen Grund dazu. Die Rollen waren klar verteilt. Jakob stand in der Sonne, ich in seinem Schatten daneben. Ich war unsichtbar. Ab jetzt bin ich nicht mehr unsichtbar. Ab jetzt werden meine Eltern mich vergleichen.
Und enttäuscht sein. Weil das, was sie sehen werden, nicht das ist, was sie sehen wollen.

DREI

Der Anzug ist mir zu groß, aber das ist mir egal. Er gehörte meinem Bruder. Er hat ihn zu seiner Abiturfeier getragen. Als Jahrgangsbester musste er die Abiturrede halten. Eine Ehre, auf die er am liebsten verzichtet hätte. Er stand auf der Bühne der Aula, gab sich fröhlich und wirkte verloren. Die üblichen Floskeln fehlten. Nichts über den Aufbruch in ein neues Leben oder die bevorstehende Eroberung der Welt. Die Schule beschrieb er als einen Ort des Aufgehobenseins, dessen Türen jetzt für immer hinter ihm zufielen. Er hörte sich an wie einer, der ins Exil muss und um seine verlorene Heimat weint. Niemandem fiel auf, dass er das Wort »Zukunft« kein einziges Mal gebraucht hatte. Als ich ihn danach fragte, zuckte er nur mit den Schultern. Da wusste ich, dass er das Wort bewusst vermieden hatte.