Wilhelm Hauff


Die letzten Ritter von Marienburg

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-945667-26-2


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Kapitel 5 - Die letzten Ritter von Marienburg



Rauschender Beifall füllte nun das Gemach, man drängte sich um die Sängerin, und auch Rempen folgte seinem Herzen, das ihn zu Elisen zog. Aber schon war sie von einem halb Dutzend jener Literatoren umlagert, die ihn immer verdrängten. "Welch herrliches Lied!" hörte er den Doktor Zundler sagen, "welche Kraft, welche Fülle von Mut, und wie zart gehalten!" Doch dem Stallmeister entging nicht, daß der Hofrat, der ebenfalls bei der Gruppe stand, den jungen Doktor durch einen freundschaftlichen Rippenstoß aufmerksam darauf zu machen schien, daß er etwas Ungeschicktes gesagt habe. Er erschrak, errötete und fragte in befangener Verlegenheit, woher das Fräulein das schöne Lied habe.

"Es ist aus den 'Letzten Rittern von Marienburg', von Hüon." Ein Gemurmel des Staunens und Beifalls lief durch die dichten Massen, als man diesen Titel hörte. "Wie ein neuer Roman?"

"Ah! derselbe, welchen die 'Blätter fürs belletristische Vergnügen' so tüchtig ausg... Sie sind ja da, leise, leise."

"Wo kann man den Roman sehen?"

So wogte das Gespräch und Geflüster auf und ab, bis der Wirt des Hauses mit triumphierendem Lächeln ein Damenkörbchen an seidenen Bändern in die Höhe hielt, es öffnete und ein Buch hervorzog. Er schlug den Titel auf, er zeigte ihn der gespannten Gesellschaft, und mit freudigem Staunen las man in großen gotischen Lettern: "Die letzten Ritter von Marienburg."

"Vorlesen, bitte, vorlesen", tönte es jetzt von dreißig, vierzig schönen Lippen, und selbst die jungen Männer, die sonst diese Unterhaltung weniger liebten, stimmten für die Vorlesung. Aber eine nicht geringe Schwierigkeit fand sich jetzt in der Wahl des Vorlesers; denn jene Literatoren, die sonst in diesem Zirkel dieses Amt bekleidet hatten, stemmten sich heute bestimmt dagegen; der eine war erhitzt, der andere hatte Katarrh, der dritte war heiser, und allen war die Unlust anzusehen, daß nicht ihre eigenen Produkte, sondern fremde Geschichten vorgelesen werden sollten.

"Ich wüßte keinen Besseren vorzuschlagen", sagte endlich ein Kriminalpräsident von großem Gewicht, "als dort meinen Referendär Palvi; wenigstens zeugen seine Referate von sehr guter Lunge und geschmeidiger Kehle." Indem der Kriminalpräsident seinen eigenen Witz belachte und im Chorus sechs Juristen pflichtgemäß mit einstimmten, verbeugte sich der junge Mann, an welchen die Rede ging, während eine flüchtige Röte über sein Gesicht zog, und zur Verwunderung der Gesellschaft, die ihn sehr wenig kannte, ergriff er das Buch und die Tasche und fragte bescheiden, welcher von den Damen beides gehöre.

Dem Stallmeister, der hinter ihm stand, hatte dies längst sein scharfes Auge gesagt. Elise war flüchtig errötet, als der Onkel den Beutel emporgehoben und das Buch daraus hervorgeholt hatte. Als aber Palvi anfragte, als er mit seinem dunkeln Auge den Kreis der Damen überstreifte und bei ihr stille stand, da goß sich ein dunkler Karmin über Stirne, Wangen und den schönen Hals des Fräuleins, sie schien überrascht, verlegen, und als jene Röte ebenso schnell verflog, schien sie sogar ängstlich zu sein. "Das Buch gehört mir, Herr von Palvi", sagte sie schnell und mit einem kurzen Blick auf ihn. "Und werden Sie erlauben, daß daraus vorgelesen wird? Daß ich daraus vorlese?" fragte er weiter.

"Ich habe hier nichts zu bestimmen", erwiderte sie, ohne aufzusehen, "doch das Buch steht zu Diensten."

"Nun, dann nicht gesäumt!" rief der Oheim. "Sessel in den Kreis und ruhig sich gesetzt und andächtig zugehört, denn ich denke, wir werden einen ganz angenehmen Genuß haben."

Man tat nach seinem Vorschlag; in bunten Kreis setzte sich die zahlreiche Gesellschaft, und sei es, daß man auch hier Fräulein Elise als literarische Königin ansah, oder war es eine sonderbare Fügung des Zufalls, der Vorleser kam so gerade ihr gegenüber zu sitzen, daß, so oft sie die Augen aufhob, diese schönen Augen auf ihn fallen mußten.

"Aber, Freunde", bemerkte die Dame vom Hause, dieser Roman hat, soviel ich weiß, drei Bände; wollen wir sie alle anhören, so kommt unsere junge Welt heute nicht mehr zum Tanzen und wir andern nicht zum Spiel; ich denke, man wählt die schönsten Stellen aus."

"Wer aber soll sie wählen?" fiel ihr Gatte ein. "Das Ding ist nagelneu, niemand hat es gelesen; doch Fräulein Wilkow wird uns helfen können. Können Sie nicht schöne Stellen andeuten und uns den Faden des übrigen geben?"

Man bat so allgemein, so dringend, daß Elise nach einigem Zögern nachgab. "Der Roman", sagte sie, "spielt, wenn ich mir die Jahreszahl richtig gemerkt habe, in den Jahren 1455–1456 in und um Marienburg in Ostpreußen. Der Deutsche Orden ist von seinen früheren einfachen und reinen Sitten abgekommen; dies und innerer Zwiespalt, wie Neid und Anfeindungen von allen Seiten her, drohen einen baldigen Umsturz der Dinge herbeizuführen, wie dann auch durch den Verrat böhmischer Ordenssoldaten, gegen Ende des dritten Teils, Marienburg für den Orden auf immer verloren geht. Auf diesen geschichtlichen Hintergrund ist aber die interessante Geschichte eines Verhältnisses zwischen einem jungen deutschen Ritter und einem Edelfräulein aufgetragen. Sie ist die Tochter des Kastellans von Marienburg, eines geheimen und furchtbaren Feindes des Ordens, der, anscheinend dem Deutschmeister befreundet, nur dazu in Marienburg lebt, um jede Blöße des Ordens den Polen zu verraten. Der Roman beginnt in der Ordenskirche, wo die Ritter und viele Bewohner von Marienburg und der Umgegend bei einem feierlichen Hochamte versammelt sind, um den Tag zu feiern, an welchem vor vielen Jahren der erste Komtur mit seinem Konvent in dieser Burg einzog. Der letzte Meister, Ulrich von Elrichshausen, ein Mann, der sich dem nahenden Verderben noch entgegenstemmen will, hält eine eindringliche Rede an die Ordensglieder. Der Gottesdienst endet mit einer feierlichen lateinischen Hymne. Indem zwei der jüngsten Ritter, nach der Sitte bei solchen Gelegenheiten, den vornehmsten fremden Besuchern das Geleite bis in den Vorhof geben, bemerkt der eine von ihnen, daß der andere im Vorbeistreifen ein kleines Päckchen in die Hand einer verschleierten Dame gedrückt habe. Die Kirche ist leer, und im zweiten Kapitel fragt nun der erstere den zweiten um die Bedeutung dessen, was er gesehen. Er ist sein Waffenbruder, ein Bündnis, das nach der Sitte der Zeit fester als irgend ein Freundschaftsband galt, und Elrichshausen, der Neffe des Meisters, der Held des Romans, gesteht ihm endlich sein Verhältnis zu der Dame, erzählt ihm von seinem Leben, seinen trostlosen Aussichten.

Der Freund ratet ab, Kuno aber verschmäht jede Warnung und bittet jenen, er möchte ihn an diesem Abend zu einer Zusammenkunft mit der Geliebten begleiten. Diese Zusammenkunft in einem verfallenen Teil des älteren Schlosses ist so schauerlich schön, daß ich möchte, sie würde ganz gelesen."

Palvi las. Wer je ein Buch, das er sonst nicht kannte, in Gesellschaft vorgelesen, der weiß, daß etwas Beunruhigendes in dem Gedanken liegt, daß man mit gehaltener Sicherheit auf einem Felsenpfade gehen soll, den man noch nie betreten. Dieses beängstigende Gefühl wächst, wenn es ein Gespräch ist, das man vorträgt. Man kann den Atem, den Rhythmus, den Ausdruck der Empfindung nicht richtig abmessen und verteilen, man weiß nicht, ob jetzt die höchste Höhe der Lust ausgedrückt ist, ob jetzt der Dichter die tiefste Saite der Wehmut berührt habe, ob er nicht noch tiefere Akkorde anschlagen werde; und der Zuhörer pflegt diese Unsicherheit störend mitzuempfinden. Aber wunderbar las dieser junge Mann, den ein zufälliger Scherz seines Vorgesetzten zum Vorleser gestempelt hatte. Es war, als lese er nicht mit den Augen, sondern mit der Seele ohne dieses Organ, als spreche er etwas längst Gedachtes, eine Erinnerung aus, als kenne er den Inhalt, den Geist dieser Blätter, und sein Gedächtnis habe das Buch nur wegen der zufälligen Wortstellung vonnöten. Wenn das, was er las, nicht durch Inhalt und Form so großartig, dieses Gespräch zweier Liebenden so neu, so bedeutungsvoll gewesen wäre, diese Art, etwas vorzutragen, hätte zur Verwunderung hinreißen müssen.

Wir fürchten zu ermüden, wollten wir den Gang der Gefühle im Gespräch dieser Liebenden verfolgen. Wir bemerken nur, daß der jüngere Teil dieser Gesellschaft mächtig davon ergriffen wurde, daß Fräulein Elise, die anfangs den Vorleser mit scheuen, staunenden Blicken angesehen hatte, in tiefer Rührung die Augen senkte und kaum so viel Fassung fand, ihre Erzählung weiter fortzusetzen.

"Die Liebenden", sagte sie, so wenig Trost im Schluß dieser Szene lag, "sind zufrieden in dem Gedanken an die Gegenwart. Je dunkler aber die Zukunft vor ihnen liegt, desto angenehmer dünkt es ihnen, die Gegenwart mit schönen Träumen auszufüllen. Der Deutschmeister bekommt die Nachricht, daß der Kaiser, von den Einflüsterungen Polens halb besiegt, dem Orden zürne, ihm namentlich innere Zügellosigkeit vorwerfe. Der Meister versammelt daher ein Kapitel, wo er die Ritter anredet. Diese Stelle ist eine der trefflichsten im Buche, denn der Verfasser befriedigt hier auf wunderbare Weise zwei Interessen. Indem der Meister die Verhältnisse des Ordens bis auf die zartesten Nuancen aufdeckt und berechnet, bekommt der Leser nicht nur ein schönes Bild von dem einsichtsvollen, umsichtigen Ulrich von Elrichshausen, von der erhabenen Würde eines Nachfolgers so großer Meister, von der gebietenden Stellung eines Herrschers auf Marienburg, sondern er bekommt auch auf ungezwungene und natürliche Weise eine Übersicht über die historische Basis des Romans. Der Meister schärft die Haus- und Sittengesetze und schließt mit einer furchtbaren Drohung für den Übertreter.

Der Held des Romans, voll schönen Glaubens an alles Edle und Reine, sieht in seiner Freundschaft für Wanda, so heißt das Fräulein, kein Unrecht. Er setzt, begleitet von seinem Freunde, die nächtlichen Zusammenkünfte fort. In eine derselben ist ein wunderschönes Märchen eingewoben, eine Sage, die man auch mir in meiner Kindheit oft erzählt haben muß, denn sie klang mir wie alte Erinnerungen."

Sie hielt inne; mit einem Blick voll Liebe und Wehmut fragte Palvi, ob er das Märchen lesen solle. Sie nickte ein kurzes Ja, und er las. Der junge Rempen hatte während des Märchens sein Auge fest auf Elisen gerichtet. Er bemerkte, daß sie anfangs heiter zuhörte, mit einem Gesicht, wie man eine bekannte Lieblingsmelodie hört und die kommenden Wendungen zum voraus erratet; nach und nach wurde sie aufmerksamer; es kamen einige sonderbare Reime vor, die Palvi so rasch und mit so eigenem, singenden Tone vortrug, daß sie dadurch tief ergriffen schien; Erinnerungen schienen in ihr auf und nieder zu tauchen, sie preßte die Lippen zusammen, als unterdrücke sie einen inneren Schmerz; er sah, wie sie bleich und immer blässer wurde, er sah sie endlich ihrer Nachbarin etwas zuflüstern; sie standen beide auf, aber ebenso schnell sank Elise wieder kraftlos auf ihren Stuhl zurück.

Die Bestürzung der Gesellschaft war allgemein. Die Damen sprangen herzu, um zu helfen; aber sei es, daß, wie es oft zu geschehen pflegt, gerade das unangenehme Gefühl dieser störenden, geräuschvollen Hülfe sie wieder emporraffte, oder war es wirklich nur etwas Vorübergehendes, ein kleiner Schwindel, was sie befiel, sie stand beinahe in demselben Moment wieder aufrecht, bleich, aber lächelnd, und konnte sich bei der Gesellschaft entschuldigen, diese Störung veranlaßt zu haben.

An Erzählen und Vorlesen war übrigens nach diesem Vorfall diesen Abend nicht wohl wieder zu denken, und man nahm mit Vergnügen den Vorschlag an, sich am übernächsten Nachmittage in einem öffentlichen Gartensalon zu versammeln und "Die Ritter von Marienburg" gemeinschaftlich zu genießen.