Anselm Grün

Trauern heißt lieben

Unsere Beziehung über den Tod hinaus leben

Logo

Impressum

Herausgegeben von Rudolf Walter

© KREUZ VERLAG 2014

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur Idee

Umschlagmotiv: © läns / photocase.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80154-9

ISBN (Buch) 978-3-451-61282-4

Inhalt

Einleitung

1. Trauern und Betrauern

2. Die verschiedenen Phasen der Trauer

Die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens

Die Phase der aufbrechenden Emotionen

Die Botschaft des Verstorbenen verstehen

Eine neue Beziehung zum Verstorbenen und zu mir aufbauen

3. Trauer in verschiedenen Trauersituationen

Trauer nach längerer Krankheit

Trauer bei plötzlichem Tod

Trauer bei Suizid

Trauer beim Tod der Eltern

Trauer beim Tod eines Ehepartners

Trauer beim Tod einer Schwester/eines Bruders

Trauer bei Tod einer Freundin/eines Freundes

Trauer beim Tod eines Kindes

4. Was uns tröstet

Tröstende Worte

Tröstende Menschen

Tröstungen, die uns Gott schenkt

5. Die Begleitung Trauernder

Die Begleitung Sterbender

Die Begleitung Trauernder

6. Begleitung durch Rituale

Rituale beim Tod eines Kindes

Rituale beim Tod eines Elternteiles

Rituale bei Suizid

Rituale bei Abtreibung

7. Rituale für Kinder

Teilnahme an der Beerdigung

Rituale in der Trauerzeit

Erinnerungsrituale

Entlastungsrituale

8. Die Aufgabe des Bestattungsunternehmens

Schluss

Segenskarten für Trauernde

Literatur

Einleitung

In unserem Kloster halte ich immer wieder Kurse für Trauernde und vor allem für verwaiste Eltern, also für Mütter und Väter, die ein Kind verloren haben. Diese Menschen erzählen mir oft, wie sie sich von anderen verletzt fühlen, die ihre Trauer nicht wahrnehmen wollen. Da bekommen sie etwa zu hören: »Das ist doch jetzt schon ein halbes Jahr her, dass dein Mann gestorben ist. Mach mal Urlaub. Dann kommst du auf andere Gedanken.« Trauernde haben, wenn sie so etwas hören, oft das Gefühl, dass sie für andere eine Last sind. Die Bekannten, mit denen man früher im Alltag problemlos verkehrte, meiden die Trauernden. Sie wollen ihr oberflächliches oder in Alltagsroutine befangenes Leben nicht durch den Schmerz anderer stören lassen oder sich mit dem Leid anderer belasten. Was eine Mutter, die ein Kind verloren hatte, erzählte, ist keine seltene Erfahrung: »Meine Freunde wechseln die Straßenseite, um mir mit meiner Trauer auszuweichen.« Dass diese Frau sich wie ausgestoßen vorkommt, ist nachvollziehbar. Eine andere Frau erzählte mir, ihre Bekannten würden ihr ständig einreden, mit der Trauer müsse es doch endlich vorbei sein. Es sei psychisch nicht gesund, wenn sie so lange trauere. Mit den Trauernden meiden die Menschen heute auch die Trauer. Doch die Psychologie sagt uns, dass verweigerte Trauer zu Depressionen führt. Medizinische Untersuchungen belegen, dass Menschen, die die Trauer einfach überspringen, oft von Krankheiten befallen werden. Und die Statistik spricht ebenfalls eine deutliche Sprache: Die Sterberate von Witwen, die ihren Mann verloren haben, liegt zehnmal höher als die von gleichaltrigen verheirateten Frauen.

Im Jahr 2013 habe ich in Taiwan vor Christen und Buddhisten über die Trauer und Trauerbegleitung gesprochen. Frau Hsin-Ju Wu, die Leiterin eines christlichen Verlags, der meine Bücher übersetzt, hatte mich eingeladen. Sie hatte Vorträge vor Christen der verschiedenen Konfessionen organisiert, aber auch für ein großes Beerdigungsinstitut, das vor allem Buddhisten als Kunden hat. Zu diesen Vorträgen kamen Christen und Buddhisten. Bei dieser Gelegenheit begegnete ich auch verschiedenen Weisen der Trauerkultur: nicht nur bei den Christen, sondern auch bei den Menschen, die einen spirituellen buddhistischen Weg gehen, und bei den Menschen, deren Trauerverhalten vom Volksglauben geprägt ist. Bei den letzteren ist die Trauerkultur oft von Angst bestimmt und von vielen Ritualen geformt, die abgearbeitet werden müssen. In dieser Begegnung mit den verschiedenen Kulturen ist mir neu aufgegangen, wie Trauer gelebt werden kann und soll. Ich bin Fehlformen der Trauerarbeit begegnet, aber auch Weisen, die für die Trauernden hilfreich sind und ihre Trauer zu verwandeln vermögen. Die Erfahrungen in Taiwan und der Austausch mit Frau Hsin-Ju Wu über die Trauerkultur in den verschiedenen Gruppierungen in Taiwan sind in dieses Buch ebenso eingeflossen wie die Erfahrungen, die ich hierzulande gemacht habe.

Ich gebe oft auch Kurse für Firmen und Banken. Da geht es in der Regel um Fragen der Führung und um Themen der Unternehmenskultur. Ich frage bei diesen Kursen immer auch: Welche Rituale hat die Firma, um mit der Trauer ihrer Mitarbeiter umzugehen? Welche Trauerkultur herrscht in der Firma? Diese Firmen haben sich in ihren Leitlinien meist ausdrücklich zum Ziel gesetzt, die Würde ihrer Mitarbeiter zu achten. Aber oft sind sie gerade in Situationen sprachlos, wenn es um das Thema der Trauer geht. Bei manchen Firmen glaubt man, man müsse die trauernden Mitarbeiter durch die Arbeit ablenken von ihrer Trauer. Und die Erfahrung eines solchen persönlichen Verlustes dürfe kein Grund sein, dass die Mitarbeiter sich nicht voll einsetzen. Konsequenz: Die Trauer darf nicht sein. Und vor allem darf sie in der Firma nicht gezeigt werden. Das stört die Fixierung auf die Arbeit und das finanzielle Ergebnis der Firma.

Doch in den letzten zehn Jahren haben viele Firmen erkannt, dass auch eine gute Trauerkultur zu einer menschlichen Unternehmenskultur gehört. Wenn die Firma die Würde ihrer Mitarbeiter achtet, muss sie auch ihre Trauer achten und mit ihr gut umgehen. Und so habe ich bei vielen Führungskräften beides bemerkt: auf der einen Seite eine Hilflosigkeit, mit Trauer und Trauernden umzugehen, aber auf der anderen Seite auch eine große Offenheit, für sich und ihre Firma neue Formen der Trauerkultur zu entwickeln.

Auch für gläubige Christen gilt: Der Glaube an die Auferstehung und an den Sieg Jesu über den Tod hebt die Trauer nicht auf, sondern er hilft uns, die Trauer zu bewältigen. Die Trauer ist zuerst einmal der Schmerz über den Abschied. Jeder Abschied tut weh. Wir haben das Gefühl, von dem, der stirbt, verlassen zu werden. Das Verlassenwerden erinnert uns an all die Erlebnisse unserer Lebensgeschichte, in denen wir verlassen wurden, in denen uns die Eltern allein gelassen haben oder ein Freund uns verlassen hat, und an all die Verlassenheitsgefühle, die manchmal grundlos über uns gekommen sind. Diesen Abschiedsschmerz dürfen wir nicht verdrängen oder überspringen. Sonst wird er uns irgendwann einholen. Dann wird ein Trauerkloß unsern Hals verschließen. Der Tod eines lieben Menschen ist ein Abschiednehmen. Der Glaube an die Auferstehung sagt uns, dass wir den Verstorbenen im Himmel wiedersehen werden. Aber jetzt ist er gegangen. Jetzt können wir nicht mehr mit ihm von Angesicht zu Angesicht sprechen. Jetzt können wir ihn nicht mehr umarmen und ihn ans Herz drücken. Das ist schmerzlich und tut weh. Und diesem Schmerz müssen wir uns stellen. Die Trauer ist der Weg, den Schmerz des Abschieds zu verarbeiten. Aber zugleich zeigt sich auch: Es geht in der Trauer nicht nur um den Schmerz des Abschieds, sondern um wichtige Themen, die die Beziehung zum Verstorbenen betreffen. Und es geht um die Frage nach meiner eigenen Identität und nach dem Sinn meines Lebens. So möchte ich zunächst einen Blick werfen auf das Wesen der Trauer und die verschiedenen Trauerphasen, um dann vom Trost und von der Begleitung Trauernder zu sprechen und zu fragen, wie wir der Trauer eine Heimat in unserem Herzen und in unserem Leben geben können.

1. Trauern und Betrauern

Das deutsche Wort »trauern« ist mit dem gotischen Wort »driusan« = fallen verwandt. Es heißt also ursprünglich: sinken, matt werden, kraftlos werden. Wer trauert, der lässt den Kopf hängen und er schlägt die Augen nieder. Trauer ist ein Gefühl, das uns einfach überkommt. Betrauern dagegen ist eine aktive Tätigkeit. Die Trauer überfällt mich, wenn ich einen lieben Menschen durch den Tod verliere. Ich erlebe auch Trauer, wenn der Ehepartner sich von mir trennt. Und ich gerate in Trauer, wenn in meinem beruflichen Leben etwas schiefgelaufen ist oder gar wenn ich meine Arbeit verliere.

Die Psychologie sagt uns, dass wir in Situationen eines schmerzlichen Verlustes die Trauer zulassen sollen. Sie ist eine wichtige Reaktion der Seele auf ein Ereignis, das uns traurig macht. Der griechische Trauertherapeut Jorgos Canacakis drückt es so aus: Die Weisheit der Natur hat uns »mit geeigneten Reaktionen ausgestattet, so dass wir ein Leben lang fähig sein könnten, Verluste, Trennungen und Abschiede aller Art, unter allen möglichen Umständen und Bedingungen mit der entsprechenden Trauerantwort gesund zu überstehen. Trauer ist also eine spontane, natürliche, normale und selbstverständliche Rekation unseres Organismus, unserer ganzen Person auf Verlust, Trennung und Abschied.« (Canacakis 23f.) Aber wir sollen nicht in der Trauer stecken bleiben. Wir sollen uns nicht nur passiv der Trauer überlassen. Canacakis unterscheidet daher eine lebensfördernde und eine lebenshemmende Trauer. Lebensfördernd ist eine Trauer, die die Gefühle der Trauer ausdrückt. Der Ausdruck der Trauer hilft uns, den Verlust mit der Zeit zu akzeptieren und uns im Leben neu zu orientieren. Die lebenshemmende Trauer dagegen ist die nicht ausgedrückte und verdrängte Trauer, die aber tief in unserer Seele bleibt und sich gegen uns selber richtet. Sie wird allmählich in uns selber zu Gift. (Vgl. Ebd. 26f.)

Trauer will ausgedrückt werden. Und Trauer bedeutet aktive Arbeit. Die Psychologie spricht von Trauerarbeit. Etwas betrauern heißt: durch den Schmerz des Abschieds hindurchgehen, ohne darin aufzugehen, und durch den Schmerz in den Grund der Seele gelangen, in dem ich zu meinem wahren Selbst komme, in einen inneren Raum der Stille und des Friedens. Zu betrauern gilt es aber nicht nur den Verlust eines lieben Menschen. Auch zerbrochene Lebensträume, verpasste Chancen und die eigene Durchschnittlichkeit müssen betrauert werden. Die Trauer um den Tod eines lieben Menschen ist immer auch ein Betrauern der eigenen Lebenssituation. Denn die hat sich durch den Tod eines nahen Menschen verändert. Da ist ein Lebenstraum geplatzt, mit diesem Menschen alt zu werden. Mir ist etwas Wichtiges entrissen worden, wenn mein Vater oder meine Mutter gestorben ist. Ich muss meine eigene Verlassenheit betrauern.

Betrauern heißt: durch den Schmerz hindurchgehen und in den Grund der Seele gelangen. Am Anfang der Trauer verlieren wir uns oft im Jammern und Klagen. Das darf sein. Aber wenn wir nur jammern, gehen wir nicht in den Schmerz hinein. Wir bleiben an der Oberfläche des Schmerzes stehen. Wir schwimmen im eigenen Selbstmitleid und drehen immer die gleichen Runden, ohne jemals weiterzukommen. Oder aber wir klagen andere an. Auch das Anklagen anderer ist eine Weigerung, in den eigenen Schmerz einzutauchen. Den Schmerz auf diese Weise zu verdrängen, gelingt nicht. Es ist ein Ausweichen. Und so kann die Trauer nicht fruchtbar werden.

Trauer als menschliche Urerfahrung ist zu allen Zeiten beobachtet und bedacht worden. Daher mag es auch für unser Verständnis dieser Emotion heute sinnvoll sein, zu sehen, wie das in der Tradition, auch der spirituellen Tradition gesehen worden ist. Ein Gefühl, das mit der Trauer verbunden ist, ist die Traurigkeit. Wir fühlen uns traurig. Die Traurigkeit überfällt uns. Sie verdunkelt das Herz. Wir sind aber nicht nur beim Verlust eines lieben Menschen traurig. Die Traurigkeit überkommt uns oft mitten im Alltag und nicht nur in Situationen, in denen wir einen lieben Menschen verloren haben. Die Wüstenväter des 4. Jahrhunderts erkennen in der Traurigkeit eine Reaktion der Seele auf infantile Vorstellungen vom Leben. Die Traurigkeit hat einen Sinn. Sie ist eine Einladung, sich von Illusionen zu verabschieden. Evagrius Ponticus hat, wenn er davon spricht, die Vorstellung des schmollenden Kindes, das nicht bekommt, was es möchte. Die Mönche unterscheiden die beiden griechischen Worte »lype« = Traurigkeit, Selbstmitleid und »penthos« = Trauer, Trauerarbeit.

Infantile Wünsche an das Leben gilt es zu überwinden. Eine solche »unreife« Traurigkeit sahen die Mönche als Laster an, als Fehlhaltung. Allerdings gingen sie davon aus, dass jeder in uns mit der Traurigkeit zu kämpfen hat. Es geht auch gar nicht darum, sie zu unterdrücken, sondern sie zu verwandeln. Und sie kann verwandelt werden, wenn ich mir meiner infantilen Vorstellungen vom Leben bewusst werde. Wenn der Grund meiner Traurigkeit ist, dass ich immer der beste sein möchte, dass immer alles gelingen sollte, dass alles immer so schön sein sollte wie in der Familie meiner Kindheit, dann möchte ich letztlich im kindlichen Zustand bleiben: Alles soll so bleiben, wie es war. Es geht darum, sich dieser Wünsche bewusst zu werden. Denn nur wenn ich mir meiner Bedürfnisse bewusst werde, kann ich sie auch loslassen, ohne in eine andere Gefahr zu geraten, dass ich mich wegen dieser Gefühle verurteile.

»Penthos« ist für die Mönche die Trauer über meine Sünde, über mein Zurückbleiben hinter dem, was ich als Mensch sein könnte. Evagrius Ponticus unterscheidet die Traurigkeit von der Trauer so: Die Traurigkeit ist weinerlich. Sie jammert ständig. Die Trauer dagegen bricht in Tränen aus. Und Tränen können die Seele reinigen und befruchten. Sie bringen etwas in Bewegung in unserer Seele. Die Trauer ist also eine wesentliche Haltung des spirituellen Menschen. Sie bringt ihn durch den Schmerz über das Verfehlen seines Lebens in Berührung mit seiner Seele. Sie aktiviert in uns den Willen, umzukehren und unser Leben zu ändern. Zugleich aber zeigt uns die Trauer, dass wir immer zurückbleiben hinter dem Ideal unseres Lebens.

Paulus unterscheidet im 2. Korintherbrief eine Traurigkeit, die gottgewollt ist, von einer weltlichen Traurigkeit. Der Unterschied besteht darin, dass die gottgewollte Traurigkeit zur Umkehr und zum Umdenken (metanoia) führt, während die Traurigkeit, die der Welt entspringt, den Tod herbeiführt. (Vgl. 2. Kor 7,9ff.) Die weltliche Traurigkeit trauert um den Verlust der Dinge, die der Welt wichtig sind, wie Besitz, Ehre, Anerkennung, Vergnügen. Die Traurigkeit gemäß Gott dagegen führt nicht nur zur Umkehr. Sie hat als Folge auch die Haltungen wie Eifer, neu anzufangen, Entschuldigung, wenn etwas falsch war, Aggression gegen das, was man verkehrt gemacht hat, Gottesfurcht und die Sehnsucht nach wahrem Leben. Was Paulus von der Traurigkeit sagt, könnte man auch auf die Trauer anwenden. Es gibt eine Trauer, die zur inneren Erneuerung führt, und eine Trauer, die uns erstarren lässt, weil sie den Verlust nicht verkraftet.

Die Psychologie unterscheidet Traurigkeit von der Trauer, indem sie vom passiven Erleben der Trauer (= Traurigkeit) und von der Trauerarbeit (= Trauer und Betrauern) spricht. Die Trauerarbeit ist das aktive Gestalten der Trauer. Die Trauerarbeit bedeutet, Abschied zu nehmen von dem, was bisher mein Lebensinhalt war, nach neuen Möglichkeiten in meiner Seele Ausschau zu halten.

In der Trauerzeit ist es wichtig, das Gefühl der Traurigkeit zuzulassen. Die Traurigkeit braucht Zeit. Manchmal wandelt sie sich von allein. Oft aber ist es auch die Trauerarbeit, die die Traurigkeit verwandelt. Das Betrauern versucht, aktiv auf die Traurigkeit zu reagieren, ohne das traurige Gefühl zu verdrängen. Heute gibt es Psychiater, die die Meinung vertreten, eine Trauer, die länger als zwei Wochen dauere, sei krankhaft. Daher verschreiben sie den Trauernden Psychopharmaka. Doch das ist ein Verdrängen der Trauer und eine Verneinung wichtiger Gefühle, ohne die man den Verlust eines Menschen nicht verarbeiten kann. Psychopharmaka decken die Trauer zu. Doch dann kommt der Trauernde nie in den Grund seiner Seele. Er funktioniert nur nach außen. Aber er versäumt den inneren Prozess, den die Trauer in ihm hervorruft.

Früher hat man eine feste Zeit der Trauer eingehalten. Man trug nach dem Tod eines lieben Menschen ein Jahr lang schwarze Kleider. Das wird heute nur noch selten so eingehalten. Aber hinter diesem Brauch stand eine wichtige Erlaubnis: Ich kann meiner Seele Zeit geben, ich darf ein Jahr lang trauern. Zugleich hoffe ich, dass die Trauer sich in diesem einen Jahr wandelt. Daher legte man das Trauergewand nach dieser Zeit wieder ab und zog bewusst farbenfrohere Kleider an. Heute müssen Trauernde sofort wieder funktionieren. Sie scheuen sich, ihre Trauer zu zeigen. Trauerkleidung wird oft nur am Tag der Beerdigung getragen. Danach ordnet man sich äußerlich wieder in die Normalität ein.

Auch die liturgische Tradition weiß um die Rhythmen der Trauer und darum, dass Trauernde Zeit brauchen. Sie kennt das Sechs-Wochen-Amt. Sechs Wochen nach dem Tod feiert man für den Verstorbenen eine hl. Messe. Diese Messe bildet den Abschluss der ersten Phase des Trauerns. Natürlich richtet sich die Seele nicht automatisch nach solchen Ritualen. Doch die Rituale bringen Struktur in unsere Emotionen. Nach sechs Wochen wandelt sich die Trauer. Man bleibt nicht mehr in den Gefühlen der Traurigkeit stecken. Das Sechs-Wochen-Amt soll verdeutlichen, dass die Trauernden jetzt in der Eucharistiefeier die Gemeinschaft mit dem Verstorbenen feiern. Dieser Gottesdienst ist nicht wie das Requiem bei der Beerdigung auf die Vergangenheit gerichtet, sondern eröffnet eine Zukunft. Er verweist uns darauf: Der Verstorbene ist bei Gott. Wir erleben in der Eucharistiefeier die Gemeinschaft mit ihm und wir bitten ihn, dass er uns in unserer Trauer beistehen möge, damit sie sich wandelt. Die Liturgie kennt auch das Jahresseelenamt als Totengedenken, einen Gedächtnisgottesdienst nach einem Jahr, der der zeitlichen Vorstellung entspricht, die wir auch beim traditionellen Brauch der Trauerkleidung gesehen haben. Auch das ist ein Ausdruck davon, dass Trauer sich wandelt, dass an ihrer Stelle die Erinnerung und das Gedächtnis an die fortdauernde Liebe steht. An Allerseelen oder am Totensonntag wird dann aller Verstorbenen gedacht.

Wenn heute psychologisch über Trauer gesprochen wird, denkt man meist nicht mehr so eng in Zeitkategorien, sondern bringt Trauer mit der Liebe in Verbindung: Trauer ist Liebe. Und die Liebe hört niemals auf. Aber auch sie wandelt sich mit der Zeit. Und so wandelt sich auch die Trauer. Es gibt Phasen, in denen man die Trauer kaum spürt. Man hat sich dem Leben wieder zugewandt. Aber dann bricht die Trauer auf einmal wieder auf, sobald man sich an bestimmte Situationen erinnert oder sobald man durch äußere Erlebnisse wieder an den Verstorbenen erinnert wird. Trotz dieser anderen Sicht von Trauer ist es freilich hilfreich, die Erfahrung näher zu betrachten, dass Trauer auch in bestimmten beobachtbaren Phasen verläuft, die sich voneinander unterscheiden.

2. Die verschiedenen Phasen der Trauer

Es gibt keine Norm für die Trauer. Jeder trauert anders. Trotz der je persönlichen Trauer, die ihren eigenen Rhythmus hat, haben Psychologen versucht, die Trauer in verschiedene Phasen einzuteilen. Der englische Kinderpsychologe J. Bowlby unterscheidet die »drei Stadien des Protestes, der Desorganisation und der Reorganisation«. (Spiegel 57) Andere sprechen von den drei Phasen, die gekennzeichnet sind von »Schock, Leiden und Wiederherstellung«. Der amerikanische Pastoraltheologe W. Oates geht von sechs Phasen aus: »Schock, Betäubung, Kampf zwischen Phantasie und Realität, Durchbruch der Trauer, selektive Rückerinnerung, verbunden mit bohrendem Schmerz, und schließlich Annahme des Verlustes und Bestätigung des Lebenswillens«. (Spiegel 58) Der evangelische Pastoraltheologe Yorick Spiegel möchte nur vier Phasen gelten lassen: 1. Die Phase des Schocks, 2. die Phase der Kontrolle, 3. die Phase der Regression und 4. die Phase der Adaptation, der neuen »Anpassung an das gesellschaftlich Geforderte«. (Ebd. 58) Natürlich sind alle Versuche, die Trauer in Phasen einzuteilen, zu relativieren. Denn die Trauer richtet sich nicht immer nach den Phasen, die irgendjemand aufgestellt hat. Der Versuch, die Trauer in Phasen einzuteilen, möchte nur etwas Ordnung in die oft chaotische Trauer hineinbringen. Sie möchte den Trauernden Orientierung geben auf ihrem Weg. Aber es ist nicht so, dass man diese Phasen einfach und automatisch nacheinander durchläuft. Oft genug hat man eine Phase schon durchschritten – und fällt durch ein bestimmtes Ereignis wieder in eine frühere Phase zurück.

Ich möchte mich im Folgenden an die vier Phasen halten, die die Schweizer Psychologin Verena Kast in ihrem Buch »Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses« unterschieden hat: 1. Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens. 2. Die Phase der aufbrechenden Emotionen. 3. Die Phase des Suchens und Sich-Trennens. 4. Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs. Allerdings möchte ich die zwei letzten Phasen anders benennen. Ich möchte weniger die psychologische als die spirituelle Ebene betrachten. So nenne ich die letzten beiden Phasen: 3. Die Botschaft des Verstorbenen verstehen. 4. Eine neue Beziehung zum Verstorbenen und zu mir aufbauen. Dabei möchte ich auch biblische Texte – vor allem die Auferstehungsgeschichten – heranziehen, um diese Phasen der Trauer zu verdeutlichen.

Die Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens

Die erste Phase als Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens hat der Evangelist Lukas in seiner wunderbaren Erzählung von den Emmausjüngern beschrieben. Zwei Jünger können den Schmerz nicht aushalten, den ihnen der gewaltsame Tod Jesu am Kreuz bereitet hat. Der Tod Jesu hat alle ihre Hoffnungen zerstört. Sobald der Sabbat vorbei